zu müssen.
Es gibt aber auch kleine und große Schlösser. Die neuen waren größer als die alten. Dass es Binggeli gelang, mit dem ihm zur Verfügung stehenden Werkzeug die Löcher in der Tür so zu vergrößern, dass schließlich trotz der überdimensionierten Auskerbungen die Schlösser unverrückbar festhielten, zeugt von der praktischen Veranlagung dieses auf seine Weise genialen Menschen. Und als der Frühling kam, waren sogar die ausgesägten Kerben an Türen und Türrahmen mit einem neuen Farbanstrich versehen, der im Farbton nicht stärker vom ursprünglichen Anstrich abwich als vorher das rohe Holz.
Obwohl ich für die beiden Schlösser einen kleinen Freundschaftspreis bezahlt hatte, vermutete ich – allerdings erst später –, dass in der Mietwohnung Binggelis zwei Türen von da an nur noch nach der bei uns entwickelten und erprobten Methode mit Nägeln und Schnüren zugehalten wurden.
Der Oktober jenes Jahres, es war 1956, war ein denkwürdiger Monat. In Budapest brach der Aufstand los. Auch bei uns im Verlag war die ungarische Revolution das Tagesgespräch. Die Straße zwischen Budapest und Wien war überflutet von Flüchtlingen. Wir bewunderten die Menschen, die auf der Flucht solche Strecken zurücklegten. Nur unser Napoleon schien nicht beeindruckt zu sein.
„Die Straße kenne ich gut. Ich war vierundzwanzig Jahre als, als ich mit zwei Kollegen in Budapest war. Eine herrliche Stadt. Wir waren auf Wanderschaft. Alle drei junge Kerle, tatendurstig. Ha, wie sind wir marschiert! Von Budapest nach Wien, dann über den Brenner nach Mailand und über die Apenninen an die Riviera und hinunter bis nach Marseille. Die beiden anderen haben in Mailand aufgegeben. Aber August Binggeli gibt nie auf. Allein marschierte ich nach Marseille, Budapest-Marseille, alles zu Fuß. Ja, damals. Waren das noch Zeiten. Potzsternenhagelnocheinmal. Ha, und die Frauen!“ Er schaute Frau Knopf herausfordernd an. „Ja, die Frauen. Dem August Binggeli hat keine widerstanden, weder in Ungarn noch in Wien. Ach, und in Italien erst und in Marseille!“
Wir sperrten Mund und Augen auf.
Einmal war von Paris die Rede.
„Ja, ja, 1927, da war ich auch in Paris. Ich kam gerade dazu, als Lindbergh von seinem Atlantikflug in Paris landete. Und die Frauen in Paris, potzsternenhagelnocheinmal. Wenn Sie einmal nach Paris kommen, Herr Renold…“
Im Spanischen Bürgerkrieg war Binggeli in Kastilien, als Hitler an die Macht kam in München, bei Einmarsch der Deutschen ins Sudetenland hatte er gerade geschäftlich in Eger zu tun gehabt. Beim Ausbruch des Krieges befand er sich auf einem Transport nach Lemberg in Polen
„Jeden Tag fuhr ich der Lastwagenkolonne voraus und besorgte das Quartier für die Nacht. Wir transportierten eine ganze Fabrik vom Elsass nach dem Osten. Aber dann kamen die Russen.“
Ja, der August Binggeli war überall dabei, wo es etwas Abenteuerliches gab. Wir begannen unsere eigenen Erinnerungen anzustrengen, im Lexikon nachzuschlagen, um nach Ereignissen zu suchen, die wir beiläufig ins Gespräch einfließen lassen konnten. Es gab nichts, das Binggeli nicht auch erlebt hatte. Während des Krieges hatte er ein Transportgeschäft im Elsass betrieben. Die heikelsten Aufträge waren ihm übergeben worden, wie der schon erwähnte Transport nach Polen.
Als der Krieg sich dem Ende genähert hatte, war August Binggeli mit den Deutschen aus dem Elsass zurückgekehrt.
Als Schweizer Bürger hatte er natürlich keine Schwierigkeit gehabt, sich nach Konstanz durchzuschlagen, wo er sich über die Grenze in Sicherheit bringen wollte. In dieser Grenzstadt wimmelte es von Menschen, die sich alle in die Schweiz hinüberretten wollten.
Binggeli stand schon in einer endlosen Schlange, als eine Frau auf ihn zustürzte. Vor Jahren hatte er einen Transport für sie erledigt. Sie war Jüdin und war nun offenbar auf einem der letzten Transporte nach irgendeinem Konzentrationslager. Sie war vor ihm auf die Knie gefallen, hatte seine Beine umschlungen und ihn angefleht:
„Herr Binggeli, Herr Binggeli, nehmen Sie dieses Bündel, rasch, und diese Adresse. Deponieren Sie das Bündel im Bahnhof in Kreuzlingen und schicken Sie den Auslösungsschein an die Adresse. Und hier, nehmen Sie das als Belohnung.“ Verstohlen drückte sie mir etwas in die Hand. Es war eine Halskette aus purem Gold. Ich verbarg das Bündel in einem meiner Koffer und brachte es unbemerkt über die Grenze. Es gab kaum einen Grenzübergang, wo man mich nicht kannte. Auch damals hatte ich Glück: „August, du, und zu Fuß“, sagte der Zöllner. „Wenn der Krieg vorbei ist, musst du mir einmal erzählen, was du alles erlebt hast. Jetzt hab ich keine Zeit. Was hast du in deinen Koffern? Etwas Wäsche. Gut, hau ab, alter Kumpel!“ Potzsternenhagelnocheinmal, so ganz wohl war mir doch nicht gewesen. Und als ich auf dem Bahnhof in Kreuzlingen den Koffer öffnete, was meinen Sie, was in dem Bündel war? Lauter Schuck, Gold und Edelsteine. Meiner Lebtag hab ich noch nie einen solchen Reichtum gesehen. Ich wäre ein gemachter Mann gewesen. Ich wusste nicht, ob der Mann, an den ich den Schein schickte, noch lebte. Aber ich tat, wie mir aufgetragen war. Auch die Halskette legte ich in das Bündel. Wie hätte sich ein August Binggeli am Erbe einer armen, für die Gaskammer bestimmten Jüdin bereichern können. August, dachte ich, du tust es um Gottes Lohn. – Ja, so bin ich. Ich hätte ja das ganze Bündel behalten können. Weiß Gott, brauchen hätte ich es ja können in jener Zeit. Aber so etwas tut der August nicht. Nein, nicht einmal die Kette, die sie mir ja geschenkt hatte. Wer weiß, niemand hätte mir geglaubt, dass ich sie geschenkt bekommen hatte. Wie hätte ich es beweisen können? Nein, ehrlich währt am längsten. Das war immer mein Prinzip.
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