wußte von Howett, daß sie jemand suchte. Wer diese Persönlichkeit war und unter welchen Umständen sie verschwand, war ihm noch ebenso unklar wie früher. Er hatte zwei Monate fieberhafter Tätigkeit hinter sich, wahrend der er diese schöne junge Dame beobachtet hatte. Ihr rastloser Forschungstrieb hatte sie manchen Weg geführt, dessen Gefahren sie nicht ahnte. Wer war diese Mrs. Held und weshalb suchte Valerie sie?
Er kannte Mr. Howett genau und war ihm sowohl diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans begegnet. Er war Witwer und aus seiner Ehe war nur ein Kind hervorgegangen. Hätte Valerie eine Schwester gehabt, dann wären diese Nachforschungen etwas Selbstverständliches gewesen. Aber wer konnte denn Valerie Howett so wichtig sein, daß sie das Geld mit offenen Händen ausgab und diese gefährlichen Streifzüge wagte, die selbst ihm einen Schauder einjagten, wenn er daran dachte. Es konnte keine gewöhnliche Freundin sein, und es wäre alles verständlicher gewesen, wenn es sich um einen Mann gehandelt hätte.
Er überlegte sich dieses Problem immer wieder, aber er kam keinen Schritt weiter. Unerwartet sah er plötzlich eine alte Freundin, und sofort waren alle Gedanken an Valerie verschwunden. Er ging mit schnellen Schritten quer über den Nasen und trat auf eine elegant gekleidete Dame zu, die langsam spazieren ging und einen kleinen Hund an der Leine führte. In ihrer äußeren Erscheinung glich sie vollkommen den vornehmen Damen, die in einer Straße in der Nähe des Parks wohnten.
»Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt,« sagte Jim liebenswürdig. »Wie geht es Ihnen, Fay?«
Sie schaute ihn verständnislos an und hob ihre sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen.
»Ich fürchte, daß ich nicht den Vorzug Ihrer Bekanntschaft habe,« sagte sie kühl und sah sich um, als ob sie einen Polizisten suchte.
Jim Featherstone amüsierte sich so sehr über sie, daß er zuerst nicht sprechen konnte, weil er sonst laut hätte lachen müssen.
»Fay, Fay,« sagte er vorwurfsvoll. »Steigen Sie doch von Ihrem hohen Postament herunter und seien Sie menschlich. Wie geht es denn all den guten Leuten Ihrer vornehmen Bekanntschaft? Jerry ist, soviel ich weiß, noch im Gefängnis, und die übrigen verbergen sich in Paris, nicht wahr?«
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Mein Gott, Featherstone! Es ist wirklich schlimm, daß eine Dame nicht einmal mit ihrem Hündchen ein wenig spazieren gehen kann, ohne von einem Oberspitzel angepöbelt zu werden!«
»Ihre vulgäre Ausdrucksweise ist wirklich schlimm,« erwiderte Featherstone in guter Laune. »Ich hörte jüngst eine Neuigkeit von Ihnen, die mich sehr in Erstaunen setzte.«
Sie schaute ihn an. Argwohn und Mißfallen sprachen aus ihrem Blick.
»Was haben Sie denn gehört?«
»Man erzählte mir, Sie hatten sich verheiratet und sich kirchlich und zivil trauen lassen. Wer ist denn der glückliche Mann?«
»Sie träumen,« sagte sie verächtlich. »Die Beamten von Scotland Yard glauben nur zu gern alles Böse von anderen Leuten. Nein, ich bin nicht verheiratet, Featherstone, obgleich ich nicht weiß, was passieren würde, wenn Sie mich so sehr in die Enge treiben. Ich habe immer eine Schwäche für Ihren Typ gehabt. Ich liebe diese Leute besonders, sie sind nicht so schlau wie die häßlichen.«
Sie schaute ihn unter dunklen Augenlidern verheißungsvoll an.
»Was sagen Sie dazu, Featherstone?« meinte sie halb spöttisch.
»Ich möchte Sie nicht gern enttäuschen, Fay, aber ich müßte doch erst meine Familie um Rat fragen. Aber im Ernst, wer ist denn der glückliche Mann?«
»Es gibt wirklich niemand auf der Welt, der gut genug für mich ist. Ich bin schon seit langem zu diesem Schluß gekommen.«
Sie gingen langsam zusammen weiter. Für alle Leute war er ein eleganter Herr und sie eine Dame aus den besten Ständen, die sich angenehm miteinander unterhielten.
»Wie geht es denn diesem Mischling, dem Sekretär des alten Bellamy?« fragte er obenhin. Sie wurde rot.
»Woher haben Sie denn den Ausdruck ›Mischling‹?« fragte sie scharf und aggressiv. »Wenn Sie damit Mr. Savini meinen, der zufällig mein Freund ist, so möchte ich Ihnen doch sagen, daß er aus einer sehr guten ›alten‹, portugiesischen Familie stammt. Vergessen Sie das nicht, Featherstone! Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich dazu komme, mich mit einem Polizeibeamten in der Öffentlichkeit zu zeigen.«
»Tut mir leid,« murmelte Featherstone. »Ich hätte mich natürlich auch daran erinnern sollen, daß man einen Eurasier niemals einen Mischling nennt. Nebenbei bemerkt, fängt er an, sich jetzt ganz ehrenhaft zu benehmen, wie ich gehört habe?« Die gereizte junge Dame wandte sich jetzt plötzlich zu ihm. Ihre Augen blitzten wütend auf.
»Mr. Featherstone,« sagte sie hitzig, »ich habe keine Lust, weiter zuzuhören, wie Sie über meinen Freund sprechen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt Ihrer Wege gingen.«
Jim Featherstone sah sie nachdenklich an.
»Man sollte doch wirklich glauben, daß Sie mit dem netten Julius verheiratet wären. Wenn das tatsächlich der Fall ist, so darf ich wohl meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen.«
Aber sie hatte sich schon umgedreht, bevor er den Satz beendet hatte. Sie ging zornig fort und schleifte das widerstrebende Pekinghündchen hinter sich her.
Zum zweiten Mal in den letzten zehn Minuten wandte sich Jim Featherstone um und sah gedankenvoll hinter einer Frau her.
Später ging er ins Carlton-Hotel, um die Bekanntschaft mit dem Freund Fay Claytons zu erneuern, aber Julius hatte das Hotel bereits mit seinem Herrn verlassen und sich nach Garre Castle begeben.
9
Man konnte dem alten Turm und den zinnbekrönten Mauern von Garre Castle von außen nicht ansehen, daß es innen so luxuriös und prachtvoll eingerichtet war. Äußerlich sah es düster und abschreckend aus und nie fiel ein Lichtschein durch die Schießscharten der Mauern und Türme. Die Doppelfenster von Mr. Bellamys Bibliothek führten auf die grüne Rasenfläche des inneren Hofes, und über diesen Fenstern erhob sich die Wand der Burgkapelle. Stark, unzerstörbar ragte sie schier endlos zum Himmel empor.
Viele Leute wunderten sich, warum Bellamy, der niemals ein Buch las und auf den geschichtliche Tradition keinen Eindruck machte, für eine so hohe Summe diese Burg gekauft hatte, die einst das Heim mächtiger Ritter gewesen war. Hätte man ihn aber genauer gekannt, so wäre es verständlich gewesen. Denn es war die Stärke der Mauern, die diesem alten Bauunternehmer Bewunderung abnötigte.
Es lebte etwas in diesen starken, trotzigen Steinmauern, das mit der grausamen Wildheit seiner Natur übereinstimmte. Die düsteren Kerkerzellen mit ihren fußdicken Türen, die abgenützten Kettenringe, die an Steinpfeilern befestigt und von den Schultern gefolterter Menschen glattgerieben waren, die ganze Macht und Majestät von Garre Castle sprachen zu diesem primitiven Menschen und weckten in seiner Seele atavistische, teuflische Vorstellungen. Er weidete sich daran, wenn er sich diese längst vergessenen Folterqualen vorstellte. Schon vor zwanzig Jahren hatte die Burg bei seinem ersten Besuch in England einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Später spielte Garre Castle in seinen Plänen eine Rolle und schließlich brauchte er den Platz notwendig. Er kaufte die Burg für eine ungeheure Summe, aber er bereute diesen Kauf niemals.
Er liebte die Burg über alles. Hier war er weniger starrsinnig und konnte bei Gelegenheit sogar menschliche Seiten zeigen. Niemals blieb er eine Nacht außerhalb und selbst wenn er in der Stadt war, so schlief er doch nicht dort. Nur die Dienstboten des Hotels und Julius wußten darum. Wie wichtig das Geschäft auch sein mochte, das ihn nach London gebracht hatte, er kehrte stets abends zur Burg zurück, selbst wenn er deshalb beim nächsten Morgengrauen wieder zurückfahren mußte. Der Aufenthalt in der Burg war seine einzige Erholung. Er konnte ganze Tage damit zubringen, um die starken Mauern herumzugehen, und stundenlang konnte er einen Baustein betrachten. Wer mochte ihn hierher gesetzt haben? Wie war wohl der Name dieses Gesellen?