einen längeren Artikel darüber in einer belgischen Zeitung gefunden. Dort stand auch, daß Sie die Absicht haben, große Summen zusammenzubringen, um in jedem Lande Europas ein Mutterhaus zu errichten. Was verstehen Sie darunter?«
Mr. Wood lehnte sich in seinen Stuhl zurück und dachte einen Augenblick nach, bevor er antwortete.
»In allen Ländern Europas, besonders in England, wird eine Frage immer brennender – ich möchte sie das Problem der ungewünschten Kinder nennen. Vielleicht ist ungewünscht nicht das richtige Wort. Nehmen wir einmal an, eine Witwe bleibt nach dem Tod ihres Mannes ohne Mittel zurück und muß ein oder zwei Kinder ernähren. Sie kann unmöglich einem Beruf oder einer Beschäftigung nachgehen, es sei denn, daß sich jemand um ihre Kinder kümmert, und das kostet wieder Geld. Dann gibt es andere Kinder, deren Geburt man fürchtet, deren Existenz Schande und Verlegenheit bringt, die versteckt werden müssen und dann in solche verrufenen Kinderheime kommen, deren Inhaberinnen es für ein paar Dollars die Woche übernehmen, nach ihnen zu sehen und sie großzuziehen. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht in dem einen oder anderen Lande die Leiterinnen solcher Heime unter schwerer Anklage vor Gericht gestellt werden, sei es, daß sie die Erziehung dieser Kinder vernachlässigt oder daß sie direkt beschuldigt werden, sie beiseite gebracht zu haben.«
Dann begann er in großen Zügen seinen Plan über die Errichtung von Mutterhäusern zu entwerfen, in denen solche unerwünschten Kinder Aufnahme finden könnten und sorgfältig von besonders zu diesem Beruf vorgebildeten Pflegerinnen betreut werden sollten.
»Allmählich könnte man dann Schülerinnen annehmen, die für ihre Ausbildung in der Kinderpflege ein Lehrgeld zahlen. Meiner Meinung nach könnte man im Lauf der Zeit diese Anstalten so organisieren, daß sie sich selbst unterhalten. Dann würde man der Welt gesunde Knaben und Mädchen schenken, die fähig wären, den Kampf ums Dasein erfolgreich zu bestehen.«
Während des Essens sprach er nur über kleine Kinder. Ihre Pflege war sein Lebensinhalt. Er erzählte des langen und breiten von einem kleinen deutschen Waisenkind, das er in seinem Heim besonders hegte und schilderte es so lebhaft, daß die Gäste an den anderen Tischen sich nach ihm umwandten.
»Seien Sie nicht böse, daß ich Ihnen das sage, Mr. Wood, aber Sie haben doch eine sonderbare Liebhaberei.«
Der andere lachte.
»Das ist schon möglich,« meinte er. »Wer sind diese Leute?« fragte er dann plötzlich.
Zwei Herren und eine junge Dame hatten den Speisesaal betreten. Der erste war hochgewachsen, schlank und hatte weiße Haare. Über seine Gesichtszüge breitete sich eine stille Melancholie. Sein Begleiter war ein elegant gekleideter junger Mann, dessen Alter zwischen neunzehn und dreißig liegen konnte. Er schien von der tadellosen Frisur bis zu den Lackschuhen eine lebende Reklame für seinen Schneider zu sein. Aber am meisten fesselte die Erscheinung der jungen Dame.
»Sie ist von unwirklicher Schönheit, als ob sie aus einem Gemälde gestiegen sei,« sagte Spike.
»Wer ist sie denn?«
»Miß Howett – Valerie Howett. Der ältere Herr ist Mr. Walter Howett, ein Engländer, der viele Jahre in den Vereinigten Staaten in dürftigen Verhältnissen lebte, bis Petroleum auf seiner Farm gefunden wurde. Auch dieser elegante junge Mann ist Engländer – Featherstone. Er treibt sich überall herum – ich habe ihn schon in fast allen Nachtklubs von London getroffen.«
Die kleine Gesellschaft nahm an einem Tisch in ihrer Nähe Platz, und Wood konnte von da aus die junge Dame genauer betrachten.
»Sie ist in der Tat außerordentlich schön,« sagte er mit leiser Stimme. Aber Spike war vom Tisch aufgestanden, zu den anderen hinübergegangen und begrüßte den älteren Herrn mit einem Händedruck.
Nach kurzer Zeit kam er zurück.
»Mr. Howett hat mich eben gebeten, nach Tisch auf sein Zimmer zu kommen. Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mich nachher einen Augenblick zu entschuldigen?«
»Natürlich.«
Die junge Dame vom Nebentisch schaute während des Essens zweimal mit fragenden, ungewissen Blicken zu ihnen herüber, als ob sie John Wood schon früher gesehen hätte und sich nun überlegte, wo und unter welchen Umständen.
Spike hatte die Unterhaltung auf ein Thema gebracht, das ihn im Augenblick viel mehr interessierte als kleine Kinder.
»Mr. Wood, ich vermute, daß Sie auf Ihren vielen Reisen noch niemals einem wirklichen Geist begegnet sind?«
»Nein,« erwiderte der andere mit einem ruhigen Lächeln. »Ich glaube wirklich nicht.«
»Kennen Sie Bellamy?«
»Abel Bellamy – ja, ich habe von ihm gehört. Er ist doch der Mann aus Chicago, der Garre Castle kaufte?«
Spike nickte.
»Und in Garre Castle treibt der Grüne Bogenschütze sein Wesen. Der alte Bellamy freut sich gerade nicht so sehr über den Spuk, obwohl viele andere recht stolz sein würden über einen solchen Schlossgeist. Er hat versucht, mich vollständig auszuschalten und mir diese schöne Geschichte vorzuenthalten.«
Er erzählte alles, was er von dem Grünen Bogenschützen von Garre wußte, und Mr. Wood hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen.
»Es ist merkwürdig. Ich kenne die Legende von Garre Castle auch und habe auch von Mr. Bellamy gehört.«
»Kennen Sie ihn genauer?« fragte Spike schnell. Aber der andere schüttelte den Kopf.
Gleich darauf brach Mr. Howetts Gesellschaft auf. Mr. Wood winkte dem Kellner und zahlte. Dann erhoben sie sich.
»Ich muß einen Brief schreiben,« sagte Wood. »Haben Sie lange mit Mr. Howett zu tun?«
»In fünf Minuten bin ich wieder hier. Ich weiß nicht, was er von mir will, aber ich glaube nicht, daß es länger dauern wird.«
Howetts Zimmer waren auf demselben Flur wie die Bellamys. Als Spike hinaufkam, wurde er schon von Mr. Howett erwartet. Mr. Featherstone hatte sich scheinbar schon vorher verabschiedet. Nur der Millionär und seine Tochter waren in dem Zimmer.
»Treten Sie bitte näher, Holland.« Howett sprach mit einer müden Stimme und sah niedergedrückt aus. »Valerie, dies ist Mr. Holland, er ist ein Journalist und kann dir vielleicht helfen.«
Die junge Dame nickte ihm freundlich zu.
»In Wirklichkeit möchte nämlich meine Tochter Sie sehen, Holland,« sagte Howett zu Spikes Genugtuung.
»Es handelt sich um folgendes, Mr. Holland,« begann sie. »Ich möchte eine Dame ausfindig machen, die vor zwölf Jahren in London lebte.« Sie zögerte. »Es ist eine Mrs. Held, die in der Little Bethel Street, Camden Town, wohnte. Ich habe bereits Nachforschungen in der Straße selbst gemacht, es ist eine schrecklich armselige Gegend, und niemand kann sich dort an sie erinnern. Ich wüßte überhaupt nicht, daß sie sich jemals dort aufgehalten hat, wenn ich es nicht durch einen Brief erfahren hatte, der in meinen Besitz kam.« Wieder machte sie eine Pause. »Daß der Brief in meinem Besitz ist, ist dem Adressaten unbekannt. Er hat auch allen Grund, alle Nebenumstände möglichst geheimzuhalten. Einige Wochen, nachdem der Brief geschrieben wurde, verschwand Mrs. Held.«
»Haben Sie öffentliche Nachfragen in die Zeitungen eingesetzt?«
»Ja, ich habe alles getan, was nur irgend möglich war. Auch die Polizei unterstützt mich schon seit Jahren.«
Spike schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen dabei nicht viel helfen.«
»Das dachte ich auch,« sagte Mr. Howett. »Aber meine Tochter glaubte, daß Zeitungsleute viel mehr hören als die Polizei –«
Plötzlich wurde sie durch Lärm auf dem Flur unterbrochen. Man hörte eine raue, erregte Stimme, dann einen Fall. Spike schaute auf und eilte sofort in den Korridor hinaus.
Dort bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Der Mann mit dem grauen Bart, den der Sekretär