Klasse von Personen, Inder in Blut und Farbe, aber englisch im Geschmack, in den Meinungen, in den Moralvorstellungen und im Intellekt.“
Der unverheiratete Thomas Babington Macaulay wird 1857 zum 1. Baron von Rothley erhoben.
Es folgte ein neues Erziehungssystem. Indische Aristokraten wie der Bengale Raja Rammohon Roy unterstützten die Politik der systematischen Einführung der blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur in Indien. Wissenschaftler haben dieser Kultur viele Namen gegeben, je nach Opportunität: christlich, westlich, okzidental, europäisch, modern, demokratisch, industriell usw. und usw. All die Bezeichnungen verdecken die wesentlichen Merkmale, die diese Kultur konstruieren: blond-blauäugig-weiß-christlich. Deshalb ziehe ich es vor, diese weltweit dominierende Kultur beim Namen zu nennen, die ja auch meine Kultur geworden ist, auch wenn mir einige Merkmale fehlen. Dank Thomas Babington Macaulay, dem Lord Rothley. All dies werde ich später, viel später, begreifen. Ich war also einer von „Macaulays Klasse" und bin das vielleicht auch heute noch.
Aber damals, 1966, nicht nur in Bombay, habe ich jeden Hinweis, der mich hätte nachdenklich machen müssen, umgedeutet als einen Fingerzeig, als ein Zeichen auf jenen kolossalen Berg von Aufgaben, meiner Mission, Indien zur „Modernität“ zu verhelfen. Vergessen, nein, verdrängt waren viele Ereignisse in den elf ereignisreichen Lebensjahren in Deutschland, die auch anders hätten gedeutet werden können, ja, vielleicht anders hätten gedeutet werden müssen.
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Frühmorgens im Mai 1955 komme ich in Hannover an. Über Colombo, Port Suez, Neapel, mit einem Passagierschiff in der billigsten Kabinenklasse. Aber im Gepäck habe ich ein teures Stück Papier: die Zulassung zum Studium des Bauingenieurwesens an der „Technischen Hochschule“ in Hannover. Ein Wunschtraum indischer Eltern war in Erfüllung gegangen. Ja, das Bauingenieurwesen! Nicht Sozialwissenschaften oder Publizistik.
Ein Taxi fährt mich mit meinen drei Gepäckstücken zum Immatrikula-tionsamt. Zwei Mark zeigt das Taxometer. Ich habe nur einen 50–Mark–Schein. Der Taxifahrer hat kein Kleingeld. Er schenkt mir die Fahrt und wünscht mir alles Gute. Am selben Tag der Zulassung werde ich beurlaubt für ein sechsmonatiges Praktikum, dessen erfolgreicher Abschluß Voraussetzung für den Beginn des eigentlichen Studiums ist. Ich bin der zweite Inder, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der Technischen Hochschule in Hannover zugelassen wird. Das Immatrikulationsamt bringt mich in einem der wenigen Studentenheime unter. Es ist in Sichtweite des Hauptgebäudes der Hochschule. Der erste indische Student in Hannover lebt auch in diesem Heim. Auch er ist ein Kalkuttaner, ein Bengale also. Er ist kurz vor dem Abschluß seines Studiums. Er ist der Mittelpunkt bengalischer Praktikanten. In den ersten Tagen fühle ich mich wie zu Hause – bengalisches Essen kochen, indische Musik hören, sich in der Muttersprache verständigen in einer kalten, fremden Welt. Angenehme erste Tage!
Die Kriegsschäden sind noch unübersehbar. Auch in der technischen Hochschule selbst. 85 % der Stadt Hannover wurden zum Trümmerhaufen gebombt, wird mir erzählt. 1955 wird überall gebaut. Frühmorgens beginnt die Arbeit, nicht wie in Indien am späten Vormittag. Ich bin beeindruckt. Auch das Praktikum wird vom Immatrikulationsamt vermittelt. An diversen Baustellen. Es wird sogar ein Stundenlohn von einer DM bezahlt. Nicht wenig für die damalige Zeit. Der Stundenlohn hat diese Geschichte, die ich erzähle, nicht nur mittelbar beeinflußt. Körperliche Arbeit war mir bis dahin fremd. Ich lerne, zu arbeiten. Auch nach dem erfolgreichen Abschluß des Praktikums habe ich auf dem Bau gearbeitet, um als angelernter Maurer in den Semesterferien Geld zu verdienen. Das Geld habe ich bitter gebraucht.
Mein Vater, ein Eisenbahner im höheren Dienst im noch ungeteilten Britisch–Indien, hatte bei der Teilung im Jahre 1947 dem Appell Mahatma Gandhis folgend als Nichtmuslim für Ost–Pakistan optiert. So wurde er automatisch Pakistani. Ich blieb zurück in Kalkutta, blieb Schüler in der „Hindu School“ an der College Street, der damals besten Schule in Kalkutta, und erhielt automatisch die indische Staatsangehörigkeit. Nicht einmal zwei Minuten von der Schule entfernt, an der Kreuzung College Street und Harrison Road, ist die einzige „Boys Branch“ der CVJM in Kalkutta. Kein Internat, sondern ein Wohnheim für Schüler. Ich hatte Glück und konnte dort leben. Seit dieser Zeit organisiere ich mein Leben selbst. Mit bescheidenen Mitteln. Mein Vater mußte seinen „ausländischen“ Sohn monatlich mit Geld versorgen. Über den Schwarzmarkt. Pakistan gestattete eine geregelte Überweisung nach Indien nicht.
Und Überweisungen nach Deutschland wären allein wegen des Divisenmangels schwierig gewesen. Für das Studium des ausländischen Sohnes kamen sie überhaupt nicht in Frage. Also wird das Geldschicken nach Hannover kompliziert. Meine sieben Jahre ältere Schwester lebt, seit 1947 verheiratet, in Kalkutta. Sie erhält den monatlichen Wechsel, schwarz versteht sich, um ihn an mich weiterzuleiten. Sie zieht es aber vor, das Geld für sich zu behalten. So bleibt mein monatlicher Wechsel in Hannover aus. Ich nehme an, meine Eltern sind überfordert, das Geld zu überweisen.
Die Wechselkurse von Währungen aus der „Dritten Welt“ waren auch damals nicht günstig. Und dann der Wechsel in zwei fremde Währungen! Statt bei meinen Eltern den monatlichen Wechsel anzumahnen, bemühe ich mich lieber, das nötige Geld selbst zu verdienen. Arbeitsmöglichkeiten für „Werkstudenten“ gibt es genug. Im Semester als Gelegenheitstagelöhner – das Studentenwerk hat eine eigene Vermittlungsstelle –, in den Semesterferien als angelernter Maurer. Ich kann mich so, eher schlecht als recht, finanziell über Wasser halten. Zwölf Jahre später werde ich erfahren, daß meine Eltern tatsächlich regelmäßig das Geld an meine Schwester geschickt hatten, vier Jahre lang, wie verabredet.
Ein Mitbewohner im Studentenheim ist „Bursche“ in einer nichtschlagenden Verbindung, dem Schwarzburg–Bund. Er führt mich dort als „Verkehrsgast“ ein. Damit ich auch Anschluß zu den Deutschen bekomme. Verkehrsgast heißt, dabei sein zu dürfen, ohne Rechte. Aber auch ohne die „Lernzeiten“ als „Fuchs“. Ich fühle mich geehrt. Dort erfahre ich eindringlich, daß ich nicht nur „ich“ bin, sondern auch ein „Inder“, nein, zu allererst ein „Inder“ bin. Bei jeder Begegnung muß ich erzählen, erzählen und erzählen. Ich sollte nicht über mich erzählen, sondern über Indien. Meine Kenntnisse über die indische Philosophie und über die indischen Epen Mahabharata und Ramayana sind mir dabei hilfreich. In der ersten Zeit meines Aufenthaltes in diesem Land ist mein „lnder–sein“ immer wichtiger geworden, als mein „lch–sein“.
Zu meinem Bekanntenkreis in Kalkutta zählte auch Irmgard Bhaduri, Kalkuttanerin seit 1928 und deutsch–jüdischer Herkunft, mehr eine waschechte Berlinerin als eine Jüdin. In den zwanziger Jahren studierten viele Inder in Berlin, die nicht nach Großbritannien wollten. Anadi Bhaduri war einer davon. Irmgard und Anadi heirateten noch in Berlin und landeten in Kalkutta. So wurde Irmgard Bhaduri eine Kalkuttanerin, und ich wurde nicht nur mit dem Klang der deutschen Sprache vertraut. Hätte ich geahnt, welcher Druck zum Erzählen auf mich zukommen würde, hätte ich die deutsche Sprache doch vor meiner Abreise etwas systematischer erlernt. Ich hätte Irmgard Bhaduri mehr in Anspruch nehmen können.
Auch an den Baustellen muß ich viel erzählen. In den Pausen natürlich. Ich nehme immer das hilfreiche kleine Wörterbuch mit: Collins German Gem Dictionary. Ich habe das Wörterbuch heute noch, die erste Ausgabe von 1953, die ich vor meiner Abreise 1955 in Kalkutta kaufte. Während der Arbeit müssen die anderen erzählen, weil ich vieles zu Beginn nicht verstehe und ständig nachfragen muß. Mir wird klar, daß ich jede verfügbare Minute brauche, deutsch zu lernen. Also verzichte ich auf die häufigen bengalischen Essen im Studentenheim und die heimatlichen Klänge. Schon auf meiner ersten Baustelle sagt mir der Polier, ein möbliertes Zimmer mit Frühstück in einem Arbeiterhaushalt würde mir während der Praktikantenzeit hilfreicher sein, als das Leben in einem Studentenheim. Und wesentlich preiswerter. So ist es auch gewesen.
Seit meinem achten Lebensjahr habe ich „Bridge“ gespielt. Schon in den ersten Tagen in Hannover erkundige ich mich nach einem Bridge–Klub. Im Verkehrsverein der Stadt werde ich schließlich fündig. Ich werde im Bridge–Klub freundlich aufgenommen. Die Bridge–Spieler sind eine besondere Sorte von Menschen. Sie sind liberaler, offener, nicht so verbissen. Vom Bridge–Spiel selbst abgesehen. Beim Spiel sind sie mehr als verbissen. In diesem Klub in Hannover sind neben vielen reichbehangenen betagten Damen auch einige jüdische Rückkehrer. Einer von ihnen war nur wenige Monate vor