Reinhold Ziegler

Überall zu Hause, nirgendwo daheim


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derselbe zu bleiben, der ich vorher im Leben gewesen war. »Er will tausend Mark für die Bruchbude, der spinnt doch«, protestierte ich schwach.

      »Natürlich spinnt er, komm wieder mit rein, ich glaube, er hat’s als Scherz gemeint.«

      Sie nahm wieder meine Hand, zog mich wieder ins Dunkel, hoch die Treppe und dann nach links in einen Raum, den ich bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Teddy-Kindertapete an den schrägen Wänden, ein altes Eisengestell-Bett, ein ver­wohnter Schrank. Trotzdem war der Raum in weit besserem Zustand als alle anderen Zimmer des Hauses, die ich bisher gesehen hatte. Das Fenster war geputzt, der Boden gefegt, und von dem Modergeruch, der das übrige Haus durchzog, war hier kaum etwas zu riechen.

      »Hier kannst du bleiben, bis wir unten alles fertig haben. Es ist mein Zimmer, weißt du. Aber ich bin nur manchmal hier, wenn ich allein sein muss oder wenn der Opa mal gar nicht klarkommt.«

      »Ich weiß nicht recht«, sagte ich, aber sie ließ meine Bedenken nicht zu.

      »Ich will, dass du bleibst!« wiederholte sie langsam und be­schwörend, und unter ihrem Zauber brach mein Widerstand zusammen.

      Vom Gang her hörte man schlurfende Schritte, dann stieß der Alte die Tür auf. »Aber wenn er das Klo nicht putzt oder im Schlaf schreit, schmeiß ich ihn raus, es ist mein Haus!«

      Das Mädchen legte dem Alten zärtlich die Arme um die Schul­tern. »Opa«, sagte sie, »er gibt dir jeden Monat zweihundert Mark, und wir machen unten alles wieder schön. Bis das fertig ist, schläft er hier oben.«

      Der alte Mann machte sich frei, drehte sich wortlos um und ging zu seinem Ledersessel zurück. »Wenn der nur einmal sein Klo nicht putzt, schmeiß ich ihn sofort raus«, grummelte er. Das Mädchen sah mich wieder an, als hätte ich noch die Macht, etwas zu entscheiden. Da ich nichts sagte, nickte sie mit dem Kopf. »Der Opa ist auch einverstanden!« sagte sie, und tat­sächlich nickte der Alte. Ohne es wirklich zu wollen, nickte auch ich – der Vertrag war geschlossen.

      Ich folgte ihr nach draußen in den Hof, jetzt, wo es entschieden war, fand ich langsam meine Fassung wieder.

      »Du weißt nicht einmal, wer ich bin«, sagte ich.

      Sie lachte. »Du bist der neue Lehrer, du heißt Karl, stimmt’s?«

      »Karl sagt nur meine Mutter, eigentlich heiß ich Karl-Dietrich, so hat mein Vater früher immer gesagt, und in Berlin haben sie mich Kadewe getauft.«

      »Kadewe klingt super, das sag ich auch. Zu mir sagen sie Lui.«

      Sie konnte den Sog ihrer Augen an- und abschalten wie eine Lampe. Jetzt war sie der nette, hübsche Teenager, harmlos und eher kindlich, ein nettes Bauernmädchen in Arbeitshose und T-Shirt, dunkelbraune, halblange Haare und schwarze, liebevolle Augen, ohne Geheimnis oder Gefahr.

      »Du musst deine Sachen holen, Ka-de-we«, sagte sie und genoss hörbar den fremden Namen, »ich bleibe hier und warte auf euch, falls dich der Opa nicht wiedererkennt.« Dann rief sie Hippie zu sich, und erstaunlicherweise gehorchte er ihr und kam sofort. »Komm her, mein Kleiner«, sagte sie und kraulte ihm das Fell, »dein Herrchen und du, ihr wohnt jetzt hier, brauchst heute Nacht nicht mehr im Zelt zu schlafen.«

      »Was haben wir jetzt nur wieder angestellt?« sagte ich zu Hip­pie, als wir durch die heiße Nachmittagssonne zurück zum Sportplatz liefen, aber er antwortete nicht, schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Unter den kritischen Blicken einiger Anwohner baute ich mein Zelt ab und verstaute alles im Goggo. Ich hätte Lust gehabt zu rufen »Sehr verehrte Damen und Herren, hiermit ist die Ruhe im Dorf wiederher­gestellt«, aber ich wollte die armen Leute nicht noch mehr verunsichern, also fuhr ich grußlos davon.

      Lui winkte schon vom Hoftor aus. Sie freute sich kindlich, als sie mein Auto sah, hüpfte drum herum und wollte mich sofort zu einer Probefahrt zwingen. Nur der völlig zugebaute Beifah­rersitz konnte sie überzeugen, dass wir erst auspacken muss­ten.

      »Ich hab dich gestern schon gesehen!« rief sie. »Manta hätte dich fast platt gemacht.«

      Ich hörte diesen seltsamen Namen, aber ich kam nicht dazu, sie zu fragen, wer Manta war.

      Es war ein Hindernislauf, zwischen all dem Schrott mit meinen Taschen ins Haus zu kommen, Gott sei dank passt nicht viel in

      so ein Goggo, und wir mussten nur dreimal laufen. Beim ersten Mal stoppte sie mich kurz vor der Haustür.

      »Ganz, ganz wichtig, Kadewe. Immer wenn du ins Haus gehst, musst du dem Opa vorher rufen, damit er weiß, wer es ist – sonst kriegt er Angst.« Und um gleich zu demonstrieren, wie sie das meinte, drückte sie sich an mir vorbei, schob die Tür auf und rief: »Opa, hier kommt dein neuer Mieter!« Aber antwor­ten, erklärte sie, würde er nie.

      Dann musste ich noch unbedingt mit rüber in den Neubau, den Rest der Familie Reusten kennenlernen. Die Mutter begrüßte mich recht herzlich, sie betrachtete mich lange mit denselben tiefen, dunklen Augen, wie sie auch ihre Tochter hatte. Sie fragte mich nicht aus, sondern sie sah mich an, als ob sie schon alles über mich wüsste.

      Plötzlich tauchte Luis Vater auf, ein Bauer, wie man ihn sich vorstellt, grobe Schuhe, Arbeitshose, kariertes Hemd, son­nenverbranntes Gesicht. Was so gar nicht passen mochte, war die Videokamera, die er vor sich in den Raum schob.

      »Ach Papa«, sagte Lui, »muss das jetzt sein?«

      Aber er ließ sich nicht abhalten, filmte mich, Lui, Hippie, schwenkte raus in den Hof, zoomte auf mein Goggo, hielt dann auf das alte Haus und sprach den gedankenschweren Kom­mentar: »Opa bekommt einen Mieter!« Erst als das alles erledigt war, ließ er die Kamera sinken und schüttelte mir kräftig die Hand. »Willkommen auf unserem Hof, Herr We­ber.«

      Sie boten mir einen Kaffee an, wir saßen in der modernen Küche mit Blick auf den schattigen Hof, redeten und erzähl­ten, als kennten wir uns schon seit langer Zeit. Keiner schien überrascht, es war, als hätten alle schon geraume Zeit auf mein Erscheinen gewartet.

      Später kam Heiner hinzu, Luis großer Bruder, sechs, sieben Jahre mochte er älter sein. Er war ein grober, mir unangenehmer Typ, ein Dorfjunge, den innerhalb der engen Grenzen seiner Welt nichts erschüttern kann. Er parkte seinen GTI rasant im Hof, kam mit schweren Schritten in die Küche gestapft, ließ sich die neue Situation kurz erklären und drückte mir dann etwas zu kräftig die Hand. Schon in diesem Moment spürte ich den Machtkampf, auf den er aus war und den ich nicht bereit war aufzunehmen.

      »Viel zupacken kann er mit den Händchen aber nicht, der wird keine große Hilfe auf dem Hof sein«, sagte er zu seinem Va­ter.

      »Halt dich zurück«, zischte Lui ihn an, und es blitzte gefährlich in ihren Augen. Erstaunlicherweise gab er sofort seine feind­liche Haltung auf.

      »Also dann«, sagte ich.

      Lui kam mit raus.

      »Gehst du eigentlich noch in die Schule?« fragte ich sie. »Oh, nie wieder, ich hab gerade die Realschule hinter mir, mir langt’s.«

      »Und was hast du seitdem gemacht?«

      »Gewartet«, sagte sie lachend, aber sie sagte nicht, worauf.

      Am Abend – ich war erschöpft von all dem Neuen, geplättet von der Hitze – lag ich oben auf dem Bett mit dem schweren Eisengestell, stierte Löcher in die schräge Decke, dachte an alles und nichts, genoss nur die immer kühlere Luft, die eine Abendbrise durch das weit geöffnete Fenster hereinwirbelte. Es klopfte kurz, und Lui schlüpfte zur Tür rein.

      »Was machst du heute Abend?«

      »Ausruhen«, sagte ich, »lesen, nachdenken. Überlegen, wie ich alles organisieren kann, und sehen, was die Zukunft bringt.«

      »Dabei kannst du gar nicht sehen, was die Zukunft bringt, das können nur wenige«, sagte sie mit ihrer rauchigen Stimme, und dann, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten: »Soll ich dir von deinem Haus erzählen?

      Es gehört dem Opa«, fing sie an, »er hat es von der Mama geschenkt bekommen. Eigentlich gehört nämlich der ganze Hof der Mama, weißt du. Und hier