Dieter Lüders

Durch die Bank


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seinem Bruder Isaak den Segen gegen ein Linsengericht eintauschte, so sehr setzte auch Horst Wohlert auf die schnelle Bedürfnisbefriedigung. Wie ein Tiger im Käfig, so kreiste er im Zimmer umher. Er brüllte seine Kneipenbekanntschaft an und auch sich. Er hoffte für Minuten auf seine Tochter, doch sein Glaube war zu schwach. Nicht, dass er die Hoffnung auf Rettung aufgab, nein! Er machte nur einen faulen Kompromiss. Dafür hasste er sich, und dieser Selbsthass wollte wachsen. Er wollte weiterwachsen und größer werden und Früchte tragen. Die Zerstörung suchte nicht nur in Horst eine Wohnung, sie vermehrte sich auch noch. Ungepflegte Hoffnung verfaulte zu einem billigen Kompromiss.

      Claudia hatte geklingelt. Die Haustür war offen gewesen, und sie war in die dritte Etage gegangen.

      „Was wollen Sie?“, hatte eine Frau im Morgenmantel sie gefragt.

      Vier Uhr nachmittags - und ein Morgenmantel? Hatte sie den noch an oder schon wieder? Ihre Haare - ein jämmerlicher Mittelscheitel. Halb hellgrau und halb dunkelgrau. Diese Falten, Tränensäcke! Wenn Chantal das gesehen hätte... Die Tapeten vergilbt und Plastiktüten von Discounters im Flur. Claudia hatte mit vielem gerechnet, aber das durchfuhr ihre Glieder, so dass sie vieles vergaß. Sie hätte an Peter Schlüter, ihren neuen Chef, denken können; Disziplin und schnurgerade geparkte Luxuslimousinen.

      Eine Zigarettenkippe war irgendwann einmal aus dem Aschenbecher gefallen. Sie hatte es nicht bemerkt, und ihr Hausschuh schob sie an die Schwelle. Sie trampelte auf ihrem Abfall herum. Hier wohnte also inzwischen ihr Vater. Claudia hätte jetzt an Manuel denken können. Sie hätte sich vorstellen können, wie sie mit ihm an einem Südseestrand Longdrinks schlürfen würde. Ein einsamer Strand. Nur das Säuseln der Palmwedel im Wind und das Rauschen seichter Wellen. Aber an Realitäten wie diesen zerbrachen schon ganz andere Träume. Zu sehen, wie sie eine Zigarettenkippe mit ihren Plüschlatschen über das PVC-Parkettimitat schob und es noch nicht mal zu bemerken schien. Das schien ihr das Niedrigste und Verwerflichste zu sein, was einem Menschen widerfahren konnte; es nicht mehr mitzubekommen.

      Oder war es Absicht, so zu leben? War diese Frau vom Leben zur Ohnmacht verdammt worden? Warum hatte sie sich aufgegeben? Hatte sie sich nicht aufgegeben, weil sie gar nie lebte? Claudia wusste nicht, ob sie jetzt hassen oder lieben sollte. Verwahrloste Leute verwirrten schon immer auch ihre Mitmenschen. Sie hielten sie von guten Gedanken ab und zerrten wie ein Abschlepphaken an ihnen, um sie in ihren Abgrund mit hinunter zu reißen. Claudia ließ keine Wut aufkommen. Groll war das Gift, das man Anderen verabreichte und an dem man selber erkrankte. Sie hatte sich diese Reaktion schon zurecht gelegt, weil sie auf ihren Vater treffen sollte. Das konnte gewiss sehr ähnlich ablaufen, hören konnte sie ihn schon. Er lallte.

      „Annette!“, versuchte er zu rufen.

      Er torkelte, das war das erste, was Claudia sah. Mit seinen Händen stützte er sich an der Wand ab. Jeden Meter neu. An der Garderobe verfing er sich in einem Mantel.

      „Annette! Schick sie weg!“ Horst stand an der Tür, und Claudia bekam vor Schreck weiche Knie.

      „Was willst du noch von mir?“ Er hielt sich im Türrahmen fest. Annette war nicht mehr zu sehen. „Ihr Banken habt mir mein Leben kaputt gemacht. Mein Haus habt ihr mir genommen, und du arbeitest für die? Geh mir aus den Augen!“

      „Brüll da nicht so rum!“, mischte Annette sich ein.

      „Es geht dich nichts an, wie ich mit meiner Tochter rede.“

      „Deinetwegen verlier ich noch meine Wohnung!“, kam Annette in Rage.

      „Papa! Wie kannst du um diese Uhrzeit schon so betrunken sein? Ich bin gekommen, weil ich dir helfen wollte.“

      „Ich brauche keine Hilfe.“

      „Das ist doch nicht normal, was du da machst. Wo soll das enden?“

      Dann sackte er zusammen. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Claudia wollte ihn stützen, aber er rutschte ihr aus den Händen und glitt zu Boden. Annette stand weit hinter der Tür und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Sie weinte. Es waren viele Tränen - stumme Tränen. Sie musste oft geweint haben. Es waren ihre eigenen Tränen. Sie wurden geweint, um von anderen nicht gesehen zu werden. Verzweiflung und Hilflosigkeit, nur noch ein Häufchen Elend.

      „Ich will dich nicht mehr sehen. Dein Anblick erinnert mich nur noch an euch Scheißbanken.“ Er versuchte sich hinter die Tür zu bewegen. Es sah aus wie dieser russische Kosakentanz, der Kasatschok. Doch dann stieß Horst mit dem Hinterkopf an die Wand. Schmerzen verspürte er nicht. Aber Claudia erschrak zu Tode.

      „Du bist nicht mehr meine Tochter.“ Er versuchte gegen die Tür zu treten.

      „Wenn du mit Mutter auch so umgegangen bist, dann ist es wirklich kein Wunder, dass sie sich was angetan hat.“

      Dann erwischte er mit dem Fuß die Tür. Sie krachte ins Schloss. Claudia trat wütend von außen gegen die Tür. Dann war es still.

      Als Claudia wieder in ihrem Auto saß, versuchte sie ihr Make-up zu retten, verlaufen und verwischt. Alleine dieser Anblick brachte sie zum Weinen. Alles andere von eben konnte man mit Tränen nicht ausdrücken, nicht an einem Tag. So gehörte Familie nicht. Aber wer sollte helfen, wenn einer sich nicht helfen lassen will? Trennen wäre eine Möglichkeit, aber das ging zwischen Blutsverwandten nicht. Man blieb verwandt. Bei einer Ehe oder anderen Verhältnissen, wie im Job oder im Verein, ging das mit einem Neuanfang!

      Ihre Kosmetik war wieder ansehnlich, da klingelte ihr Autotelefon. Eine Handynummer erschien im Display. Claudia nahm den Anruf entgegen.

      „Ja? Petersen.“

      „Schlüter hier.“ Es war Manuels Stimme. „Der Junior.“

      „Ah!“ Claudia war sehr überrascht. Mit vielem hätte sie gerechnet, aber damit nicht. Und es kam noch besser.

      „Frau Petersen. Ich wollte sie fragen, ob sie heute abend etwas Zeit hätten!“

      Claudia hatte Zeit. Nur wusste sie nicht, ob sie das so schnell einfach zugeben sollte. Es fiel ihr aber auch nichts dagegen ein.

      „Warum nicht?“, sagte sie kurz und bündig.

      „Schön. Strandperle, heute abend um sieben?“, fragt er.

      „Gerne.“

      Und schon war der Anruf wieder beendet. Kurz, aber wirkungsvoll. Endlich konnte sie an etwas Schöneres denken als an den Zustand ihres Vaters und daran, was er aus seiner Firma gemacht hatte. Weder das eine noch das andere beschäftigte sie. Es war wieder Manuel in ihrem Kopf. Michelangelo musste so etwas als Vorbild gehabt haben, als er den David aus Stein meißelte, der noch heute in der „Galleria del´ Accademia“ in Florenz steht.

      Claudia unterlag einem Trugschluss. Es war wie bei der Partnersuche. Wer sich selber als sportlich, groß und schlank einschätzte, der war damit nicht zwangsläufig auf der Seite der Mehrheit. Hier war es genau umgekehrt! Claudia hatte Manuel in viel zu guter Erinnerung. Ihre Phantasie überhob Manuel zu einem Übermenschen. Es gab einen Namen für dieses Phänomen. Da, wo der Verstand aufhörte, fing die Leidenschaft an. Viele hätten hier voreilig Liebe diagnostiziert. Die ja mit einer Sehstörung namens „Blindheit“ einhergeht. Bisher gab es aber keinen Liebesbeweis.

      Die Schlaglöcher der Stadt setzten ihrem kleinen Wägelchen zu. Sie wich auch gar nicht aus. Sie schwebte auf Wolke sieben. Vor kurzem hatte sie noch schlaflose Nächte, weil sie nach zig Bewerbungen noch nicht einmal ein Vorstellungsgespräch bekam. Ihre Ersparnisse gingen zu Ende. Die Reparatur der Waschmaschine wollte sie sich schon nicht mehr gönnen, dann ging auch noch das Radio kaputt. Sie war auch froh, dass sie den elektrischen Fensterheber am Auto nicht hatte reparieren lassen. Das Geld hatte sie sich lieber aufgehoben. Am Anfang der nächsten Woche, wenn sie den zweiten Teil ihrer Rundumbehandlung bei Chantal bekäme, würde sie es ausgeben können - und das nicht für den Fensterheber. Der war erst dran, wenn das erste Gehalt auf ihrem Konto war.

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