ungläubig den Kopf. „Die müssen sämtliche Flohmärkte, Antiquitätengeschäfte und Secondhandläden abgegrast haben.“
„Oder sie haben einen Theaterfundus aufgekauft.“
Musik und Gesang der Gruppe klangen bezaubernd und rissen uns in ihren Bann.
„Ist zwar nicht meine Musikrichtung“, sagte Doro, „aber die können wirklich was!“
Wie um das zu bestätigen, brandete jetzt tosender Applaus auf, der sich fast zu einer kleinen Fan-Hysterie steigerte. Das war ein richtig gutes Straßenkonzert, wie wir es bisher in dieser musikalischen Wucht noch nicht gehört hatten – auch wenn es nicht unbedingt unserem „reinen“ Hippie-Musikstil entsprach. Sie sangen alte spanische Volkslieder, und es waren Akkordeon, Banjo, Violine, Saxophon, Geige und zwei afrikanische Trommeln im Einsatz.
So lernten wir sie zufällig kennen, es war eines ihrer ersten Straßenkonzerte vor einer größeren Menschenmenge. Sie nannten sich »The Kelly Kids«. Wir kauften ihnen eine Kassette ab, die wir ein paar Tage später aus unserem Reisegepäck auskramten und zuhause auf zwei leere Kassetten kopierten. Eine davon brachten wir als Geschenk bei der Clausewitz-WG vorbei, die andere schickte ich meinen Eltern nach Frankfurt.
Sechs Jahre später, als die »Kelly Family« ihren ersten Hit landete, suchte ich verzweifelt nach einer dieser Kassetten. Doro und ich hatten uns zu dieser Zeit getrennt und unsere musikalische Erinnerung aus Madrid war verschwunden. Auch das Mitbringsel für die Clausewitzer war 1980 unauffindbar.
Jetzt aber, im September 1974, freuten sich unsere Freunde über „diese musikalische Rumdudelei“, wie Peggy meinte. Meine alte gute Wohngemeinschaft Clausewitzstraße 2 in Charlottenburg bestand inzwischen aus sechs Bewohnern. Rolf, unser orthodoxer Marxist-Leninist, war eine ehrliche Haut und immer noch gut im Secondhand-Geschäft unterwegs, womit er reichlich Knete verdiente, denn er hatte als Erster diese Idee vom Gebrauchtkleiderhandel in Westberlin auf den Markt gebracht – eine beachtliche kapitalistische Leistung, auf die er jetzt mit seinen 25 Jahren schauen konnte.
Rolfs Freundin Peggy, inzwischen 22 Jahre alt, harrte noch immer bei ihm aus. Sie führten nun eine ziemlich altbackene Beziehung, die sie schon vor drei Jahren eingegangen waren. Als hauptamtliche Gewerkschaftlerin war sie gewohnt, dass man in Arbeiter- und Funktionärskreisen dem Trinken zugeneigt war, doch mit Rolfs heimlichen Besäufnissen wollte sie sich nicht abfinden. Als wir die WG besuchten, hoffte ich eine veränderte Situation vorzufinden. Alles aber war unverändert. Rolf bestritt, jemals über den Durst zu trinken, wobei Peggy ärgerlich schnaubte und keinen offenen Streit vor uns austragen wollte. Vielleicht hätte das damals noch Rolfs unausweichliches Schicksal verhindern können.
Mein guter, kluger und bescheidener Freund Richy hatte sein Zimmerchen immer noch gegenüber der Küche, gleich neben dem Gemeinschaftsraum. Regina und Helmut waren neu eingezogen und wohnten in meinem ehemaligen Zimmer. Gegenüber von ihnen hatte Francois, Spitzname »Frankholz«, das Zimmer von Tommi und Rosi bezogen, die ihre Zweisamkeit seit Kurzem in einer Zweizimmerwohnung in Spandau genossen.
Tommi holte nun das Abi auf dem zweiten Bildungsweg nach, was nach Feierabend jede Menge Abendschule bedeutete. Kaum dass sie dort hingezogen waren, wurde Tommi aus dem Innendienst in Spandau zum Außendienst nach Kreuzberg versetzt. Sein Postler-Dasein bestritt er nun als maulender Aushilfs-Briefträger in Kreuzberg, was ihm keiner von uns verübeln konnte, wenn er von seinem Arbeitsdrama berichtete.
Sein Vorgesetzter war ein Stiernacken namens Beckstein, vielleicht um die Dreißig. Man brauchte dort dringend Hilfe, und es war leicht zu sehen, weshalb. Beckstein hatte ein aufgeplustertes rotes Gesicht und hervorquellende Augen und trug immer rote Socken und ein blutrotes Hemd aus einem Stoff, den er wohl in einer spanischen Stierkampfstadt erworben haben musste. Beckstein roch förmlich nach Menschenquälerei.
Neben Tommi gab es noch drei weitere Aushilfen – Lothar, Nino und Toni. Morgens um fünf mussten sie antreten. Nino war der einzige Trinker in der Mannschaft. Er trank immer bis nach Mitternacht. Früh um fünf saßen sie dann auf Abruf in der Sortierhalle, denn erst musste abgewartet werden, ob die regulären Briefzusteller erschienen oder ob einer oder mehrere von ihnen anriefen, um sich krank zu melden. Wenn Matschwetter oder Glatteis herrschten, oder wenn es im Sommer zu heiß oder im Frühjahr und Herbst zu regnerisch war, oder wenn in einem Kreuzberger Bezirk zu viele leerstehende Häuser besetzt worden waren, oder wenn ihre Kinder Ferien hatten, oder wenn zwischen einem Wochenende und einem Feiertag doppelt so viel Post auszutragen war, meldeten sich die Regulären meistens krank.
Dann platzte Beckstein der rote Kragen und er ließ seine angestaute Dauerwut an Tommi, Lothar, Toni und hauptsächlich an dem noch halbtrunkenen Nino aus. Er wirbelte auf seinem Aufsichtsstuhl herum und schrie den Vieren die Zustellbezirke zu: „Nino, du verdammter Trunkenbold, Bezirk 17! Und wehe, du kommst zu spät zurück!“ Dabei wusste er, dass Nino das Pensum niemals schaffen konnte. Schließlich ließ dieser grausame Postgott eine volle halbe Stunde verstreichen, um auf die morgendlichen Absagetelefonate zu warten, erst dann erteilte er die Anweisung, die gesamte Post nach Straßenzügen zu sortieren. Und dies mussten die Aushilfen ohne Kenntnis der einzelnen Straßenverläufe und Hausnummern tun. Dann wirbelte er zu Tommi, Toni und Lothar herum und schrie mit geschwollenen Halsschlagadern: „Ihr unfähiges Jungvolk …“, dabei zeigte er auf die drei betroffen dreinblickenden Aushilfen, „… ihr könnt euch aussuchen, wer was macht: Bezirke 22, 24 und 26! Und kommt ja nicht zu spät zurück!“
„Ihr Ärmsten!“, warf ich ein, als Tommi einen Moment in seiner Erzählung stockte.
„Natürlich diskutierten wir drei erst mal ausführlich, wer welchen Bezirk übernehmen würde, und so vergingen noch einmal zwanzig wertvolle Minuten“, sagte Tommi, als wir seine Situation besprachen.
Beckstein machte die vier Jungen richtig fertig. Er erwartete von ihnen, dass sie die Post rechtzeitig sortierten und austrugen und beizeiten wieder zurückkamen, damit er früher die Sortierstelle schließen und nachhause kommen konnte. Hinzu kam, dass die Jungs, ohnehin tagsüber schon fix und fertig von der Zustellschinderei, drei Mal die Woche nachts durch die Stadt fahren und die Nachtbriefkästen leeren mussten. Der Zeitplan, den sie einhalten sollten, war unmöglich. Das Postauto konnte gar nicht so schnell fahren, weshalb bei der ersten Runde stets fünf oder sechs Briefkästen ausgelassen wurden. Das rächte sich bei der nächsten Tour, weil dann die Briefkästen überquollen und es regelmäßig zu Beschwerden kam, die dem Kapo-Hitzkopf in der Sortierzentrale neuen Anlass zu einem Tobsuchtsanfall gaben.
„Die Aushilfen machen das »Wutsystem Beckstein« dadurch erst möglich, dass sie seine unmöglichen Anordnungen ausführen“, sagte Richy.
Als wir Tommis Arbeitserfahrungen diskutierten, meinte Doro in ihrer resoluten Art: „Ich verstehe nicht, dass man einen Mann von so augenscheinlicher Schwäche …“
„Grausamkeit!“, rief Tommi dazwischen.
„… dass man den in einer solchen Stellung belässt!“
„Den Regulären ist es wahrscheinlich gleich, so lange er ihnen nicht an den Job gehen kann. Davor bewahrt sie die Gewerkschaft“, sagte ich.
„Kannst du gegen diese proletarische Willkürherrschaft gar nichts machen?“ Richy sah Tommi fragend an.
„Ich schrieb an einem meiner wenigen freien Tage einen zwanzigseitigen Bericht mit allen Details über Becksteins Schikanen, legte einen Durchschlag auf Becksteins Platz und ging mit dem Original hinauf in die Leitstelle zum Ober-Boss, das heißt: Erst musste ich an der Sekretärin vorbei. Und da fiel mir auf, dass ich sie schon einmal gesehen hatte. Und zwar Arm in Arm mit Beckstein.
Die aufgedonnerte Tussi sagte, ich solle warten. Und dann wartete und wartete ich. Ich ging den Flur auf und ab und auf und ab und schaute auf die Uhr und wartete und fragte die Tussi, ob der Chef überhaupt da sei und sie nickte stumm und wies mit ihrem Zeigefinger auf den Stuhl vor ihrer Tür. Nach einer Dreiviertelstunde bekam ich endlich Zutritt zu dem begehrten Zimmer, in dem mich ein bürokratischer Fuchs in grauem Anzug und Postkrawatte misstrauisch von oben bis unten musterte und mich aufforderte, Platz zu nehmen.
Noch bevor ich mich setzen konnte,