Harald Hartmann

Trilogie der reinen Unvernunft Bd. 2


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Minister war. Hier waren sie unsichtbar, und zwar ohne sich übermäßig dafür anstrengen zu müssen. Sie mussten einfach nur stehen, und zwar dumm rum in Drumrum, so wie alle.

      „Danke“, rief ich laut und deutlich durch mein Megaphon, so dass es auch die hören konnten, die sich im Keller versteckt hatten, „das war's, ihr könnt jetzt alle rauskommen! Mit erhobenen Händen, bitteschön!“

      Es passierte aber nichts, und das obwohl ich frische Brötchen für mich mitgebracht hatte. Es schien, als hätte hier an diesem Ort die Macht der frischen Brötchen ihren Meister gefunden. Ich setzte mich, weil mir von dem ganzen dumm rumstehen schon der Rücken weh tat, in ein Café und vertiefte mich in eine alte, zahnlose Zeitung. Da las ich, dass die flüchtigen Minister schon längst irgendwoanders waren. Ich applaudierte anerkennend. Gute Leute wussten immer, wann es Zeit war nach irgendwoanders zu gehen. Und ich wusste, dass ich den Richtigen auf der Spur war. Ich würde nicht eher ruhen, bis sie alle in ihre Ministerien getragen worden wären, einzeln und in einer zugemauerten Sänfte.

      Die vier starken Burschen würden sich freuen, endlich wieder neue Aufträge zu haben. Ich konnte nach diesen guten Nachrichten erst einmal duschen gehen. Ich nahm an, dass es hier nicht anders zuging als anderswo auch. Einer duschte die andere, so wie es sich gehörte. Doch sofort merkte ich, dass ich fast einer Illusion aufgesessen wäre. Hier war es tatsächlich anders als anderswo. Denn anders als anderswo duschte hier die andere den einen. Es war also genau umgekehrt. Neumodische Sitten, so wie diese, das war klar, konnten sich unter meiner Regierung schon einmal warme Sachen kaufen gehen. Nützen würden die ihnen aber nichts. Erst müssten sie auf den Prüfstand, und dann würde ich sie mit einer gezielten Überdosis Güte aus der Tiefkühltruhe meines so herzhaften Herzens einfach abschaffen, ohne mit der kleinsten Wimper zu zucken. Andere Zuckungen waren selbstverständlich erlaubt. Die Hygiene, mit der ich schon so viel erlebt hatte, würde mir für mein entschlossenes Handeln in dieser infektiösen Sache sicherlich einen langen Fernsehabend widmen. Bevor ich mich aber in meinem Massagesessel vor dem Bildschirm niederlassen konnte, hatte ich noch etwas Geschäftliches zu erledigen.

      11

      Ich fühlte mich wie frisch geduscht, als ich die Sparkasse mit eiligem Schritt verließ. Ich hatte trotz meiner Mission noch Zeit gefunden, meiner Sparkassenberaterin einen kurzen Freundschaftsbesuch abzustatten. Das grenzenlose Rundum-Service-Paket war inzwischen noch grenzenloser geworden, wie sie mir bei einem Beruhigungstee erklärte. Wieder hatte der Fortschritt einen schönen Sieg errungen. Ich applaudierte, er verbeugte sich weinend vor Glück wieder und wieder. So kam es, dass der Fortschritt darüber die Welt vergaß. Mir durfte so etwas aber auf keinen Fall passieren. Ich hatte schließlich die Verantwortung für die Welt und alles darüber hinaus. Ich musste sie retten. Deshalb hatte ich natürlich längst nach dem Eskimo geschickt. Er sollte mit einem ersten Schritt in eine beliebige Richtung zunächst einmal den Fortschritt vor mir retten. Stolz kam der Eskimo mit seinem schicken Cabrio angesaust und entführte den Fortschritt in den Urlaub. Geld durfte bei dieser Aktion keine Rolle spielen. Es war gut, dass ich mir nicht die Lumpen vom Leib reißen ließ. Der Erfolg kam, und der Fortschritt galt seither als gerettet. Ich habe gehört, seit er aufgehört hatte, sich dauernd zu verbeugen, tat ihm der Rücken nicht mehr weh. Das war natürlich, therapeutisch gesehen, ein herber Verlust für ihn, der ihm sehr weh tat, aber nicht nur ihm sondern auch seinem inzwischen ganz ausgehungerten Therapeuten.

      Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich bestimmt nicht nach dem Eskimo geschickt, sondern nach dem Okapi. Da merkte ich, dass zwischen Hinterher und Vorher also immer noch ein Unterschied bestand, obwohl ich bereits während meiner ersten Regierungsperiode alle sichtbaren und unsichtbaren Unterschiede ausdrücklich verboten hatte. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste handeln. Als Ministerpräsident hatte ich alle Optionen. Ich handelte wie ein Erleuchteter. Mit einer Handbewegung machte ich den Eskimo rückgängig und den Fortschritt auch. Dann entschied ich, wo ich schon mal dabei war, alles rückgängig zu machen, einfach alles. Ich legte den Rückwärtsgang ein. Es stellte sich als die ganz große Lösung heraus, nach der die Forscher so lange geforscht, aber die sie nie gefunden hatten. Die Gründe dafür wollte ich lieber nicht wissen. Doch mir war klar, wenn sie besser geforscht hätten, hätten sie auch selbst drauf kommen können. So aber würde ich den ganzen Ruhm ernten.

      Der ungeflügelte Engel kam herbei geflogen, er war immer noch im Honeymoon mit dem Walross, und überreichte mir meinen Preis für die Entdeckung der ganz großen Lösung. Es war das beliebte, rostige Einrad mit den sechs Rückwärtsgängen. Ich stellte es sofort raus zum Sperrmüll, aber die Müllmänner weigerten sich, es mitzunehmen.

      „Warum wollt ihr das rostige Einrad mit den sechs Rückwärtsgängen nicht mitnehmen?“ fragte ich sie.

      „Wir haben unsere Vorschriften“, antworteten sie.

      „Habt ihr Lust auf noch mehr Vorschriften?“ fragte ich sie mit einigen schönen, maßgeschneiderten Hintergedanken dahinter.

      „Lust schon“, sagten sie, „aber leider gibt es keine mehr.“

      „Das macht gar nichts, ich mache welche“, antwortete ich und ging auf sie zu.

      Ich nahm die Hände eines jedes einzelnen und legte sie in meine Hände. Ich strich über ihre harten, rissigen, schwieligen, verschmutzten Hände und machte ein strenges Gesicht.

      „Es gibt neue Vorschriften“, verkündete ich feierlich. „Erstens: Hände waschen. Zweitens: Hände eincremen. Und zwar dreimal täglich nach dem Essen. Drittens: Schnauze halten. Wehe, es kommt was raus!“

      Sie stöhnten kurz auf vor Lust.

      „Drittens können wir schon“, sagten sie, „aber Erstens und Zweitens wird ein Problem.“

      „Warum?“ wollte ich wissen.

      „Aus praktischen Erwägungen“, sagten sie.

      „Dann lasst Vorschrift 1 und Vorschrift 2 eben weg“, sagte ich, „das war sowieso nur Deko für die Galerie.“

      Sie bedankten sich bei mir, als hätten sie eine Tarantel erstochen. Ich war tief beeindruckt, wie gut sie es schafften, dabei die Schnauze zu halten, damit nichts raus kam. Eine gute Vorschrift fand eben immer die richtigen Liebhaber.

      Fast hätte ich über diesem Geplänkel meine Verabredung mit dem Gehirnbildner verpasst. Er wartete schon in meinem Gehirn auf mich. Der Weg dorthin war allerdings weit, steinig und schwer, wie ich aus dem Hörfunk erfuhr. Derartige Informationen konnten einen Ministerpräsidenten aber nicht schrecken. Ich betätigte die Toilettenspülung.

      12

      Endlich konnte meine Suche nach den flüchtigen Ministern und ihren subalternen Staatssekretären weiter gehen. Ich wusste, dass sie überall sein konnten. Das machte es mir leicht, einen perfekten Plan zu schmieden. Wenn sie überall sein konnten, musste ich einfach auch überall suchen. Dann konnten sie sich verstecken, wo sie wollten. Ich würde sie trotzdem finden. Viel zu oft wurde ja alles viel zu kompliziert gemacht. Als Ministerpräsident beteiligte ich mich aber nicht an solchen von der Vernunft gekidnappten Vernebelungstaktiken. Es war mir sogar verboten. Nach der letzten Novelle der Gummibärenverordnung war es mir sogar mehr als verboten. Die Kompliziertheit von irgendetwas durfte demnach nicht mehr als ein Drittel der durchschnittlichen jährlichen Regenmenge westlich und östlich von Bergen mit einem Gefälle von mindestens fünf handgefertigten Gardinenstangen betragen. Allerdings galt diese Verordnung nicht an Sonn- und Feiertagen sowie sonn- und feiertagsähnlichen Tagen. Außerdem verringerten sich alle Bestimmungen automatisch bei Sonnenschein um 5% , bei Beerdigungen um 5%, bei Hunger um 5%, bei Musik um 5%, bei Stau um 5%, bei Vereidigungen um 5%, bei Erdbeben um 5%. Ich hätte somit auch sagen können: in jedem Fall oder noch einfacher: immer. Wäre da nicht eine Ausnahme gewesen. Beim Geschlechtsverkehr waren es nämlich 6%.

      Damit schaffte es diese Verordnung, aus dem Stand zu meiner Lieblingsverordnung aufzusteigen. Da war für jeden was dabei. Da konnte jeder mitmachen. Auch ich natürlich. Als Ministerpräsident hielt ich mich aber selbstverständlich nicht an so etwas wie Gesetze und Verordnungen.