Jürgen Schwarz Blum

Die Bibliothek


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wollte. Ich achtete darauf, sie genau so, wie sie zuvor gestanden hatten, abzustellen. Ich versprach, sie morgen wieder zu besuchen.

      IV

      Am nächsten Tag kam ich wieder vorbei. Ich wechselte wie üblich ein paar Worte mit der Dame am Empfang, die mich als Stammgast hier kannte. Die Bibliothekarin berichtete mir immer sofort über die neuesten Buchanschaffungen, da ihr mein besonderes Interesse an allen Bewohnern der Bibliothek bekannt war. Heute hielt ich mich aber nicht zu lange auf, sondern machte mich schnell auf den Weg, um zu den beiden Büchern vom gestrigen Tag zu gehen. Mir lag vor allem das Buch vom Meer am Herzen – aber damit vergaß ich natürlich auch nicht sein Geschwisterchen mit dem Katalogsystem, da sie sich nebeneinander befanden.

      Das Buch zu finden war ganz einfach. Ich hatte da für alle Bücher, die mir außerordentlich gefielen, ein eigenes Merksystem. Nachdem ich die Treppe in das Untergeschoss hinabgestiegen war, öffnete sich nach links der eine Raum, nach rechts der andere. Sie waren am Fußende und hinter der Treppe miteinander verbunden. Von dem Raum nach rechts ging es dann – nach einem Zickzackkurs um die Regale herum – in den dritten und letzten Raum im Untergeschoss. Hier waren die Regale und Bücherschränke etwas labyrinthisch angeordnet. Es wirkte so, als wenn alles hier hineingebracht worden war, um es abzustellen, und nicht, um es aufzustellen. So gab es nur kurze Gangabschnitte, und schon kreuzte ein weiterer Gang; nur ging es nicht geradeaus weiter, da dort ein Regal im Weg stand, sondern nur nach links oder rechts oder auch nur in die eine Richtung.

      Mein Merksystem ging jetzt so: Das Buch befand sich nicht auf dem ersten Regal, sondern ich konnte hier gut die Regale abzählen, gegen den Uhrzeigersinn den Raum durchlaufend wie entlang einer Spirale nach innen – das war in diesem Labyrinth auch genau das Richtige: vier weitere Regale nach dem ersten, dann noch eines, nun fünf weitere, dann brauchte ich nur weiter abzählen: neun, zwei, sechs, fünf, drei, fünf – hier war es, das einundvierzigste Regal. Es war also ganz einfach.

      Denn Einundvierzig war eine Primzahl, also eine Zahl, die nur durch sich selbst oder der Eins teilbar war. Primzahlen mochte ich. Für jede Primzahl gab es bestimmt ein Buch, auch wenn es vielleicht noch nicht geschrieben worden war. Nummer Einundvierzig war vielleicht das Buch vom Meer.

      Interessant, so empfand ich, war, dass die Bücher in den Regalen dieser Zwischenstationen – also das erste, vier weiter, ein weiter, fünf weiter, und so fort – auch eine besondere Ordnung aufwiesen: Wenn ich die Bücher des jeweiligen Regals von oben nach unten und auf jeder Reihe von links nach rechts durchging, konnte ich feststellen, dass an den Positionen an einer Primzahl die vorherrschende Farbe des Einbands mit der Farbe der Zahl übereinstimmte. Zum Beispiel war bei diesen ausgewählten Regalen der Einband des zweiten Buches weiß und der des dritten rötlich, also genau so, wie diese Zahlen – zumindest für mich – aussahen. Richtig, das fünfte Buch war blau eingeschlagen, das siebte in grau-grünlichen Farbtönen gemustert. Das vierte Buch zum Beispiel besaß einen hellen Einband, was nicht zur Farbe der Vier passte – aber das war auch keine Primzahl. Ebenso war Buch Nummer Sechs nicht gelb, sondern eher grünlich eingeschlagen.

      Allerdings hatte ich die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen es nicht verstanden, wenn ich von der Farbe einer Zahl sprach. Das war sehr bedauerlich für diese Menschen, denn offenbar sprachen somit die Zahlen nicht zu ihnen. Ob dann die Bücher, die sie lasen, auch nicht mit ihnen ins Gespräch kommen konnten? Für mich jedenfalls hatten alle Zahlen auch eine Farbeigenschaft.

      Möglich war aber, dass dieses Abzählen der Bücher und Regale reine Zahlenmystik war, die sich immer irgendwo finden ließ, ganz zufällig, ohne eine besondere Bedeutung. Die Bedeutung entstand erst in der eigenen Vorstellung.

      Und schon war ich also an dem Buch angekommen. Ich erwischte mich dabei, tatsächlich zu befürchten, dass Buch hätte über Nacht verschwinden können. Mit spürbar schlagendem Herzen schaute ich langsam auf die zweite Reihe von unten – von natürlich sieben Reihen in jedem Regal – und durch die Lücke in der Reihe. Doch da war es, wie gestern, es hatte auf mich gewartet. Ich nahm das Buch mit der Geschichte vom Meer wieder hervor und las gleich hier im Stehen.

      Die Zeit verging sehr schnell, und plötzlich fiel mir auf, wie spät es schon war. Ich musste schließlich noch etwas anderes erledigen. Ich wollte das Buch schon zurückstellen, als ich einen kleinen Papierstreifen bemerkte, der vor dem hinteren Buchdeckel hervorschaute. Das war mir noch gar nicht aufgefallen. Ich schlug das Buch hinten auf und fand dort einen Notizzettel liegen. Er war von einem größeren Stück Papier abgerissen worden, wie an den unregelmäßigen Rändern zu erkennen war. Mit Bleistift waren diese Worte aufgeschrieben:

      Wo bist du?

      Das war eine seltsame Nachricht, konkret und doch unbestimmt. Die verblasste Schrift und die Färbung des Zettels zeugten davon, dass die Botschaft wohl schon einige Jahre alt sein musste. Wer mochte das gefragt haben? An wen war die Frage gerichtet worden? Hatte es eine Antwort gegeben?

      Ich fühlte mich irgendwie davon angesprochen. Ich hielt das Buch in der einen Hand, den Zettel in der anderen und starrte, ohne tatsächlich zu sehen, darauf. Da kam mir ein Gedanke. Aus meiner Tasche holte ich einen Bleistift hervor und schrieb als Antwort auf den Zettel:

      Bin hier, habe dich verpasst. Komme morgen wieder, am frühen Nachmittag.

      War das zu konkret? Nein, ich glaubte nicht. Denn wann genau war schon morgen. Meine Nachricht war allerdings auf dem zweiten Blick etwas langatmig. Aber das ließ sich nicht mehr ändern, ausradieren und darüberschreiben wollte ich nicht. Es war einfach ein spontaner Einfall. Ich wusste selbst nicht, warum ich das schrieb oder was ich erwarten sollte.

      Nachdem ich den Zettel in das Buch zurückgelegt hatte, darauf achtend, dass er wieder ein klein wenig hervorschaute, stellte ich es zurück an seinen Platz. Ich nickte zum Abschied und machte mich dann auf den Weg in das Leben draußen.

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