Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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      Jasper Mendelsohn

      Die freien Geisteskranken

      1919 - 1929

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       KAPITEL I Die Wiege der Kannibalen 1919

       KAPITEL II Dada und die Weltformel 1920

       KAPITEL III Regel und Chaos 1921

       KAPITEL IV Die permanente Revolution 1922

       KAPITEL V Die Umwertung aller Werte 1923

       KAPITEL VI Die neue Sachlichkeit 1924

       KAPITEL VII Die Asozialen 1925

       KAPITEL VIII Zufallspermutationen 1926

       KAPITEL IX Die Vernunft und das Andere 1927

       KAPITEL X Ankunft und Wiederkehr 1928

       KAPITEL XI Fanale und Fiasko 1929

       KAPITEL O Bilanz

       Impressum neobooks

      KAPITEL I Die Wiege der Kannibalen 1919

      Mein geliebter Sohn, lieber Peter,

      wir hoffen dieser Brief erreicht Dich noch in Belgien, noch bevor ihr den Franzosen gegenübersteht und zu den Waffen gerufen werdet. Wir hoffen Du hast Zeit uns zu schreiben, trotz all der Entbehrungen, welche Du vor dir hast. Wir haben Dir etwas Naschwerk beigepackt. Das ganze Land glüht und eifert eurer baldigen Rückkehr entgegen. Komme Du mir nur unversehrt nach Hause! Ich übe mich derweil in der Kunst der Zuversicht, so gut wie es eine sorgenvolle, liebende Mutter nur eben kann.

      Letzte Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, Du liefst vor mir in einen dunklen Wald hinein und ich folgte Dir, denn dieser Wald war der Wald der Verlorengegangenen. Der Wald, in dem Eltern ihre Kinder verlieren. Es war beklemmend. Der Wald wuchs immer dichter, die Äste bogen sich immer enger heran. Du wurdest immer winziger, bis ich nur noch Deinen Rufen folgte, doch auch die hörte ich schon bald nicht mehr. Die Äste rankten und schraubten sich um meine Arme und Beine und hielten mich fest, mehr und mehr Buchenbäume wuchsen aus dem finsteren Moosboden und löschten die letzten Lichtscherben von seinem Grund. Doch ich befreite mich, schlug das Astwerk von mir ab und trat die Stämme entzwei. Dann schoss ich wie ein Blitz geradewegs mit weiten Schwingen nach oben hinaus in die Kronen, sprengte durch das Blätterdach dieses dämonischen Dschungels und blieb im Himmel stehen. Dort oben war wärmender Sonnenschein und weite Aussicht über all das All-Das und dort sah ich Dich. Dort lagst Du, in friedlichem Schlaf in einer Hängematte zwischen zwei Bergen. Dein tiefer Atem rauschte über die Blätter des Waldes und Dein zufriedenes Schnarchen bewegte die Wolken zu Freudentränen. Ich hob Dich aus der Hängematte und legte Dich zurück in mein Herz.

      Mein geliebter Sohn, dieser Traum sagt mir doch, Du kommst schon bald zurück. Habe keine Angst, denn Angst ist doch nichts mehr als Fantasie; so versuche auch ich nicht zu viel Sorge zu tragen – leichter gesagt als gelebt.

      Dein Bild steht uns am Tisch zu jeder Mahlzeit.

      Deine, die wartenden, Eltern.

      Karl und Käthe,

      Berlin, Oktober 1914

      X X X

      Sechsundzwanzig Tonnen Erlenholz ragten dreizehn Meter hoch über die sich zusammengerottete Menschenschar heraus. Die Nagelfigur eines Volkspatrons, direkt vor die Siegessäule am Reichstag platziert, der eiserne Hindenburg. Volkswissen. Gallionsfigur. Tribun. Die Gegendemonstranten zu seinen Füßen versammelten sich wiedermal um ihre Räterepublik an eben seinem Orte zu installieren. Einmal mehr. Mitten im eisigsten Winter. Die schwarzen Äste der nackten Bäume verzweigten sich adergleich bronchial in das blendende Weiß dieses kaltbringenden Januarhimmels. Sie wuchsen heran und ragten herauf und ergaben sich diesem Riesen, diesem Kampfkoloss, diesem Dachdecker der Staatenwelt, einem der vielen Gesichter des Weltenkriegs, dem Generalfeldmarschall. Seine Pranken ruhten am Griff seines Schwertes, die massive Klinge stemmte starke Arme, viele Meter nach unten fiel sie zu Boden und stützte Hindenburg zu aufrechtem Kreuz, als verbleibende Säule der Zivilisation. Der Krieg war verloren, die Denkenden bestätigt, die Verblendeten erbost. Beide Parteien holte die Ratlosigkeit ein, also bildeten sie Räte und berieten sich und mehr und mehr rieten sie. Und ihr Raten wurde zu Ritual. So rief es Liebknecht in die klirrende Luft zu den Menschen, aus seinem Munde kamen Wolken wie aus einem Schornstein und die Menschen klatschten, protestierten und bewegten sich gegenseitig.

      Geduldig ruhte das hölzerne Gesicht Hindenburgs über der äußerlich so zarten Rosa Luxemburg, das Rotkäppchen, welches da zu seinen Stiefeln auf ein brüchig gebautes Pult empor krabbelte und »Überzeugung« schrie. Wie Pinguine drückten sich die schwarzen Mäntel zusammen, Atem quoll aus den Schnabellöchern und dampfte über den Köpfen, es roch nach altem Schweiß und fauligen Äpfeln. Käthe Kollwitz verlor kurzzeitig ihren Stand auf den vereisten Pflastersteinen, kippte nach vorn und hielt sich an den Schultern des Vordermanns fest.

      »Immer ruhig mit de junge Pferde, Jenossin«, schnaubte der und hob seinen Hut an.

      Ihr Mann Karl legte den Arm um sie und sie schritten weiter hinein ins Dickicht des Gedränges, fremdbestimmt durch die eigenwillige Bewegung der Massigkeit. Der Spartakusbund hatte zum Aufstand geladen; Spartakus, der weise Sklave aus Thrakien, der Rom herausforderte. Im Namen des Spartakus, so erhob sich die USPD (unabhängige SPD) vereint und gewillt ein sozialistisches Zusammenleben zu initialisieren. Nachkrieg, die Monarchen waren gestürzt, das Land war einem aufgeplatzten Bienenkorb gleich – alles schwirrte herum, mit allen Gesinnungen, Meinungen und Modellen. Wie immer, nur anders. Jeder hatte einen Bauplan, jeder hatte die beste Idee, jeder hatte die einzige Meinung, zu allem. Gute hundert Meter von ihr entfernt, tief unter dem Haupt des Riesen, zog Liebknecht das Rotkäppchen über die schnatternden Eisvögel hinweg zu sich auf das Podium. Die Pinguine klapperten mit ihren Schnäbeln vor Rechthaberei. Kollwitz erhaschte nur Bruchteile ihrer Gebärden, doch sah sie zwischen den hohen Männerhutköpfen ihren Zeigefinger dirigierend in alle Richtungen schwingen; sie zeigte nach hier, zeigte nach dort und ihre vertrauten, schwarzen Augen warfen zutraulich zuversichtliche Blicke in die schaulustigen Angesichter.

      »Bewegung!«, flammte Luxemburg aus ihrer Brust und diskutierte mit dem Weltgeschehen. »Bewegung! Hör mich an! Bewegung! Setze dich in Gang! Jeder bewegt sich, doch wer sich nur alleine in Bewegung hält, bewegt am Ende nicht mehr als sich selbst. Und so – bewegt man nichts. Ohne Lohn, ohne Essen, für gar nichts! Arbeiter! Aus den ausgebrannten Hafenstädten des Nordens und von den trockenen Äckern des Südens. Arbeiter! Aus den braunen Kohlegruben des Westens und aus den leeren Fabrikhallen Berlins. Ohne Lohn, ohne Dach für den Winter, nein, für gar nichts! Der Stillstand muss vorbei sein – denn Stillstand bricht uns die Beine! Maschinen, die stillstehen,