Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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Der Rasen war gemäht und die Hecken waren geschnitten in liebevoller Gärtnerarbeit, selbst im Januar. Nach vielen Totensteinen standen sie bedächtig an Peters Grab. Eigentlich war er hier nicht vergraben und eigentlich stand auf dem Stein auch ein anderer Name, doch sie handhabten es wie viele Familien: Sie suchten sich einen bestimmten Stein aus, der ihnen richtig erschien, einen Platzhalter mit einer Stellvertreterleiche, um die Trauer an irgendetwas festzumachen. Und nun starrten sie durch die Blumenerde herab auf ihren kleinen Bruder, ihren Sohn. Obgleich seine wirklichen Gebeine irgendwo in Belgien verscharrt lagen, malte sich Kollwitz zu ihm herunter in die Erde, um ihn noch einmal zu halten, im Schatten.

      Schlachten schlagen sie um Vergeltung, dachte sie. Die Staaten und ihre Erziehungsbehörden locken die Jungen mit wertlosen Blechmedaillen und dem Süßkram der Anerkennung, schenken ihnen billiges Gemeinschaftsgefühl. Wie teuer sie es bezahlen. Sie machen die jungen Männer zu Heroen; anmaßend und mutig und jung wie sie sind. Wie konnte ich ihn gehen lassen mit geladenem Gewehr? Wie kann ich meine Tat, oder meine Tatenlosigkeit, ungeschehen machen? Ich kann meine Schuld nicht erschießen. Ich kann sie nicht verbrennen. Durch Reue fliegen die Kugeln hindurch. Reue brennt nicht. Und so bleibt sie auf immer – »nur Peter, er kommt nie wieder!«, sagte sie und starrte auf das Sohnesgrab.

      »Hast du was gesagt?«, fragte Hans aus anderer Gedankensphäre gerissen. Kollwitz ertappte sich beim Lautdenken und richtete ihren Schal. Sie drehte ihr Gesicht zu Hans und sah ihn an. Ihr großes Kind, das schon grausameres von der Welt gesehen hatte als sie. Zu was sie fähig sein konnte. Er hatte es gesehen, in allen Dimensionen, riechbar und schmeckbar und schmerzbar. Nur durch Zufall noch am Leben, nicht unsterbbar. Wie willkürlich noch einmal geboren. Die Knochenmühle der Massen hatte ihn wieder ausgeworfen, eine industrielle Bewegung der Menschenvernichtung, eine rädernde Maschine ließ ihn vom Band zurück zu ihr. Er hatte die Verdammnis erlebt, was konnte sie ihm noch erzählen? Ihrem Ersten und Letzten. Und dennoch schuldete sie dem Mutter-Sein eine Predigt an sein immer noch Sohn-Sein. Hans runzelte die Stirn und sah sie an als suche er nach einem passenden Puzzleteil. Denn sie sagte nichts.

      »Ja?«, fragte Hans.

      »Ach, ich dachte nur, Peter…«

      »Ja?«

      »Hans, du und Peter«, sagte sie. »Ihr seid herangewachsen in vaterländischem Hurragebrüll. Fahnen und Gewehre tanzten vor euren Kinderaugen. Auch ich sah noch mit Kinderaugen. Falsche Zwecke hat man euch gesetzt, grausames Spiel- und Rüstzeug legte man euch in eure Kinderhände. Und ihr lagt in meinen Kinderhänden. Ich gab euch, mein Eigenstes, dem Volkskörper herauf und erkannte nicht seinen hässlichen Völkerhass – Närrin die ich war. Nichts hatte euch dieses Kannibalenvolk zu geben, das sein eigenes Saatgut vermahlt. Nur satt sein fordert es, und jetzt hat es sich den Bauch vollgeschlagen, den Magen verdorben. Alles wühlt und wirrt in ihm umher und am meisten krankt – seine Jugend, mein Kind. Eine Schlangengrube voller Konzepte und Rezepte für die Nachwelt tut sich auf, ihre Lehrer zischen und züngeln und winden und beißen und vergiften und fordern ihrer Idee das alleinige Existenzrecht zu. Und alles nennen sie – Bewegung. Die Arbeiter-Bewegung, die Nationale Bewegung, die Jugend-Bewegung. Was ist eine Bewegung anderes als der Weg von einer Versklavung in die nächste? Alles bewegt und behindert sich und versperrt sich den Weg. Sie lehren das Eingliedern, das Kleinsein, sagen, dass für-sich-selbst-sein etwas Schlechtes sei. Sie lehren Zugehörigkeit die nur mit Abgrenzung einhergeht, schüren und schnüren die Gruppe zu, sagen, dass anders-sein etwas Böses sei. Sie spornen an zum Namenmachen, durch Abzeichen und Titel, Qualifikationen und Zeugnisse – wer der Beste sei im Nachmachen. Nichts als Zierrat für die Eitlen, Federschmuck für Pfauenstolz. Mein Sohn, lass mich dir meine letzten mütterlichen Worte für dein Leben geben: diene nicht denen, diene dir selbst. Wenn du gibst, vergiss nicht zu nehmen. Und verharre nicht auf öffentlicher Meinung, sei nicht so faul.« Sie fühlte ihren Kopf an Hans‘ Schulter und der legte den Arm um sie, wie es Vater oft tat. Dann sprach er auch seine Grabesrede an seine Mutter.

      »In den Schulen haben sie uns duckköpfig statt dickköpfig erzogen, Mutter. Unter dem Drill draller Rohrstöcke gezüchtigt und gezüchtet, geradkreuzig geschlagen und gleichgemacht. Erst lernten wir das Sprechen, dann lernten wir das Maul zu halten. Ich weiß, was du meinst. Jede natürliche Neugier haben sie uns ausgetrieben, jeden dummen Gedanken, den wir manchmal denken, eingepflanzt. Ich weiß, wovon du sprichst. Mein Starrsinn löst sich langsam, ich versuche den Brustpanzer meiner Sozialisierung zu durchbrechen. Wenn die Welt verdunkelt, gewöhnen sich die Augen nur zu gern an das grau in schwarz. Dann wird alles Licht zu Blendung. Aller Geist zu viel.«

      »Du, ich und Vater«, sagte Kollwitz. »Wir waren vier, jetzt sind wir drei. Wir leben alle weiter, mit ihm und ohne ihn. Wir bleiben allein zurück, mit unserem Jüngsten in Jenseits.«

      Sie hob die Hand über das Grab ihres Peters, ihres Fantasie-Peters. Sie strich über sein Gesicht und schloss ihm die Augen und wandte sich ab. Sie trotteten den Trauerberg hinab und traten durch das Friedhofsgatter zurück in die Geisterstadt, die nun im Nachtschatten lag. Die Elektrizitätswerke streikten, die Kohlenschaufler wollten mehr Geld, die Kohlenverbrenner mehr Koks. Finsterstes Mittelalter der Verständigung, wie einst im Bauernkrieg blieben Grundsätzlichkeiten ungeklärt. Wie die anderen Familien, so mussten auch Kollwitz und Hans Umwege nehmen, hier und dort besetzte Gebäude, umstellt von Freikorps, hinter geschnürten Zeitungspaketen verschanzt. Aus den Fenstern schossen die Spartakisten zurück, der Krieg war vollends heimgekehrt. Des Nachts ging das Taktieren der Schlachten wieder los, im Schutz der Dunkelheit machten sie Strategien aus und umschlugen sich im Strudel der Gewaltspirale. So wie einst im Bauernkrieg, und so wie damals brannten Fackeln und nicht Glühbirnen. Donnerheuler, Blindgänger, Wetterleuchten durchdrangen die Häuserfassaden. Und hier und dort sah man die Pilze der Nächte, die Schattengewächse, die Destruenten auf dem morschen Frieden der Schuldenberge. Die Kriegszertrümmerten. Die Rückkehrer, und doch niemals Rückkehrer. Die Kriegskrüppel. Sie bevölkerten die Nebenstraßen und sangen ihr Trommelfeuerlied und schüttelten sich, denn auch sie waren mal Menschen gewesen, bis sie in das Grauen hineingesehen hatten. Einer dieser Krebse ohne Beine kroch unweit von Kollwitz und Hans in eine umgekippte Mülltonne hinein und fauchte sie an.

      »Bullhornige, schratbärtige Barbaren; Berserker! Maschinen!«, gurgelte er und kratzte an den Scherbensplittern vor ihm auf dem Boden um Lärm zu machen. Traumatisierte, ärmste Menschen, ihr Fühlenden unter Gefühllosen, dachte Kollwitz zurück. Keine Schreibtischtäter in Bürobunkern, nein, sie waren eigenhändige Täter bei der Landarbeit gewesen. Die brennende Schuld in den eigenen zwei Händen, den Tod in den zehn Fingern, die im Krieg auf die Knöpfe drückten und Millionen vergifteten oder zerschossen oder zerrissen. Totbringende Monster an seinen Armen verwachsen. Er fauchte sie an und ging mit ihnen ins Gericht. »Finger weg! Ätz, ätz, weg von mir! Ihr Klauen! Ekel, spuckhässlicher Ekel, ich hacke euch noch ab! Eines Tages hacke ich euch, zack und zack, einfach ab!«

      Vor ein paar Tagen hatten sie hier in der Nähe die Überreste von Rosa Luxemburg aus dem Landwehrkanal gezogen. Ihr Gesicht war entstellt, ihr Henker hatte aus nächster Nähe abgedrückt. Die vertrauten, schwarzen Augen waren weiß geworden. Kollwitz fror, denn es blieb kalt. Sie schlichen weiter durch die leere Einkaufspassage. In den Schaufenstern boten die Händler ihre letzten Auslagen feil. In den Schneidereien standen halb nackte Schaufensterpuppen mit verdrehten Köpfen, Maßbänder hingen an ihren Armen und Nadeln hefteten die unfertigen Teile an ihre Holzkörper. Beim Metzger hingen zwei Schweinehälften, Haxen und Schenkel im Fenster, gefüllter Magen, Hüfte und Schulter lagen aus, die letzten Reste zu horrenden Preisen. Daneben das Prothesengeschäft, Unterbeine und Oberarme aus Holz, mit Schinkenfarbe lasiert; Hände als Haken oder Greifzange und Füße mit Zehen oder als Stumpf. Als sie endlich die geschlossene Bäckerei erreichten gab sie Hans einen Abschiedskuss und sah ihm noch ein wenig nach, bis er um die Ecke bog und heim zu seiner Verlobten Ottilie eilte.

      Sie betrat die alte Stube und dort saß, geschlagen und ermüdet vor dem Fenster, Karl. Er neigte den Kopf zu ihr und wieder fort.

      »Hallo, mein Matuschchen«, seufzte er, sichtlich erschöpft von aller Arbeit und allem Chaos.

      Er war auf dem Heimweg in einer Protestmasse eingekeilt worden. Man hatte mit Maschinengewehren in die Menge geschossen, er rettete sich in ein naheliegendes Café, dort verband er zwei Menschen, einer starb. So saß er da, mit Blut an seinen Händen.

      »Ich