Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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Wert verschwendeter Zeit, Herr Dachs, und nein, dies ist weit mehr als das. Es sind unsere Jungen, unsere Kinder. Die nächste Generation, die, welche unsere hervorbrachte. Die haben den Krieg erlebt. Unseren Krieg. Wir haben ihn ausbrechen lassen. Wer sind wir, sie zu beurteilen? Sie sind dran. Sie urteilen nun über uns. Stufen müssen wir ihnen sein, nicht Zäune.« »Hufe werde ich denen sein, diesen Schmierfinken«, brummte Dachs. »Bastarde aus Sinnkrise und Zukunftsplänen. Sie müssen ja daran Gefallen finden, Sie sind freie Künstlerin, nur zu. Ich nehme mir die Freiheit es abzulehnen. Es hat keinerlei technischen Wert.« Kollwitz schmunzelte, ging ein paar Schritte zum nächsten Bild und ließ Dachs folgen. »Und das da?«, fragte sie. Jenes Werk war keine Kritzelei, es war ein Ölbild feinster Couleur, war aber nicht weniger thematisch fokussiert. Es zeigte eine zerbrechende Umwelt. Ein Politiker, ein General und ein Priester standen beflissen vor dem Zerfall, während der Normalmensch, der bürgerliche Egoist zu Tisch und Mahlzeit, sich aus Schreck vor dem Untergang an sein Buttermesser und seine Fleischgabel klammerte und an seinem Tische sitzenblieb an dem er bestellt hatte. Dachs las die Beschreibung unter dem Bild und befummelte sein Schnauzhaar desinteressebekundend: »Deutschland, ein Wintermärchen; George Grosz – der Propagandadada.« »Naja, es ist nicht gerade herkömmlich, nicht wahr?«, sagte Kollwitz. Dachs hob beide Augenbrauen. »Es scheint mir, dass der Maler den französischen Kubismus mit dem italienischen Futurismus zu verwechseln versucht und dabei auffällig scheitert. Ist mir aber auch egal, soll mir der Futurismus am Kubismus vorbeigehen, so schnell wie’s nur geht. Ist doch alles Müll für die Abfuhr. Diese Stümper halten sich nicht an die einfachsten Regeln. Nicht an die einfachsten, Frau Kollwitz.« »Jeder Idiot kann eine Regel aufstellen«, widersprach Kollwitz, »und es gibt immer einen zweiten Idioten, der sich daran hält. Ich sehe durchaus viel technischen Wert. Sehen Sie es sich an: Ein Bild, das auseinanderfällt. In alle Richtungen. Mal vom Stil abgesehen. Ist das kein Ereignisfeld eines gekonnten Malers? Sehen Sie sich die Machart an. Sie sind nicht vom Fach, nicht wahr?« Dachs lachte laut auf. »Vom Fach? Wenn Sie wüssten wer ich bin, Frau Kollwitz. Wenn Sie wüssten.« »Nun, ich kenne viele. Aber Sie kenne ich nicht«, sagte Kollwitz. »Ganz recht.« Dachs schien nichts weiter zu sagen zu haben. Er putzte sich die Nase und kratzte sein Fell, dann zog er eine Museumslupe aus seinem schwarzen Mantel und begutachtete Strichführung und Rasanz des Gemäldes, als würde er es testen. Kollwitz war gar nicht mal so überrascht von der Pedanterie. Offensichtlich ein Berufskritiker der sich für einen Künstler hielt, indem er fremdes Werk schlecht hieß, weil er kein eigenes konnte. »Nun, es verschleppt nur wieder diesen lästigen Kubismus, wie ich schon sagte«, bestätigte er sich selbst. »Alles zu dick, zu pastös, mehr Kante als Form. Sehen Sie sich das an, hier unten, der benutzt doch Straßburger Terpentin zur Farbverdünnung, da geht mir die Hutschnur hoch bei sowas. Wie dem auch sei, Gnädigste, Sie werden schon noch sehen. Ein gelehrter Kunstakademiker macht noch keinen Gesamtwert in dieser Dada-Bewegung. Da ziehe ich Ihre Arbeit vor, Frau Kollwitz. Talent, Frau Kollwitz, Talent. Eines pro Generation. Machen Sie weiter so. Und verwenden Sie mal Farbe, probieren Sie es aus. Dieses ewige Schwarz-weiß ihrer Zyklen ist doch kein Zustand, bei allem Respekt.« Kollwitz wusste, wann es sich zu verabschieden galt, wo man sich einig war uneinig zu sein. »Wir sehen uns dann im Theater, Herr Dachs? Auf bald.« »Ja, im Theater, das kann man laut sagen.« Er ging kopfschüttelnd weiter seiner Wege durch die eigen- und andersartige Ausstellung. Von der Decke hing ein Schwein in Reichswehruniform. »Bah!«, sagte er noch unter dem Türpfosten, dann war er weg. Eine weitere Skulptur stand dort am Rande des Irrsinns. Eine Schaufensterpuppe mit Verdienstabzeichen und verlorenem Kopf, eine Glühbirne diente als Prothese, man konnte sie an- und ausschalten. Plump und provokant. Die Besucher kamen in einen Kellerraum mit einer kleinen Bühne und setzten sich kichernd und zuflüsternd auf die klapprigen Stühle. Dies sollte also das Theater sein. Karl winkte ihr zu, er hatte schon die besten Plätze reserviert, mitte Mitte, zwei Reihen davor. Man setzte sich. Die Leuchten blendeten von den Stühlen ab zur Bühne. Der Vorhang wurde langsam per selbstgebautem Flaschenzug aufgezogen und quietschte metallsträubend. Das Licht ging auf. Die Bühne war klein, bunt und infantil verbastelt, überall erkannte man grelle Gesichter aus scharfen Kanten, maskierte Maskenträger, merkwürdiger als gewöhnlich. Ein trauriger, karger Mann stand dort neben einem alten Klavier und fummelte verlegen an seiner Körpermitte herum. »Seht mich an!«, rief er auf und äugte bedrückt ins Publikum. »Ich bin ein Witz! Ich bin hässlich! Ich bin ein hässlicher Witz! Ich sähe Salz in den Sand. Ich durchpflüge die Wüste. Stolz pflügte ich erst die Wüste, doch in der Wüste, dort verliert man seinen Stolz. Seht mich an! Seht mich an! Ich bin ein Witz, so alt wie die Sahara! Ich bin zum Davonflüchten hässlich! Ich bin ein hässlicher Witz! Ich bin genauso wie ihr!« Der verstimmte Pianist zog seinen Reißverschluss hoch, richtete seinen Hosenbund und setzte sich ans Klavier. Er krempelte gelangweilt seine Hemdsärmel hoch, hob die Hände und hämmerte seine knochigen Finger in spasmischen Zuckungen in die quäkernde Holzkiste. Dieselben zwei Akkorde, schrill und falsch und ohne Takt. Kling-klang, kling-kling-klang, kling-klang-klang, und so weiter. Kollwitz erkannte in der kargen Beleuchtung des Kellergewölbes die sich weitenden Augen der Publikumsinsassen, Stirnfalten wellten sich auf und Augenbrauen zogen sich zusammen wie Gewitterwolken. Hinter dem Klavier kamen drei Frauen in weißen Nachtkleidchen hervorgetänzelt und schlugen Kochlöffel auf Töpfe. Dazu stimmten sie ein dissonantes »tschu-tschu-tschu« an; sie versinnbildlichten wohl die höchste Eisenbahn für die Gesellschaft oder die Eisenbahngesellschaft oder möglicherweise auch einfach gar nichts. Dadas eben, man hatte es nicht leicht mit ihnen. Was es auch war, sie verarbeiteten es zu Dada. Der Zug hielt an, die Damen erstarrten. Ein fetter General marschierte in preußischem Stechschritt hinter ihnen hervor auf die Bühne, wirbelte seinen Blechsäbel über die Köpfe und schrie strenge Befehle aus kratziger Kehle, so dass ihm seine Pickelhaube regelmäßig ins fette Gesicht rutschte. »Raus aus euren warmen Löchern!«, stieß er aus und Spuckfetzen flogen unter seiner Schnauzbürste heraus durch das Rampenlicht und es nieselte. »Ihr Stubenfliegen, ihr Ofenhocker, raus aus euren warmen Löchern! Unter Mondglotzen und Sternenstarren rufe ich zu Beil und Keilerei!« Der fette General grunzte dreimal heftig, beendete den Stechschritt und stellte sich stramm in Befehlspose vor das Publikum. Er sprach die Kaiserrede der totalen Kolonisation der kolonisierten Kolonien: »Hört ihr nicht die Scharen scharren? Werft über euren Harnisch und schreitet durch die Äquatoren – ich brüll die Marschmusik der Weltarmee! Divisionen und Husaren – aus Ost und West und Nord und Süd, erhebt eure Standarten! Japaner, Chinesen, Deutsche, Franzosen! Truppen Afrikas, Asiatische, Kaukasische! Herbei Amerika, o Mississippi! Spree, Nil, Wolga, Tiber, Amazonen! Legionen Indonesiens, Brasiliens, Schwedens, Schweiz, zieht das Säbel, lasst es singen! Brich herab Himalaya, Täler des Mekong marschiert herauf! Verladet die Haubitzen auf die Elefanten der Oasen, bemannt die Wale der Weltmeere, sattelt die Löwen der Hunnensteppen! Ich brüll die Brachiale! ich blas die Marschmusik der Weltarmee – endlich wieder Krieg!« Der fette General sprang um, beugte sich mit den Händen auf die Knie und furzte den Zuschauern lauthals entgegen, diese schlossen ihre erstaunten Münder augenblicklich. Der verstimmte Pianist schwang um in eine fröhliche Marschmusik und die Damen hüpften im Kreis um ihren fetten Führer. »Gegenwind, Gegenwind, Dada bläst zum Gegenwind!« Kollwitz‘ gewohnt trantütiger Gesichtsausdruck wich einer offenen Neutralität. Für einige andere war die Schmerzensgrenze überschritten. Die ersten Gäste erhoben sich nervös von Ihren Sitzen, tasteten sich ab, dass sie auch ja nichts vergaßen, postulierten ihre Unlust über das Dargebotene mit faustigem Handwurf und verließen die Sitzreihen in tapsiger Hektik. »Ihr!«, tobte der fette General sie an und zielte mit seinem zittrigen Zeigefinger auf die Flüchtlinge. »Küsst die Fresse!«, raunte er. »So feucht wie ihr nur könnt!« Die Flüchtlinge erstarrten. »Oder die Fresse küsst euch! So nass wie sie es nur will!« Und er zog sich mit seinem zittrigen Zeigefinger die labbrigen Hautsäcke unter seinen Augenringen herunter, aus seinem fetten Gesicht baumelten die Doggenbacken und schlabberten vor Zorn. Einige setzten sich wieder hin, gehorchten dem, was der General befahl, andere nutzen die Schatten der Flure und schwiegen sich davon, andere konterten mit verschränkten Armen und bestanden auf ihrem Standpunkt als sei es der Prüfstein ihrer Männlichkeit. »Sie! ausgerechnet Sie!«, schimpfte ein Überzeugter. »Sie haben wir nach dem Krieg gebraucht! Einen Verräter! So dankt ihr es meinem gefallenen Sohn? So dankt ihr es dem Land, der Erde, den Familien für die er fiel? Damit verschwendet ihr eure Zeit? Damit dankt ihr es den Opfern dieses Desasters? Mit Witzen?« Alle schienen aufgeregt, jeder schien etwas loswerden zu