Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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Mutter«, sagte Hans. »Ja. Alles in bester Ordnung. Es ist ein Junge. Wir haben uns entschlossen ihn Peter zu nennen.« »Wieso denn Peter?«, fragte Kollwitz verblüfft und rang weiter um Luft. Ihren Peter, als solle er durch den Namen wieder auferstehen. Ihren Peter, als gäbe es zwei der Sorte, wenn man nur so tat als ob. Sie riss sich zusammen und beruhigte ihren Atem. Hans stand auf, legte ihr den neuen Peter in die Arme und sie betrachtete das kleine Neuleben: Ein Köpfchen wie eine eingewachsene Kartoffel, die Händchen nicht größer als Erdnüsse und auch geistig glich sein Hirnchen noch mehr einer Tomate als dem eines Menschleins. Doch so langsam schienen seine Sinne zu erwachen: Es nahm Geräusche wahr, Lärm, das sah man an seiner verzerrten Augenpartie. Es roch, Gestank, das merkte man an dem Hochziehen seines Näschens. Licht drang ihm durch die Augenschlitze, Grelle, sein aufgerissenes Mündchen war Indiz genug um Beweis zu sein. Nach kurzer Weile pegelte sich der Lärm herunter und wurde ihm differenzierbar, der Gestank wich Düften und formte sich zu einem Eindruck, das Bild schärfte sich und es sah einem alten, unscharfen, skeptischen Wesen ins Gesicht. Kollwitz blickte mit erhobener Augenbraue zurück. Die gleiche Geschichte von vorn. Das Kleinkind lernt laufen, dann sprechen, entfernt sich, verfolgt eigene Ziele und, wer weiß, zieht eines Tages aus einer Fantasie heraus in den nächsten Krieg und stirbt zu früh. Aus irgendeiner noch kindlichen Stolperei im Geiste. Einer Zuckung. Doch als Karl seinen Arm um sie legte und sie gemeinsam auf das kleine Peterchen sahen und die Erinnerungen an ihren Ersten damals zurückkamen, spürte sie, wie der Frost an ihren Nerven abschmolz. Dann ging Karl zu seinem Sohn, umarmte ihn, klopfte ihm voller platzendem Vaterstolz auf die Schulter und stellte sich gerade vor ihn hin, um ihm wiedermal eine seiner Weisheiten aufzusagen: »Mein Sohn!«, begann er, wie sooft. »Wieviel höher ist es doch, welche Medaille wiegt reineres Gold, als wenn ein General dich ›Offizier‹, als wenn ein Dekan dich ›Doktor‹, als wenn ein Historiker dich ›Vorreiter‹ nennt? Das ist, wenn ein Kind dich ›Papa‹ heißt. Welch größeren Orden, welch frischeren Lorbeer, welch renommierteren Preis willst du gewinnen, als das ›Schatz‹ deiner Frau? Keine Ehrennadel, keine Urkunde, kein Ansehen gibt es ernster zu erringen, als dieses lächerlich romantische Verdienst. Nicht der Soldatentod, nein, nicht der Helden- oder Märtyrertod belegt einen Mann mit Ehre – sondern der Alterstod, der Krankenhaustod, der Unfalltod, der ungewollte. Kämpfen um das Leben, nicht das Überleben. Das ist nun dein Pfad als Vater. Sei deinem Sohn Vater, so wie ich dir einer war. Und …« »Ja, Vater, ist gut«, unterbrach ihn Hans. Otty war aufgewacht, begrüßte Kollwitz und streckte schläfrig die Hände nach ihrem Baby aus. »Nichts bremst die Mutterliebe«, kommentierte Karl zufrieden und stemmte die Arme in die Hüften. »Was weiß ein Mann schon von Liebe? Nichts.« Kollwitz gab ihr ihr Kind zurück. Als sie sie mit ihrem Kleinen auf der Brust sah, kam sie nicht umhin ihre Sorgen zu hinterfragen. War da nicht doch noch Freude? Ein Neugeborenes kann nichts, außer eines; aber das mit despotischer Macht: Es beseitigt alle Zweifel mit nichts weiter als einem rührenden Gähnen und einem zarten Fieps. Einfach so. Weil es noch nichts erlebt hat, weil da noch keine Meinung in ihm war. War da kein Anfang? War da nicht Leben? Ein erneutes Rascheln im Unterholz eines verbrannten Waldes? Lange hatten sie auf seine Geburt gewartet, nun lag er da, mit wissbegierigen Augen, Laute von sich gebend, die Fäustchen geballt wie ein Herakles, der zwei Nattern würgt. Der zweite Peter in einer kaputt gegangenen Welt. Da, um sie wieder ganz zu machen. O, mein kleines Peterchen, dachte sie. Ein glückliches und langes Leben sollst du haben, bei all meiner Hoffnung gegen all meine Erfahrung. Sei deiner froh und hüpfe los, in jeder Hand ein Glück, oder zwei. Als sie Otty und ihr Peterchen so ansah, war es ihr, als entdeckte sie in ihnen etwas von sich selbst, etwas, das vor sehr langer Zeit einmal dagewesen war; und als das Peterchen zurücksah, rülpste es zum ersten Mal und kotzte den letzten Rest Gebärmuttersaft über Ottys Schürze. Man lachte. Ein neues Element der Familie, ein ungesägtes Puzzleteil, ein kleiner Fisch, der leuchtet, in einem dunklen, unterirdischen Ozean.

      X

      Grosz flanierte durch die Straßen, es war Nacht geworden, um den Kopf freizumachen, wie einen Brief. Er ging auf einen Aquavit in eine Bierhalle, kam erfrischt, da es vier geworden waren, zurück und brachte dem Bettlerkrüppel vor der Eingangstür eine Flasche Bier mit nach draußen. Heute war der Abend spendabel, das könnte morgen wieder anders sein. Es begann wieder zu regnen. Er setzte sich unter eine vergessene Marquise, ließ die Welt in sich hinein, zwickte ein batteriebetriebenes Glühlämpchen auf dem Schirm seiner Schiebermütze fest, wie einst van Gogh seine Nachtportraits zu malen wusste, mit Kerzen auf seinem Hut – und zeichnete ein wenig, vergaß die Zeit.

      Als der Himmel allmählich wieder aufzog beschloss er seinem Freund Wieland Herzfelde einen Besuch im Verlag abzustatten. Der Balldada von letzter Nacht, der immer arbeitete. Ein kleiner Besuch, um etwas zu plaudern, auch etwas Ehrliches zu trinken und vielleicht auch um etwas zu planen. Ein langer Weg, immer geradeaus, sein Kopf viel ihm in den Nacken. Keine Leuchte brannte über den Straßen, die Elektrizitätswerke streikten wiedermal und die Lichtkugel über der Stadt war ausgeknipst, auch die an der Schiebermütze. Der Sternenhimmel rauschte klar, warf silbernen Schimmer über den absonnigen Erdteil und perlte auf den nassen Pflastersteinen zurück. Er schaute nach oben hinaus, in das Lichtorchester der Nacht, dem Universum ins Gesicht. Gigantisch glotzte es in ihn zurück. Er machte Sternbilder aus und fragte sich, wie viele Jahre wohl schon zwischen ihnen lägen, den Sternen und den Erdlingen. Dieses rege Treiben in hiesigen Straßen und das ewige Glühen dort oben. Dieses ewige Nichts, diese unendliche Fülle. Alles leer und voll zugleich. Nichts hat eine Eigenschaft, denn es ist alle Eigenschaften. Es lohnt sich kein Gedanke daran, denn es ist alle Gedanken. Umhergeschleuderte Sonnen und ihre abgebrochenen Monde flogen in die Ewigkeit einer Kettenreaktion unbekannter Unbekannte um sich herum. Genauso wie hier unten. Dort, wo das Selbst ist und bleiben muss, die Kreatur, das Eine in Allem, ist etwas, eines, aber mehr auch nicht. Man wird es vielleicht eines Tages ermessen können, aber niemals erraten. Das Ereignis der wahren Natur ist für die menschliche Wahrnehmung zu langsam, oder zu schnell, um es zu verstehen. Und aus der Not dessen, aus dem Bedürfnis mehr zu sein als nur das Eine aus einem Zufall im All, aus dieser Not töpferten sich einst die Menschen ihre Götter zusammen. Und dann hatte man den Salat. Sie gaben viele Fragen auf, aber niemals Antworten, diese Sterne und diese Wunder. Er blieb stehen, mit beiden Beinen auf dem Boden gravitiert, in Ort und Zeit versetzt, in unendlicher Umrundung aus unerfindlichen Gründen auf den Planeten geklebt. Die Welt, nur ein Ort, das Leben, nur eine Zeit. Was bleibt einem schon übrig, als weiter zu ziehen, sich vorwärts zu tasten, auf- und unterzugehen wie die Sternenbilder. In solchen Momenten, wo der Nachthimmel rund und das Herz weit wird, fühlt sich der Mensch, fern ab jeder Beschreibung, inmitten der Absurdität des Seins.

      Er schlenderte weiter, mit dem Hirn im Äther und Sternen in den Augen, dann bekam er einen Stoß vor die Brust und landete in der Realität. Ein Laternenmast hatte ihn gebremst, gut getarnt im finsteren Nachtschatten. Das perfekte Relief für einen notorischen Tollpatsch wie ihn. Die aktiven Ratten quiekten einen unerhört lauten Nachtgesang, die Hunde waren knurrend auf der Jagd nach fetten Leckerbissen und rasselten an Grosz‘ Beinen vorbei. Der Planet machte ihn mit akuter Physik wieder auf sich aufmerksam, seine Gravität war ihm sein beständiges Werkzeug. Da war er wieder, umging die Nicht-Leuchte und nahm seinen Weg auf.

      Oben im Dachgeschoss brannten noch Kerzen, echte Kerzen, in einer vergleichsweise winzigen Mansarde. Er ging das Treppenhaus hinauf, stolperte einmal. In den Wohnungen löschte man die Öfen, darum roch es in den Fluren nach kalter Kohle. Oben angekommen öffnete er die Tür mit der Aufschrift über dem Klingelknopf: »Malik-Verlag. Jedermann sein eigener Fußball.« Darüber das Firmenemblem, das er vor einer Weile entworfen hatte, eine etwas dadaistisch anmutende Buchstabenkonstellation, ins Abstrakte abgleitend. Auf keinen Fall aber abstrakt!

      Herzfelde saß an seinem Schreibtisch und sortierte vollgekritzelte Korrekturfahnen. Texte, Essays, Gedichte, Zeichnungen, Collagen, alles, was man zu Papier bringen konnte. Das bimmeln des Glöckchens schien ihn nicht aus seinem Fokus zu lösen. Der Raum war wie ein großes Wohnzimmer eingerichtet, oder wie eine Lobby eines guten Hotels. Sofas standen in der Mitte um einen Tisch herum auf einem blau-rot-weißen Stickteppich, Wände gab es nicht, nur volle Bücherregale, viele Hefte. An der Rückseite führten zwei lange Stufen zu einer Anhöhe, auf dem ein Schreibtisch stand an dem Wieland saß und sich in Papier vergrub.

      »N’Abend Wiz«, sagte Grosz und schloss die Tür hinter sich,