Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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Abend gestern, Herr Balldada.«

      »Ein Schritt in die richtige Richtung. Setz dich, mach es dir bequem, arbeite ein wenig. Ich muss hier noch ein paar Dinge redigieren.« Seine konzentrierten Augäpfel rollten in konzentrischen Kreisen über seine Papierstapel. Er blätterte, faltete, beschrieb und war ganz und gar in Buchstaben vertieft. Grosz ließ sich also auf sein Lieblingssofa in seine angestammte Sitzkuhle fallen, zog einen Stift aus seinem Gürtel, nahm sich einen Block vom Couchtisch und kritzelte, wie er es in letzter Zeit immer öfter tat, locker aus der Hose heraus und einfach drauf los. Das Kratzen seiner Mine auf dem Papier war neben dem Rascheln von Herzfelde das einzige Geräusch im Laden. Der Stift zog laute Striche in regelmäßiger Abfolge wie Klopfzeichen. Lang, kurz, kurz; kurz, lang; lang, kurz, kurz; kurz, lang. Plötzlich guckte Herzfelde aus seinem Blättergewühl auf wie ein Erdmännchen.

      »Dada«, sagte er und Grosz blickte ebenso fragend auf.

      »Hast du was gesagt?«

      »Dada. Lang, kurz, kurz; kurz, lang; lang, kurz, kurz; kurz, lang. Das sind Morsezeichen. Und sie bedeuten D-A-D-A. Dada. Du weißt, ich war Funker, ich höre so etwas. Machst du das mit Absicht?«

      »Ich verstehe kein Morsisch.«

      »An was arbeitest du?«

      Grosz nahm seinen Entwurf hoch der genauso gut als Endpräsentation hätte dienen können.

      »Ich porträtiere dich, Wiz«, sagte Grosz. »Ich zeichne einen Privatverleger, der mit Leibeskräften versucht auf das Großkapital zu kacken. Hier in der Hocke – das bist du.«

      »Und was ist das da unter mir?«

      »Das ist der Papst.«

      »Aha. Und das da?«

      »Das ist Hindenburg. Und das da, das soll Martin Luther sein.«

      »Luther, aha, warum nicht.«

      »Ich glaube, ich nenne es den ›Heiligen Stuhl‹.«

      Herzfelde neigte den Kopf und zog seine leichten Stirnfältchen grüblerisch gegeneinander.

      »Klingt gut«, resultierte er, beendete die Bedenkzeit und machte sich weiter an seinen Korrekturfahnen zu schaffen. Lang, kurz, kurz; kurz, lang; lang, kurz, kurz; kurz, lang.

      Auf einmal stand er auf, klopfte einen Stapel zusammen, schlug ihn kantwärts zweimal auf die Tischplatte und legte ihn auf einen weiteren Stapel.

      »George, komm her, sieh dir das an.«

      Grosz legte sein Zeichenzeug beiseite, ging die zwei Stufen hinauf, trat an den Schreibtisch und sah eine anarchische Zusammenstellung von Schriftwerk, einige seiner Bilder, jede Menge ausgefüllte Notizzettel, welche des Öfteren schon zerknüllt und wieder aufgefaltet waren.

      »Was soll ich sehen?«, fragte er. »Sieht nach Chaos aus.«

      »Chaos ist der Ursprung aller Hierarchie«, postulierte Herzfelde. »Information, George, Information. Zuerst die Funktion, dann die Form, dann die Kunst, dann die Ordnung – Information.«

      »Ich sehe Eselsohren und Kaffeeflecken.«

      »Noch.«

      »Die Überschriften«, kommentierte Grosz. »Die sind mir auf den ersten Blick zu kompliziert, zu lang.«

      Herzfelde griff sich an die Hosenträger und schüttelte den Kopf. »Es sind Zungenbrecher, George, der Leser soll stolpern und sich aufrichten müssen um den Inhalt zu verstehen.«

      »Das fängt nicht alle Leser«, wandte Grosz ein.

      »Ja, aber die Guten.« Herzfelde wuselte sich im Haar herum. »Falls du es noch nicht gemerkt hast, George, unser Verlag arbeitet orientiert. Wir sprechen nicht jeden an, denn wir dulden nicht jeden. Zum Beispiel sind Analphabeten keine Zielgruppe, ebenso wenig wie Nationalisten oder Fabrikantensöhne. Wir sind kompliziert. Man muss die Gabe des Sarkasmus besitzen. Erst wer Sarkasmus versteht, kapiert überhaupt irgendetwas. Wer kein Sarkast ist, versteht überhaupt nichts. Für den hat dieses Blatt auch keinen Wert.«

      »Gegen Sarkasmus habe ich gar nichts«, sagte Grosz überrascht von der ausgiebigen Antwort.

      »Du bist Maler, George. Das sind Worte.«

      »Worte.«

      »Na also.« Herzfelde kramte in einem Stapel herum und zog ein paar Seiten heraus. »Nur wer einen starken Magen hat und nahrhafte Kost verträgt, kann unser Leser sein. Eine Probe von etwas Kontemporärem?«

      »Dann lass hören«, sagte Grosz.

      Herzfelde hob die Blätter vor sich hin und begann mit seiner spontanen Lesung:

      »Der Titel lautet: ›Ein jeder ist dem Nächsten Gegner.‹ Es beginnt mit einer Aufzählung, starke Nomen, starke Wirkung, also: Platten lochen, Ösen stampfen, Schrauben schrauben, Nieten schweißen, schwitzen, stinken, Eisen aus Schmelztiegeln schöpfen und in Schalung gießen, Teile durch die Fabrikhalle schleppen und auf den Lagerhaufen schmeißen. Die Produktion spieh giftige Rauchfontänen und sprühte Funken auf die Häute. Aus den Öfen hörte man die Felsen knacken, zischende, silberne Lava floss aus ihnen heraus und wurde zu Eisenstangen oder Stahlträgern verarbeitet. Die Dämpfe fraßen sich in den Sauerstoff. Maloche im Moloch, der reinste Dreck. Schlecht bezahlt, aber bezahlt. Verstehst du, George? Soll ich weiterlesen?«

      »Lies weiter.«

      »Die Gewerkschaftsbrüder waren Argwohn gewohnt. Jeder Tag glich dem anderen, die Schichten waren lang, die Nächte waren kurz. Die Halle war in zwei Welten aufgeteilt. Unten, in der Maschinenwelt, da arbeitete der Fabrikarbeiter an den Feuerspuckern und zählte die Stunden. Oben, in der Papierwelt, dort saß der Papiermacher und zählte Rohstoffein- und Warenausgänge und verrechnete sein Werk in seinem Tabellarium. Und unten, dort schob der Fabrikarbeiter Panzer in die Schmelzöfen und verbrannte sich die Haut. Immer die gleiche, kreuzverschleißende Bewegung, Tag ein, Tag aus. In seiner Routine zu Träumen gebracht, sah der Fabrikarbeiter nach oben und stellte sich die Frage des Geldes, welche ihm mit der Frage des Glücks gleichbedeutend war. Wo liege all das Geld, von dem jede Woche ein wenig in einen Briefumschlag gesteckt und ihm anlässlich seines Überlebens in die Hand gedrückt wurde? Wo flossen die großen, reißenden Ströme? Er selbst saß nur an einem Ausläufer, einer versiegenden Quelle vielleicht. Der breite Fluss, er sprudelte weit von ihm entfernt an ihm vorbei. Er mündete in größere Flüsse, trennte Landschaften und tat sich wohl irgendwann auf in ein Meer. Ein Meer aus Gold. Wo war dieses Meer? Wer wohnte an seiner Küste? Wer sah dort jeden Abend die Sonne am Horizont untergehen, ein Ozean voller Silberglanz, der Himmel voll von warmem Buddha-Gelb und Geld soweit das Auge reicht. Wo schwamm all der Mammon herum? Für die Öfen, die Kräne, die Hallen, die Schiffe und ihn – die volatile Arbeitskraft?

      ›An die Arbeit!‹, schrie der Gewerkschaftsbruder neben ihm und lud ihm eine abgenutzte Stangenschalung auf sein Kreuz. ›Ab dafür!‹

      Die Knie des Fabrikarbeiters bogen sich unter den Kilos, wie ein beladenes Kamel schlurfte er mit langer Schnauze zum Abfalllager. Die Augen der Arbeiter waren müde und angelaufen. Jeder gähnte und ächzte, alle hofften auf den nächsten Streik. Nicht für mehr Lohn – nur für eine Pause von den Knochenmühlen. Der Fabrikarbeiter lud die Schalung auf dem Haufen ab und knackste seine Wirbelsäule zurecht. O, wo war ihm dieses Meer aus Gold? Ein kleines Meer inmitten eines Wüstenplaneten, ein volles Loch im Zentrum eines Pangäas, von wenigen Küstenbewohnern zu Privatgebiet erklärt und abgegrenzt hinter unsichtbaren Zäunen, die ganze Welt ausgesperrt und alle Arbeiter zu Insassen gemacht.«

      Grosz setzte sich auf den Tisch, nahm eine Zigarette aus Herzfeldes Packung und sah ihn skeptisch an.

      »Da kommst du gleich wieder mit der Kommunistenkeule, Wiz. Nachfühlbar erzählt mit bildlicher Sprache, aber es klingt ja doch nur das alte Lied der sozialistischen Revolution durch die Zeilen.«

      Herzfelde wedelte beschwichtigend mit der Hand.

      »Das war auch erst die Einleitung, George, der Geduldige weiß am Ende oft mehr.« Er nahm eine Streichholzschachtel aus der Tasche und warf sie Grosz zu. »Also«, sprach er.

      »So wie der Fabrikarbeiter zurück an seiner Maschine war zog er an den nächsten Hebeln und drehte an den Hähnen. Auf