Jasper Mendelsohn

Die freien Geisteskranken


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Vormittag, so fokussiert auf seine Arbeit. Sie wollte zu ihm hinübergehen, doch die durchsichtige, aber nicht durchbrechbare Glaswand vor der Warteschlange hielt sie ab. Eine geschlagene Stunde stand sie schon, oder mehr. Ein zu großes Opfer für ein kurzweiliges Kompliment.

      Der Künstler blickte wieder auf und begutachtete seine Vorlage. Er schien Kollwitz erkannt zu haben und grüßte sie mit offener Handfläche. Sie grüßte lächelnd zurück und wandte ihren Blick ab, wohl wissend die Glaswand nicht durchdringen zu können. Als sie vorsichtig zurückblinzelte bemerkte sie, wie der Künstler aufgestanden war und über die Straße kam.

      »Frau Kollwitz, es freut mich Sie zu treffen, ich habe Sie gestern bei der Messe gesehen, hat es Ihnen zugesagt?«, fragte Grosz.

      »Oh ja«, sagte Kollwitz erfreut darüber, ihr Kompliment doch noch loswerden zu können. »Das war mal was Neues. Komödie in Spiegelschrift will ich meinen. Die Arbeiten in der Ausstellung, die sind von Ihnen? Das Wintermärchen meine ich im Besonderen. Sie sind Maler?«

      »Ganz und gar«, sagte Grosz.

      »Nun, Herr …, wie spricht man Sie aus?«

      »Grosz. George Grosz.«

      »Herr Grosz, ein polnischer Name?«

      »Ein umgedichteter Name aus ›Groß‹. Damit er auch auf Englisch ausgesprochen werden kann. Zudem ist dies meine Kritik an den Gott-strafe-England-Parolen, wie sie hier und da gesungen werden und papageienartig durchkonjugiert werden. Dem will ich widersprechen. Ich bin international, müssen Sie wissen.«

      »Ihre Arbeiten sind scharf, wie mit einem Messer geschlitzt«, sagte sie und zeigte auf seine Mappe.

      »Die Schärfe ist wichtig – die Stumpfheit ist das Einzige, was wir derzeit im Überfluss besitzen. Es muss schmerzen wo es nicht kitzeln soll.«

      »Lassen Sie doch mal sehen, an was haben Sie gerade gearbeitet haben.«

      Grosz öffnete seinen Block und hielt das Bild vor sie hin wie einem Professor an der Kunstakademie. Ebenso analytisch öffnete sie ihre Augen und suchte nach Anzeichen von Fehlgriffen und Gesamteindrücken. Der Schlangenkorpus bewegte sich und schob sie ein paar Schritte weiter.

      »Sie haben tatsächlich die Wartenden gezeichnet, Herr Grosz, nichts übrig für Architektur?«

      »Nein«, sagte Grosz, »ich male Menschen. In ihnen sehe ich Landschaften und Gebäude genug.«

      »Natürlich«, sagte Kollwitz, »und was sehen Sie in diesen Landschaften und Gebäuden?«

      »In den Landschaften sehe ich ausgefallene Ernten, schlechte Witterung, karge Böden. Nicht mehr als magere Wintermonate und dürre Sommer. Die Gebäude sind großteils eingestürzt und unbewohnt.«

      Kollwitz nickte sachgemäß und nahm den Block in ihre Hände. Die Schlange schob sie wieder ein paar Schritte weiter. Sie blätterte durch.

      »Wie finden Sie die Farben?«, fragte Grosz.

      »Ach, Farben«, seufzte sie. »Dazu habe ich keine Meinung. Wo wurden Sie unterrichtet?«

      »Kunstakademie Dresden, Frau Kollwitz.«

      »Das sieht man, eine gute Schule. Die Hässlichkeit ist schön herausgearbeitet. Dieses ganze kubistische Allerlei drum herum geht mich ja nichts mehr an, aber ich mag Ihre Verve.«

      »Nun, der Bruch mit alter Sehgewohnheit ist des Fortschritts erster Fuß, Frau Kollwitz.«

      »Sie wollen etwas aussagen, Herr Grosz. Das gefällt mir an den jungen Künstlern.«

      Grosz lupfte die Schultern.

      »Ich kann nicht an den Kontrasten vorbeisehen, Frau Kollwitz, die Kanten sind zu scharf, Lab- und Trübsal lebt zu dicht nebeneinander, ihre Lethargie voreinander macht mir zu schaffen. Wenige Straßen hinter dem Hotel Adlon gehen Kleinkinder an erkaltetem Hunger zu Grunde. Krüppel vergehen in den Seitengassen, oder betteln mit letzter Kraft an den Opernhäusern. Reiche Bonzen gehen an ihnen vorbei hinein, Kriegsprofiteure und Altfürsten, besuchen sich im Schauspielhaus und die alten Wagner-Stücke rühren sie zu Wehmutstränen. Dann verlassen sie sensitiviert die prunkvollen Säle und stolpern blindlings über den leeren Becher des Bettlers vor der Türe. Sie frisieren ihre lockigen Pudel für Schönheitswettbewerbe fein und füttern sie mit Meeresfrüchten, während vor ihren sauberen Fenstern Obdachlose in Mülltonnen nach Resten zehren und sich mit den Straßenkötern ihre Reviere teilen. Ich kann nicht daran vorbeisehen. Wie könnte ich je. Immer, wenn ich meinen Kopf verliere, suche ich in meinen Zeichnungen, und dort finde ich ihn dann. Es ist ein lächerlicher Untergang. Mit brutalem Drama zum Mitsehen zwingen, mit gewaltigem Für- und Widergeschrei zum Mitmachen bewegen, das sehe ich als meine Aufgabe an. Meine überzogenen Linien sprechen die Menschen an, weil sie provozieren, nicht weil sie schön sind, weil sie echt sind, nichts für die Kunstsammler. Und Dada ist die zweite meiner Möglichkeiten. So klein, wie uns die Presse schreibt, können wir nicht sein, wenn sie immer wieder von uns schreibt. Jeder weiß es, keiner will hinsehen. Was wir machen und was ich zeichne beschreibt den lächerlichen Untergang in dem wir uns befinden. Aus einem hässlichen Witz entstanden.«

      »Sie sind ganz der düstere Romantiker,« sagte Kollwitz anerkennend. »Sie spielen auf ein Leben an das vor Ihnen liegt. Ich blicke auf eines zurück. Das unterscheidet uns.«

      Die Schlange schob sie auf die erste Stufe der Eingangstreppe. Nun stand sie auf einem Podest vor dem jungen Künstler. Eine Künstlerin mit geachtetem Namen, Aufträgen von hohen und guten Ämtern und gutgemeinten Vereinen. Diese Reputation musste sich der Modernist erst noch erwerben. Seine Meinung schrie, ihre Meinung zählte. »Sie sitzen einem Meisterwerk auf, Herr Grosz«, sagte sie, »Sie werden es schon noch malen.« Der Jungkünstler nickte dankend. Und bevor die peinliche Situation der Zertrennung durch die Warteschlange entstand, hob Grosz seine Schiebermütze und verabschiedete sich formgemäß, einem plauderfreudigen Amerikaner gleich, oder das, was man sich darunter vorstellte. Kollwitz sah ihm nach, an ihre Jugend und saftigen Vorstellungskräfte erinnert, an Peter erinnert, wie er sich mit einem überzeugten Lachen in die Schlacht verabschiedete, einem hässlichen Witz aufsitzend, dem lächerlichen Untergang entgegenrennend, wie Grosz das alles nannte. Wäre Peter heute auch so gewesen wie dieser Grosz? Wenn er überlebt hätte wie er? Enthusiastisch und aufklärerisch? Ganz bestimmt. Wie aus einem Guss, das wäre er. Einer, der nicht nach dem Weg fragt, weil er ihn einfach geht. Einer, der sich nicht von Trampelpfaden oder Landstraßen leiten lässt, einer, der über Felder und durch Wälder stapft und nicht weniger von der Welt will als alles. Einer, der weiß, dass die Erde eine Kugel ist. Ganz bestimmt. Das war er und das wäre er geworden. Ein Pionier seiner selbst. O, Peter. »Karte!«, schnauzte die dicke Dame hinter der kargen Auslage. Kollwitz war an der Reihe, ihr Kopf schwebte noch in wölkischen Tagträumen. Die dicke Dame gnatzte. »Was schaunse denn so blöde wie so ne Schnorrer in de Blechbuchse? Karte jetze oder Nächster!« Kollwitz reichte ihr die Karte. »Wasserjemüse is heut aus«, sagte die dicke Dame, packte ein paar Kartoffeln zu wenig und einen halben Laib Brot in ein Netz und knallte es ans andere Ende der Auslage zur Abholung. »Nächster!« Kollwitz nahm das Netz und verabschiedete sich von niemandem, den es interessierte.

      Nachdem sie mit langer Miene und außer Atem nach Hause gekommen war, sie die ewigen Stufen zu ihrer Mansarde erklommen und das klägliche Mahl auf die Anrichte der Küche geworfen hatte, rief sie nach Karl. Er saß nicht wie gewöhnlich vor dem Fenster. Auch in seinem Arbeitszimmer war er nicht. Auf dem Esstisch fand sie schließlich einen Zettel, auf dem stand: »Matuschchen. Konnten nicht warten. Die Eröffnungswehen haben eingesetzt und weisen Abstände von unter sieben Minuten auf. Der Muttermund ist geöffnet. Komm schnell, sobald du das hier liest!«

      Typisch Arzt, dachte sie. Genauste Beschreibung der Vorgänge, aber keine Krankenhausadresse. Vermutlich hatte er Hans und Otty an seinen eigenen Arbeitsplatz gebracht, also machte sie sich auf den Weg, die ewigen Stufen wieder hinunter, am vergessenen Krieger, dem Spreeufer, an den Hehlern, den Gasriechern und der Warteschlange vorbei.

      Als sie ankam und das Kindbettzimmer betrat, lag da Otty und schlief. Dahinter stand Karl und schaute zum Fenster hinaus, mit den Händen in den Hosentaschen. Am Bettrand saß Hans und hielt den Neugeborenen vor seinem Bauch, welcher seine Arme wie Fühler umhertastete und leise durch winzige Nüstern