Wolfgang Pfeifenschneider

Morgen werde ich verkauft


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– mit gerade einmal drei Jahren – kamen wir Pfeifenschneider-Zwillinge in den Kindergarten von Altenessen. Die damals ungeheuer schlechte Luft inmitten des Ruhrgebiets (bei uns hieß die westfälische Industrieregion nur „Pütt“) machte uns schwer zu schaffen. Wir hatten Asthma. Die Anfälle wurden immer häufiger. Unser Hausarzt empfahl den Eltern, für uns eine Kur an der Nordsee zu beantragen. Dem Antrag wurde stattgegeben und wir durften für vier Wochen auf die Nordseeinsel Norderney. Von Norddeich fuhren wir mit der Fähre zur Insel hinüber. Ganz nahe am Strand war das Kurheim. Es war eine schöne Zeit für uns. Wir spielten im Meerwasser und am Strand, was uns – wie man auf dem Bild unten bestimmt gut sieht - tüchtig Spaß machte.

      Bei schlechtem Wetter gingen die Schwestern vom Kurheim mit uns in den Ort. Sie zeigten uns die Sehenswürdigkeiten der Insel.

      Ich weiß noch, es gab es einen Keller mit Spinden in denen wir unsere Schuhe, Jacken und Mützen deponierten. Zum Schuhe putzen gab es eine blaue Schürze, die die Kleidung schonen sollte. Kurz vor der Rückfahrt nach Altenessen ging es noch einmal in den Ort – wir durften doch noch Geschenke für die Eltern kaufen. Joachim fand einen Fischerkopf mit Maßband, ich ein Muschelkästchen und ein kleines Segelboot – auf dem Segel stand „Norderney“.

      In der Grundschule

      Im April 1937 wurden Joachim und ich eingeschult (Foto).

       Unsere erste Schule war die Altenessener Karlschule an der Badeanstalt. Unser Rektor war Herr Sträter, der mit uns eine Klassenfahrt nach Xanten und Wesel an den Niederrhein unternahm. Dort gab es ein Denkmal der elf Schillschen Offiziere und die Zitadelle.

      Nach zwei Jahren wurden wir in die Bahnhofschule umgeschult. Warum, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich erinnere mich noch an unseren damaligen Klassenlehrer, Herrn Pentzin. Zu seinem Namenstag Peter & Paul holten wir uns vom Hausmeister den Schlüssel für den Klassenraum. Mit großem Eifer schmückten wir sein Katheder (Stehpult, Anm. d. Red.).

      Begegnung mit einem Tennis-Star

      Eine andere kleine Geschichte ist mir auch noch in Erinnerung geblieben: Es muss im Jahr 1938 gewesen sein, in der Adventszeit. Ich sollte noch Gehacktes vom Metzger holen, machte aber erst einen Umweg zu einem Spielzeuggeschäft mit einem besonders schön geschmückten Schaufenster. Beim Überqueren der Straße – ich war schon auf der Fußgängerinsel in der Mitte – kam von links ein Auto und fuhr mir über den rechten Fuß. Neben der Fußgängerinsel war ein beschrankter Bahnübergang. Die eine Hälfte war bereits geschlossen, sodass der Wagen praktisch Slalom fuhr, was er ja eigentlich nicht durfte. Irgendwelche Passanten kümmerten sich um mich und wollten mir helfen. Aber zu dem Zeitpunkt tat mir überhaupt nichts weh – eher drückte mich mein schlechtes Gewissen. Darum ging ich flott zum Metzger, um meinen Einkauf zu erledigen. Dort angekommen plagten mich aber nun doch schon leichte Schmerzen und ich war etwas durcheinander, denn ich verlangte nur ein Achtel Gehacktes, was die Verkäuferin sehr verblüffte. Auf dem Nachhauseweg – es war nicht weit – bekam ich fürchterliche Schmerzen und weinte jämmerlich. Mutter hatte mich wohl schon weitem gehört, denn sie kam mir entgegen und sah sofort, dass ich am besten ins Krankenhaus eingeliefert werden sollte. Ich kam ins Marienhospital. Der Stiefel musste aufgeschnitten werden - und der Fuß wurde geröntgt. Die Röntgenaufnahme zeigte, dass Mittelfußknochen gebrochen waren. Ein paar Tage wurde der Fuß gekühlt, damit die Schwellung zurückgehen konnte. Erst danach wurde er eingegipst. Im Krankenhaus bekam ich Besuch von unserer Klassenlehrerin Frl. Kolb und ein paar Mitschülern. Dieses Fräulein Kolb war auch unsere Religionslehrerin. Ich weiß noch wie heute, dass wir bei ihr ein Lied lernen mussten. Es hieß „Wie mit grimmigem Unverstand“ und es stand im Anhang des Gesangbuches 39. Auf meinen Gipsverband haben die Mitschüler und auch meine Lehrerin ihre Namen geschrieben. Ich war ganz stolz!

      Einige Zeit später, ich war wieder zu Hause, kam eine Frau von der Polizei. Sie hatte Bauklötze, Autos und einen Block mitgebracht. Ich musste ihr erzählen, wie sich der Unfall zugetragen hatte und sie stellte mit den Bauklötzen den Unfallhergang nach.

       Einige Wochen später besuchte mich ein freundlicher Herr und brachte mir einen großen Kasten Katzenzungen – zur damaligen Zeit eine absolute Besonderheit – mit. Es war Tennis-Baron Gottfried von Cramm (Foto unten), der zweimalige Wimbledon-Finalist, wie ich jedoch erst später erfuhr. Ich vermute im Nachhinein, dass er mir über den Fuß gefahren war.

      Unbeschwerte Tage in Berlin

      Im Sommer 1939 – die Sommerferien hatten gerade begonnen – da fuhr Mutter mit uns nach Berlin zu ihren Eltern. Wir fuhren immer nachts im Eisenbahnabteil „Mutter und Kind“ und hatten dadurch den kleinen Raum ganz für uns alleine. Wir spielten Karten und andere Spiele. Zwischendurch schliefen wir auch. Auf den großen Bahnhöfen war es laut und hell, da wurden wir wieder wach. Am frühen Morgen, wenn es hell wurde, war es für uns Kinder besonders interessant zu sehen, wie die Leute mit ihren Fahrrädern oder zu Fuß an den Bahnschranken warteten. Wenn es uns allzu langweilig wurde, haben wir die Telegraphenmasten gezählt. Die Fahrt dauerte neun Stunden. Wir kamen am Bahnhof Zoo an und stiegen um in die S-Bahn nach Steglitz-Feuerbachstraße. Von da war es nicht weit bis zu unseren Großeltern in die Lauenburger Straße. Wir mussten über eine große Brücke, unten durch fuhren die Schnellzüge, Ring- und S-Bahnen. Diese Brücke war immer einer unserer Lieblingsplätze, denn da konnte man lange verweilen, denn es gab immer etwas zu sehen.

      Die Großeltern wohnten in der dritten Etage (der Berliner sagt vermutlich heute noch „3 Treppen hoch“). Die Wohnung war im Vorderhaus. Das Ganze war ein riesengroßer Wohnkomplex. Durch die Hintertür konnten wir aus dem einen Haus schlüpfen, den Hof überqueren, in ein anderes Haus hinein – so kürzten wir den Weg zur Poschinger Straße extrem ab. Die Portiersfrau, sie hieß Frau Struwe, fand das gar nicht so toll und ließ uns das auch oft merken.

      Für die „Alten Herrschaften“, unsere Großeltern, war es sehr beschwerlich, in den dritten Stock zu gelangen. Da wollte jeder Weg genau überlegt sein. Der Balkon der Großeltern war nach vorne zur Lauenburger Straße. Und sie wussten sich zu helfen: Oben vom Balkon wurde ein weißer Leinenbeutel mit passendem Geld heruntergelassen, der Bäckerjunge holte die Geldstücke heraus und legte die Brötchen hinein. Danach zogen wir den Beutel einfach wieder hoch.

       Wir genossen die Zeit bei unseren Großeltern mütterlicherseits sehr.

      Leider konnte Vater erst immer später nachkommen, denn er mochte ja die Fabrik nicht so lange alleine lassen. Bevor er kam, rief er im Nebenhaus bei dem Bäcker an, denn die Großeltern hatten noch kein eigenes Telefon. Hierfür meldete er sich über Voranmeldung an und ließ den Großeltern seine Ankunft mitteilen. Wenn Vater kam, war die Freude groß; wir holten ihn vom Bahnhof ab. In der kurzen Zeit, die er bei uns sein konnte, nahm er sich für „seine Jungens“ viel Zeit. Wir besuchten die Museen für Meereskunde und Verkehr und das Zeughaus. Auch ein Besuch im Zoo gehörte unbedingt dazu, wenn Vater kam.

      Wenn wir hungrig und durstig waren, gingen wir mit Vater einfach zu Aschinger, das war eine kleine Gaststätte um die Ecke. Da gab es Kinderbier, Limonade und andere Getränke aus Automaten. Und auf dem Tisch stand ein Korb mit Brötchen. Wir kamen aus dem Staunen gar nicht heraus, denn die kosteten nichts! Bemerkte der Ober, dass der Korb leer wurde, füllte er ihn einfach wieder auf. Meine Großeltern hatten 1931/32 ein kleines Mädchen in Pflege genommen. Die Eltern waren Juden und mussten auswandern. In Brasilien sollen sie eine Pelzfarm aufgebaut haben, während Erika (bis