Gesicht blieb regungslos. Vielleicht dachte er nach. Aber warum antwortete er nicht? »Es wird noch dauern«, sagte er dann mit abwesendem Blick.
Warum sprach es Violette nicht aus? Es drängte in ihr nach Befreiung, dieses Gefühl, von dem sie nicht genau wusste, woher es kam und weshalb sie es ausgerechnet in diesem Moment so stark verspürte. Mitleid mit diesem Mann, oder was es auch immer war!
»Bestimmt noch zwei bis drei Wochen«, ergänzte Mangold.
»Das ist sehr lange«, bemerkte Violette. Und dann sprach sie es aus: »Es ist sehr unangenehm, wie Frau Werenfels sich benimmt.«
Mangold zeigte keine besondere Reaktion. Aber was erwartete sie denn von ihm? Er konnte sich zurückhalten, schlucken, verdrängen, genau wie sie das selbst ebenfalls beherrschte. Da gab es momentan nichts, das er ihr hätte zeigen können.
»Es wird vorbeigehen«, bemerkte er nur und schaute sich uninteressiert um.
»Ich finde es auf jeden Fall ungerecht«, sprach Violette weiter und realisierte, dass sie damit eine Grenze überschritt, die bisher tabu gewesen war.
»Ja, ungerecht«, wiederholte er. »Kann sein.« Und dann fragte er etwas, das sie von ihm nie erwartete hätte, den Blick gesenkt: »Hätten Sie kurz Zeit, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?«
Violette blickte auf ihre Armbanduhr, ohne dabei die Zeit wahrzunehmen. Eine Verlegenheitsgeste, sekundenschnell und beiläufig, bevor sie leicht lächelnd meinte: »Das lässt sich machen, Herr Mangold.«
Der Buchhalter schlug ein Café vor, das ganz in der Nähe lag. Violette kannte es von außen, weil sie täglich daran vorbei ging. Damit war sie einverstanden.
Sie schritten nebeneinander her, schwiegen beide.
Hatte die Einladung mit dem Benehmen von Frau Werenfels zu tun? Wollte Mangold versuchen, sich Violette gegenüber zu rechtfertigen?
Sie betraten das Lokal. Der Buchhalter bemühte sich zuvorkommend um das Öffnen und Schließen der Eingangstür, hinter dem ein roter, steifer Vorhang aus plastifiziertem Material hing. Es gab einige kleine Tische in dem kleinen Raum, der gut geheizt war. Hellrote, schalenförmige Plastiklampen hingen von der getäfelten Decke herunter und verbreiteten ein gedämpftes Licht. Mangold half Violette aus dem Mantel, nahm ihn ihr ab und hängte ihn neben der Tür an einen Kleiderständer. Dann setzten sie sich an einen der Tische.
»Es ist gemütlich hier«, sagte Violette.
Mangold nickte und versuchte, flüchtig zu lächeln. Sie waren die einzigen Gäste. Eine ältere Dame kam an den Tisch, und sie bestellten zwei Tassen Kaffee.
»Es tut mir leid, wenn ich ihre Zeit beanspruche«, entschuldigte sich Mangold. »Aber als Sie mich vorhin bei der Bushaltestelle ansprachen – nun ja, da kam ich auf die Idee, dass ich ihnen meinen Standpunkt über die Vorfälle in den letzten Tagen mitteilen könnte. Das ist sonst ja nicht meine Art, dann noch außerhalb der Geschäftszeit, doch die momentanen Umstände zwingen mich fast dazu!« Er machte eine kurze Pause, schaute sich im Raum um. Es schien, als wollte er mit dem Weitersprechen warten, bis der Kaffee serviert war. Violette beobachtete die tiefliegenden, dunklen Augen hinter den Brillengläsern des Mannes, den sie bisher nur als wortkargen Mitarbeiter kannte. Und nun saß er ihr hier gegenüber, in diesem fast intim beleuchteten Café. Er wollte ihr seinen Standpunkt erklären. Also darum ging es ihm.
»Ich weiß nicht«, fuhr er fort, kaum standen die Kaffeetassen auf dem Tisch, »wie ich Sie am besten, nun ja – « Er zögerte. »Die Situation in der Firma ist im Moment nicht einfach für mich«, ergänzte er dann.
»Das kann ich mir vorstellen.« Violette versuchte, ihm mit einem besorgt schauenden Blick so etwas wie Halt zu geben. Sie wollte ihm Mut machen, ihn dazu auffordern, ihr alles zu sagen, was ihn in diesem Zusammenhang bedrückte. Warum das so war, wusste sie nicht. Vielleicht hatte sie das Gefühl, sich für das Benehmen von Frau Werenfels entschuldigen zu müssen, weil sie einfach tatenlos dagestanden hatte, heute Nachmittag, bei der Erniedrigung Mangolds.
»Ist Herr Werenfels darüber informiert, dass sich seine Frau auf diese Weise einmischt?«, wollte Violette wissen.
»Das denke ich nicht.« Mangold schien nachdenklich. Die schmalen Hände lagen links und rechts neben der Kaffeetasse, regungslos.
»Haben Sie denn keine Möglichkeit, mit dem Chef direkt zu sprechen?«, fragte sie weiter.
»Ich könnte ihn im Krankenhaus besuchen«, meinte Mangold.
»Tun Sie es doch«, forderte sie ihn auf, begriff aber sofort, dass das niemals gehen würde. Mangold konnte sich nicht hinter dem Rücken dieser Frau an ihren Mann wenden.
Die Tür ging auf und zwei junge Männer betraten das Lokal. Sie hatten kurz geschnittenes Haar und wirkten sportlich, was durch eine weiße Segeltuchtasche, die der eine lässig bei sich trug, noch unterstützt wurde. Violette bemerkte, wie der Buchhalter die beiden kritisch musterte, bevor er sich wieder ihr zuwandte und leise sagte: »Was wir hier zusammen reden, darf sonst niemand erfahren.«
Sie nickte und sagte: »Mich behandelt Frau Werenfels doch genauso.«
Mangold schaute sich kurz und unauffällig nach den beiden jungen Männern um, die, sich nicht gerade leise unterhaltend, weiter hinten an einem Tisch saßen. Es störte den Buchhalter offenbar, dass es nun noch andere Gäste im Lokal gab. Mangold nahm seine Brille ab und reinigte die Gläser sorgfältig mit einem kleinen, hellbraunen Tuch, das er einem länglichen Lederetui entnahm. Diese Handlung wirkte kontrolliert, als hätte er Angst, dabei zu viele Bewegungen zu machen. Kaum hatte er die Brille wieder auf der Nase, schaute er Violette direkt an.
»Wie gefällt es ihnen denn in der Firma«? fragte er, vermutlich weil ihm nichts besseres einfiel.
»Es ist schon in Ordnung«, antwortete sie, »und wird wieder besser werden, wenn Herr Werenfels zurück ist.«
»Es ist zu hoffen«, meinte er. »Sie müssen wissen, dass ich in all den Jahren sehr viel in diese Firma investiert haben, an Zeit und Arbeit.« Seine Gesichtszüge verhärteten sich, wie er dann fast flüsternd sagte: »Meine Frau habe ich dadurch verloren.«
»Das wusste ich nicht«, reagierte Violette. Aber sie schaffte es nicht, ihrem Gegenüber dabei ins Gesicht zu schauen.
»Nun ja«, fing Mangold an, »es ist etwas, über das ich nicht gerne spreche.« Und dann, als müsste er sich nochmals vergewissern: »Ich kann mich doch darauf verlassen, dass das, was ich ihnen nun erzählen werde, unter uns bleibt? Es darf in der Firma kein falsches Gerede geben.«
»Sie können mir vertrauen«, garantierte sie ihm.
»Sie wissen bestimmt, dass ich verheiratet gewesen bin. Aber meine Frau war nie damit einverstanden, dass ich für diese Weinhandlung tätig bin. Es war ihr zu wenig. Sie wollte sich nicht damit zufrieden geben, die Frau eines einfachen Buchhalters zu sein.«
»Aber die Weinhandlung ist doch – «
»Nein, das ist sie nicht«, unterbrach er sie, weil er ahnte oder gar wusste, was sie erwidern wollte. »Ich mache mir da nichts vor.«
»Warum haben Sie denn die Stelle nicht gewechselt? Sie hätten doch problemlos eine andere Anstellung bekommen.«
»Wegen einer Frau?«, fragte er, und seine Augen verloren ein wenig diesen ruhigen, fast gleichgültigen Ausdruck, mit dem er sie die ganze Zeit angeschaut hatte.
Violette wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
»Ich fühle mich aber auch so ganz wohl«, sagte er. »Das Alleinsein hat durchaus seine Vorteile.«
Violette lächelte.
»Sie leben doch auch allein«? Es war gleich eine Feststellung.
»Ja, ich lebe auch allein«, bestätigte sie.
»Hat das einen Grund?«, wollte er nun wissen.
Niemals hätte sie ihm zugetraut, dass er so direkt fragen konnte. Aber er tat es, und das ohne dabei seinen Blick