Norbert Johannes Prenner

Wie im wirklichen Leben


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Dann hat er Ouzo für alle gebracht und hat sich eine Zigarette gedreht. Könnte es sein, dass ich etwas falsch mache? Aber das habe ich alles schon irgendwann einmal gehört, denke ich – in einem anderen Zusammenhang etwa? Der romantische Individualismus wäre tot und so! Wirf diesen Ballast über Bord, Mensch! Einer wie du, der sich schon viel zu lange im Mittelpunkt seines eigenen Interesses aufhält, sollte in die Welt hinaus! Bin ich ja auch, Papa. Aber wie soll ich mich verwirklichen? Soeben steckt das Finanzamt mein Urlaubsgeld ein. Ich hätte im vergangenen Jahr zu viel verdient! Dass ich nicht lache. Nein, es ist eher zum Weinen. Diese Leute, die wir da immer wählen, und die angeblich so viel Verantwortung für uns übernehmen, stecken sich die Taschen voll und verschwinden einfach, nachdem sie uns per Gesetz das Geld abgenommen haben. Das war schon immer so, höre ich dich sagen. Du musst es ja wissen. Warst ja lange genug hier.

      Ach ja, und dieses Haus auf meiner Insel, in dem ich dann immer wohne, wenn ich hier bin, Papa, steht auf der höchsten Stelle, einer Art Landzunge. Es ist stark gebaut, beinah wie – wie eine Festung. Und es hat zwei Hurricans standgehalten. Ringsherum stehen eine Menge Palmen, ein wenig schief gewachsen, wegen des dauernden Westwindes. Wenn ich auf der Terrasse stehe, überblicke ich die Südseite der Insel, den weiten, weißen Strand. Nichts trübt meinen Blick. Nichts ist architektonisch künstlich hineingekleckert, so wie bei uns hier. Alles ist natürlich gewachsen. Niemand wagt es hier, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Die Häuser, die Wege, die steinernen Terrassen, auf denen der Wein wächst, alles macht optisch irgendwie Sinn. Wirkt nicht so polarisierend wie bei uns. Fünf Bauten nebeneinander. Fünf verschiedene Architekten. Fünf grauenhafte Konstruktionen. Und jeder darf seinen Mist in die Landschaft hineinknallen, wohin, und wie er will, und die Gesetzeslage ermöglicht es auch noch. Alles gefördert, versteht sich! Scheißegal, wie das aussieht. Hauptsache, es ist lukrativ. Und wenn nicht, wird der ganze Plunder an jemanden verkauft, der angeblich noch Geld hat, und die Sache läuft munter weiter. Die Kunst, in der sich diejenigen üben, denen wir unser Vertrauen geschenkt haben, hat immer schon darin bestanden, dem dummen Volk einen stinkenden Misthaufen als Rosenbeet zu verkaufen. Und wir haben ihnen auch noch vertraut. Sie haben uns bitter enttäuscht.

      Ich kann mich heute nicht entspannen, Papa. Andauernd denke ich an dich, was du zu all dem sagen würdest. Ja, ich weiß, du hast Schlimmeres erlebt, damals, an der Maginot-Linie. Übrigens, wenn ich so von meinem Hügel hinunter aufs Meer schaue und den weißen Sand sehe, da fällt mir ein, wie ich eines Morgens alleine schwimmen war. Ich bin nicht weit hinausgeschwommen, weil ich ziemlichen Respekt vor Haien habe. Die Sonne war schon etwa dreißig Grad hochgeklettert, als ich einen Blick nach unten werfe. Ein langer, dunkler Schatten. Ich hebe den Kopf, angespannt wie ein Drahtseil. Schaue wieder ins Wasser. Der Schatten folgt mir. Wohin ich auch schwimme. Durch die kabbelige See ist die Sicht etwas behindert. Ich schwimme wie verrückt, um ans Ufer zu gelangen. Atemlos und völlig erschöpft laufe ich die letzten Meter im seichten Wasser auf den sicheren Strand zu, falle hin, schaue zurück und suche das Wasser ab nach dem Furcht einflößenden Schatten. Nichts zu sehen, denn es war mein eigener gewesen! Was bin ich nur für ein Trottel, dachte ich.

      Was sagst du, Papa? Du warst nur selten mit mir im Strandbad. Und das mit dem Schwimmen, du weißt ja. Später, beim Frühstück, habe ich alles der alten Alina und dem Hafengjörgi erzählt. Was haben die gelacht! Und ich habe mitgelacht. Ach, was waren das für herrliche Tage! Ich wollte, du wärest hier. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie´s damals war, zu Hause, mit dir und Mama, den Schwestern. Ich habe noch den Schaum von Badedas in den Ohren, wenn ich daran denke, und meine nackten Füße laufen über grünes Linoleum. Mutter hat gerne immer das „e“ in Linoléum betont. In Nachbars Garage stand ein DS 19, mit hydropneumatischer Federung und unsere Haushaltsgeräte waren allesamt von BBC. Nur das Radio war von Philips. Im halb verdunkelten Wohnzimmer hast du Dietrich Fischer-Dieskau gelauscht, begleitet von Jörg Demus am Klavier. Die kennt kein Mensch heute mehr. Und ich habe noch deine Stimme im Ohr, wenn du uns vorm Schlafengehen aus dem Märchenbuch vorgelesen hast. Man sagt, Kindern, denen man Märchen vorenthält, wird die Hilfe zur Aufarbeitung unbewusster Spannungen in der Fantasie versagt. Dadurch könnten sie angeblich emotional gestört bleiben. Stimmt das? Was meinst du? Wenn ich so über uns als Familie nachdenke, haben wir eigentlich kaum Probleme gehabt. Ich habe dir bereits erzählt, wie´s anderswo derzeit so aussieht, mit den Jungen und so. Ich denke, wir haben uns natürlich auch alle am Materialismus orientiert. Vielleicht noch eine Nuance bescheidener.

      Aber bei uns hat es noch Geschichten gegeben, nicht war, Papa? Ich danke dir dafür. Ich fühle deine warmen Hände an den meinen, und wie du mich zugedeckt hast. Normalerweise lese ich beim Frühstück gerne Zeitung. Gottlob gibt es auf der Insel nur einmal pro Woche eine, und die ist von der vorigen. Ich höre erst darin zu lesen auf, wenn ich gesättigt bin von den Negativschlagzeilen und den Sommerlochirritationen. Dann wird mir die Kluft zwischen dem, was uns vorgegaukelt wird und der Wirklichkeit wieder bewusst. Wenn einem ständig vorgekaut wird, was man haben muss, kann man sich gut vorstellen, dass manche an der Tatsache, nicht dabei zu sein, ganz einfach scheitern. Plötzlich begreifen, dass man nicht hat, was andere längst haben. Zähneknirschend zur Kenntnis nehmen müssen, womit Eliten sich die Zeit vertreiben, wenn es im eigenen Bereich zum Nötigsten nicht reicht! Wo bloß falsche Versprechungen gemacht und keine Lösungen angeboten werden und die Raffgier und der Geiz zum Antrieb der Ökonomien verkommen sind, die sich im Spinnennetz der Korruption verfangen haben, tagaus tagein auf neue Beute wartend. Wo flotte Sprüche anstatt Sensibilität regieren. Dort ist der ideale Nährboden für das Entstehen einer maßlosen Wut. Kannst du das verstehen, Papa?

      Ach, Papa, immer, wenn ich auf meine Insel komme, mache ich eine Zeitreise. Es sind nicht nur die Häuser, die Pflastersteine, die engen Gassen, die kleine Kirche am Hügel, die mich alles vergessen lassen, was die andere Welt so grausam macht. Alles hier atmet eine Zeit des Friedens aus. Gerne gehe ich an der Ölmühle, den Weinkellern und Stallungen, die inmitten der Olivenhaine liegen und gesäumt sind von Orangen- und Zitronenbäumen, vorüber. Lasse sie vorbeiziehen, wie einen Film, in dem ich keine Rolle spiele, nur Beobachter bin. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert.

      Man hat den alten Stil ganz selbstverständlich beibehalten. Nichts gibt es, was das Auge stört. Alles grün, im Sommer vielleicht etwas brauner, von der Sonne ausgedörrt, aber sonst? Dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, gerade noch zu sehen. Ein Ort der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche. Ach, Papa, ich weiß, ich habe dir bereits davon berichtet. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé und, wie du ja schon weißt, man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne gleich betrunken zu sein. Erinnerst du dich, wie du mir immer erzählt hast, als du mit dem Dr. Scheuhammer in Klöch warst? Du hast vom Rotwein dort geschwärmt. Und dass ihr zusammen einmal ein Glas zu viel getrunken hattet. Der Doktor, mit seinem alten VW Kübelwagen, es hat geregnet und das Verdeck klemmte. Ich habe dich noch nie so triefnass heimkommen sehen wie damals. Mama war in Sorge. Sie war ja stets in Sorge um uns, um dich. Du hättest dir in den nassen Sachen den Tod holen können, hat sie gesagt. Aber du hast bloß gelacht. Ich kann dich gut verstehen.

      Dieses Brot hier, Papa! Irgendwie olivig, mit wenig Oregano, wie himmlisches Manna, wirklich! Auf meiner Insel ist eben alles anders. Zuhause besuche ich gerne den jüdischen Friedhof. Warst du jemals dort, Papa? Die Wege dort sind nicht asphaltiert, sondern mit Gras bewachsen. Ich gehe ganz vorsichtig. Meine Schritte sind nicht zu hören. Gelbe Blümchen wachsen auf den Wegen. Zwischen den Grabsteinen rankt sich Efeu, erklimmt die Grabsteine wie zum Schutz vor neugierigen Blicken und den Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Zauber der Erinnerung – verblasst. Unten, am Sockel eines Steines ist zu lesen: Hier ruht mein liebster Gatte, von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Ich muss dann immer tief Luft holen. Bleibe stehen. Der Zauber der Erinnerung, denke ich dann, heiliger Wehmut süßer Schauer, haben innig uns durchklungen, kühlen unsre Glut. Ist nicht von mir, Papa, Novalis! Langsam gehe ich dann weiter. Über mir im Minutentakt Flugzeuge. Komisch ist das, mit den Namen hier. Weg von den Josefs, den Karls und Franzen, den Pichlers, Schwarz und Krenns. Hier ruhen Jenni Goldschmidt, Sigmund Blau, Moses Grünbaum. Irgendwie – ich spüre eine Art Bruch. Es ist nicht wegen des Vorwissens. Die Gräber atmen etwas anderes aus, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es sind so viele Grabsteine, unglaublich. Ich denke, Sterben ist etwas Selbstverständliches, obwohl