Edgar Wallace

Der Mann von Marokko


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möglich, daß ich sie brauchte.«

      Der Beamte schaute sich entsetzt um.

      »Ihre – Ihre Streichhölzer?« stammelte er.

      »Ja. Sie stecken in Ihrer rechten Hosentasche, Inspektor«, erwiderte Jim und schaute kaum von dem Buch auf, das er wieder ergriffen hatte.

      »Ich habe keine Streichhölzer«, entgegnete Marborne laut.

      »Dann geben Sie mir wenigstens die leere Hülle zurück. Wenn Sie Schwierigkeiten machen wollen, gehe ich zur Polizei und erzähle dort einmal verschiedenes über Sie. In der Marylebone Road gibt es einen großen Hehlerladen, und soviel ich weiß, bekommen Sie von den Geschäften zehn Prozent. – Ich bin überzeugt, daß Ihr Chef keine Ahnung davon hat.«

      Marborne zuckte zusammen und wurde bleich. Er wollte sprechen, aber dann nahm er plötzlich die Streichholzschachtel aus der Tasche und warf sie zu Boden.

      »Ich danke Ihnen vielmals!« sagte Jim höflich.

      Das Gesicht des Inspektors wurde dunkelrot. Die kühle Verachtung Morlakes reizte ihn zu höchster Wut: »Ich werde Sie noch fassen – Sie sollen mir nicht entkommen!«

      Binger zeigte sich zwischen den Vorhängen in der Tür.

      »Begleiten Sie diesen Herrn hinaus und passen Sie auf, daß er meinen Schirm nicht aus dem Ständer nimmt!« befahl Jim.

      11

      Als sich die Tür hinter dem wütenden Marborne geschlossen hatte, eilte Binger zu seinem Herrn zurück.

      »Es war ein Detektiv«, flüsterte er heiser.

      »Das weiß ich.« Jim unterdrückte ein Gähnen. »Er hat mir meine Streichhölzer gestohlen – ist das nicht der beste Beweis dafür?«

      »Gehen Sie heute Abend aus?« fragte Binger besorgt.

      »Nein, ich bleibe hier, aber Sie können trotzdem gehen. Sagen Sie Mahmet, daß er mir Kaffee bringt, ich werde heute noch lange arbeiten.«

      Als Binger sich entfernt hatte, legte Morlake sein Buch hin und ging langsam im Zimmer auf und ab. Gleich darauf kam der maurische Diener herein und brachte ein Tablett mit allen Gegenständen, die zur Zubereitung von Kaffee notwendig waren.

      Jim beobachtete ihn und griff wieder zu seiner Lektüre, als Mahmet gegangen war.

      Er überlegte, was Marbornes Besuch zu bedeuten habe. Der Mann hatte sich in seiner Naivität doch tatsächlich eingebildet, daß er ihn nicht kenne. Aber James Morlake kannte alle irgendwie bedeutenden Detektive vom Yard dem Gesicht nach sehr genau.

      Warum also mochte Marborne gekommen sein? Ein halbes Dutzend Lösungen fiel Jim ein, aber keine befriedigte ihn vollkommen.

      Um halb zwölf stand er auf. Er entschloß sich, doch noch auszugehen, und wechselte die Schuhe. Als er die Tür öffnete, sah er einen Brief auf dem Fußboden liegen, der offenbar durch die Türspalte geschoben worden war. Die Adresse war mit Bleistift geschrieben und lautet nur: ›Mr. Morlake.‹ Darunter stand noch: ›Eilt!‹, und zwar mehrmals unterstrichen.

      Schnell riß er den Umschlag auf und las die wenigen, rasch hingeworfenen Zeilen. Dann runzelte er die Stirn, faltete den Brief wieder zusammen, tat ihn in das Kuvert zurück und steckte es in die Tasche.

      »Mahmet, hast du draußen jemand gehört?« fragte er, als der Diener auf sein Klingelzeichen erschien.

      »Nein, Effendi, ich habe niemand gehört, seitdem der Sekretär gegangen ist. Ich war immer in der Halle hier.«

      Morlake nahm den Brief aus der Tasche.

      »Lag das schon hier, als Binger fortging?«

      »Nein, Effendi.«

      Der Brief mußte also gebracht worden sein, während er die Schuhe wechselte.

      Wieder schob er die Warnung in die Tasche und trat auf die Treppe hinaus. Als er auf der Straße erschien, stand Inspektor Marborne auf der gegenüberliegenden Seite im Schatten eines Toreingangs und klopfte Lieber auf die Schulter.

      »Das ist er«, flüsterte er ihm zu.

      Der Taschendieb nickte, ging quer über die Straße und folgte dem großen, schlanken Mann, der langsam Piccadilly hinabschlenderte.

      An der Ecke blieb Morlake stehen und schaute sich unentschlossen um, als ob er nicht wüßte, nach welcher Seite er sich wenden sollte. In diesem Augenblick rannte ihn ein kleiner, dicker Mann an, der es anscheinend sehr eilig hatte. Der Zusammenstoß war ziemlich heftig.

      »Ruhe, Ruhe, mein Freund!« sagte James Morlake.

      »Entschuldigen Sie bitte vielmals!« erwiderte Lieber und setzte seinen Weg mit größter Hast fort.

      Morlake schaute etwas belustigt und spöttisch hinter ihm her.

      Inspektor Marborne wartete an der Ecke der Air Street, und als Lieber in diese verlassene Straße einbog, ging er auf ihn zu und schloß sich ihm an.

      »Nun?« fragte er schnell.

      »Ich habe etwas.« Lieber steckte die Hand in die Tasche. »Es war zwar kein Taschentuch oder eine Schachtel, aber ein Brief.«

      Ungeduldig riß ihm der Inspektor das Schreiben aus der Hand. Er blieb unter einer Straßenlaterne stehen und untersuchte das Beutestück.

      »Der Brief ist an ihn gerichtet. Jetzt haben wir ihn!«

      Er zog den Inhalt aus dem Umschlag und las. Aber der triumphierende Ausdruck verschwand dabei allmählich wieder aus seinen Zügen.

      Der Text des kurzen Schreibens lautete:

      ›Mein lieber Morlake,

      Ralph Hamon hat einen Polizeibeamten namens Marborne angestiftet, Ihnen eine Falle zu stellen.

      Jane Smith.‹

      »Zum Teufel, wer ist denn Jane Smith?« fragte der Inspektor.

      12

      Marborne schaute seinen Begleiter düster an.

      »Na, Sie sind mir ein feiner Dieb«, brummte er. »Haben Sie denn nicht etwas anderes nehmen können?«

      Lieber machte ein dummes Gesicht: »Genügt das nicht? Sie sagten mir doch ausdrücklich, ich solle einen Brief bringen –«

      Marborne stopfte das Schreiben in die Tasche und ließ den verdutzten Mann stehen.

      Die Entdeckung, daß diese Jane Smith von seiner Verbindung mit Hamon wußte, machte ihm großes Kopfzerbrechen. Sie bedrückte ihn um so mehr, als er sich jetzt schon zu weit in die Sache eingelassen hatte, um sich noch zurückzuziehen. Der Plan mußte nun unbedingt durchgeführt werden. Aber zuerst mußte er seine Vorsichtsmaßregeln treffen. Er rief ein Taxi an und fuhr trotz der späten Stunde noch zum Grosvenor Place. Der Butler kannte ihn und ließ ihn ein, teilte ihm aber mit, daß Mr. Hamon nicht zu Hause sei.

      »Wollen Sie vielleicht Miss Hamon sprechen?« fragte er dann.

      »Miss Hamon? Ich wußte gar nicht, daß es überhaupt eine solche Dame gibt«, sagte der Inspektor erstaunt.

      »O ja, Mr. Hamon hat eine Schwester, für gewöhnlich lebt sie allerdings in Paris.«

      Der Butler ließ Marborne in der Diele zurück und ging ins Wohnzimmer.

      Gleich darauf erschien er wieder und lud ihn durch eine Handbewegung ein, näher zu treten.

      Lydia Hamon war schlank und schön. Reiche, rotblonde Locken umrahmten ihr zartes Gesicht. An den nackten Armen trug sie kostbare Reife, die im Licht der elektrischen Lampen aufsprühten. Langsam schaute sie zu dem Polizeibeamten auf, als er eintrat, machte aber keine Anstalten, ihn zu begrüßen.

      Marborne, der sich an weiblicher Schönheit begeistern konnte, betrachtete sie