»Und Lady Joan?«
»Die Lady ist vor einer Stunde ausgeritten.«
»Hm.«
Mr. Hamon sah mißmutig drein, als er die Zeitung weglegte. Gestern Abend hatte er Joan Carston gebeten, mit ihm auszureiten, aber sie hatte sich damit entschuldigt, daß sich ihr Lieblingspferd verletzt habe. Stephens war kein Gedankenleser, aber er erinnerte sich plötzlich an gewisse Instruktionen.
»Lady Joan dachte eigentlich nicht, daß es möglich sei, aber ihr Pferd hatte sich heute morgen wieder soweit erholt.«
»Hm«, wiederholte Mr. Hamon. »Sie erzählte mir, daß sie jemandem eines der kleinen Häuser als Wohnung angewiesen habe – vielmehr ich hörte nur, wie sie es Lord Creith gegenüber erwähnte. Können Sie mir sagen, um wen es sich handelt?«
»Ich weiß leider nichts Genaues. Soviel ich gehört habe, ist es eine Dame mit ihrer Tochter... Lady Joan hat sie in London kennengelernt und ihr das kleine Haus als Erholungsaufenthalt überlassen.«
Mr. Hamon lächelte spöttisch.
»Sie betätigt sich wohl als Menschenfreundin?«
Langsam ging er durch die Halle ins Freie. Von Lady Joan war nichts zu sehen, und er vermutete ganz richtig, daß Stephens entweder Unkenntnis vorschützen oder ihm die Unwahrheit sagen würde, wenn er sich nach ihrem Weg erkundigte.
Er konnte die junge Dame nicht entdecken, so scharf er auch Ausschau hielt, aber sie sah ihn sehr genau von No Man's Hill aus. Sie ritt im Herrensattel auf einem alten Fuchs und schaute nachdenklich zu dem großen, etwas verfallenen Herrenhaus hinüber. Ihr Gesicht war sorgenvoll, und es lag wie ein Schleier über ihren grauen Augen. Ihre schlanke, vornehme Gestalt wirkte fast knabenhaft. Sie beobachtete den dicken Mann, der jetzt wieder zum Haus zurückging, und als er verschwunden war, lächelte sie.
»Vorwärts, Toby!« Sie schlug mit den Zügeln auf den Hals des Pferdes und war in wenigen Augenblicken auf der Höhe des Hügels angelangt. Dort stieg sie ab, ließ das Tier grasen und ging zur höchsten Spitze hinauf. Mechanisch sah sie nach ihrer Armbanduhr – es war genau acht. Ihre Blicke verfolgten den breiten Weg, der unten am Hügel vorbeiführte.
Sie hätte nicht nach der Uhr zu sehen brauchen, denn der Mann, nach dem sie ausschaute, ritt Tag für Tag, Monat für Monat zur selben Zeit aus dem Gebüsch heraus. Er war groß und schlank, lenkte sein Pferd mühelos und rauchte wie immer eine Pfeife. Sie nahm den Feldstecher aus dem Lederetui und stellte ihn ein. Ihre Neugierde war wirklich unentschuldbar, und sie gestand sich diesen Fehler auch ohne Zögern ein. Er war es: Sie sah die stattliche, sehnige Gestalt mit dem schönen Gesicht und den leicht ergrauten Haaren an den Schläfen. In der einen Hand trug er eine dünne, schmiegsame Reitgerte, mit der er die Mähne seines Pferdes zerstreut streichelte.
›Joan Carston, du bist geradezu schamlos!‹ sagte sie zu sich selbst. ›Bedeutet dir denn dieser Mensch etwas? – Nein! Aber umgibst du ihn nicht mit dem goldenen Schimmer der Romantik? – Ja! Treiben dich nicht reine Neugierde und der Hang zu geheimnisvollen Abenteuern jeden Morgen hierher, um diesen harmlosen Gentleman zu beobachten? – Ja! Und schämst du dich nicht deshalb? – Nein!‹
Der Mann, der nichts von Joans Selbstgespräch ahnte, ritt weiter und befand sich nun auf gleicher Höhe mit ihr. Er schaute weder nach rechts noch nach links, bis er außer Sicht kam.
Mr. James Lexington Morlake war für die Bevölkerung der Umgebung eine rätselhafte, interessante Persönlichkeit. Man wußte nichts Genaues über ihn, nur war er offensichtlich sehr reich. Freunde besaß er bestimmt nicht, und alle Einladungen, die ihn in nähere Berührung mit seinen Nachbarn gebracht hätten, lehnte er strikt ab. Er machte und empfing keine Besuche. Man zog Erkundigungen über ihn ein und erfuhr schließlich durch die Dienstboten, daß er ein ganz merkwürdiges und unregelmäßiges Leben führe. Sein Aufenthalt in Wold House oder in London war stets unbestimmt. Selbst seinen Angestellten teilte er nicht mit, welche Absichten er für den nächsten Tag, geschweige denn für die nächste Woche hatte.
Joan Carston bestieg wieder ihr Pferd und ritt den Hügelpfad hinunter, den James Morlake eben eingeschlagen hatte. Als sie an die Weggabelung kam, schaute sie noch gerade zur rechten Zeit nach links, um seinen großen schwarzen Filzhut hinter der Senkung des Geländes, das zum Fluß hinabführte, verschwinden zu sehen.
»Ich bin eine wenig anständige junge Dame«, sagte sie in die zurückgelegten Ohren ihres Pferdes. »Ich besitze keine Zurückhaltung und habe nicht den geringsten Stolz, Toby, und ich würde zwei Pfund Sterling dafür geben – das ist meine ganze Barschaft–, um einmal mit ihm persönlich zu sprechen. Und dann wäre ich natürlich enttäuscht.«
In kurzem Galopp legte sie den Rest des Weges zurück und bog durch das verfallene Tor ein. Wo die Hauptstraße den Park ihres Vaters berührte, stand ein einfaches Fachwerkhaus, und dorthin ritt sie. Eine Frau winkte ihr aus dem Garten zu, als sie vorbeikam. Sie war etwas über vierzig Jahre alt, sah aber noch sehr gut aus.
»Guten Morgen, Lady Joan! Ich bin gestern Abend hier angekommen, und Sie haben alles so schön für mich vorbereitet. Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so viel Mühe gegeben haben.«
»Ach, das macht nichts.« Joan war schnell abgestiegen. »Wie geht es denn Ihrem Patienten, Mrs. Cornford?«
Die Frau lächelte.
»Ich weiß es nicht. Er kommt erst heute Abend an. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, daß sich noch jemand bei mir aufhält?«
»Ach nein. Wollen Sie eigentlich nicht für immer hier wohnen? Mein Vater würde Ihnen gern die Erlaubnis dazu geben. Wer ist denn der Herr?«
»Ein junger Mann, für den ich mich interessiere. Ich muß Ihnen aber sagen, daß er leider ein periodischer Trinker ist. Ich habe versucht, ihn zu heilen, und ich hoffe sogar, daß er keine Rückfälle mehr bekommen wird. Er stammt aus einer vornehmen Familie. Es ist wirklich tragisch, daß so viele junge, blühende Menschen durch Trunk zugrunde gehen. Ich arbeite bei der Trinkerhilfe, wenn ich Zeit habe, und ich erlebe dabei viel Trauriges.«
»Darf ich einen Augenblick eintreten?« fragte Joan. »Eigentlich erwartet man mich in Creith – wenigstens unser Besuch erwartet mich. Mein Vater denkt wohl weniger daran. Er hofft nur immer, daß ein Wunder passiert und ihm eine Million in den Schoß fällt, ohne daß er sich anstrengen muß. Und denken Sie, dieses Wunder hat sich nun tatsächlich zum Teil erfüllt!«
Mrs. Cornford blickte erstaunt auf.
»Wir sind nicht reich«, fuhr Joan fort. »Wir gehören zum verarmten Landadel. Der Herrensitz, die Güter und unser Londoner Stadthaus sind – oder waren wenigstens bis zur vorigen Woche – mit Hypotheken überlastet. Wir sind die ärmste Familie in der Gegend.«
Mrs. Cornford war über Joans offenes Bekenntnis verwundert.
»Das tut mir leid«, sagte sie. »Es muß schrecklich für Sie sein.«
»Ach, ich mache mir nicht viel daraus. Hier sind alle Leute arm, mit Ausnahme dieses geheimnisvollen Mr. Morlake, den man allgemein für einen Millionär hält. Aber er steht wahrscheinlich nur deshalb in dem Ruf, weil er nicht mit anderen Leuten über seine Schulden und Hypotheken spricht.«
Mrs. Cornford schwieg und sah nur traurig auf das schöne Gesicht Joans. Sie kannte sie nun seit einem Jahr; eine Zeitungsannonce, in der sie um Näharbeit bat, hatte Joan in die kleine, enge Vorstadtwohnung geführt, wo sich die Frau mit ihrem Töchterchen durch ihre geschickte und flinke Arbeit ernährte.
»Die Armen haben es nicht leicht«, meinte sie nach einer Pause.
Joan schaute auf.
»Sie sind früher auch bemittelt gewesen. Ich wußte es. An einem der nächsten Tage müssen Sie mir einmal Ihre Geschichte erzählen – aber nein, ich will Sie damit nicht quälen. Kennen Sie eigentlich Mr. Morlake?«
Mrs. Cornford lächelte.
»Er scheint hier in der Gegend eine Art Sehenswürdigkeit zu sein. Ich würde