Stefan Sethe

Das Geheimnis des Bischofs


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auf, führte aber immer wieder nur im Kreis oder in die Registratur oder in sonstige Räume, wo sich Dr. Edelmann häufiger aufgehalten hatte. Ein vom Suchhund mit besonderer Intensität verfolgte Spur endete in der Kantinenküche, wo gerade 115 Koteletts gebraten wurden.

      Frau Dr. Edelmann jedoch blieb verschwunden. Die Durchsuchung ihrer kleinen Wohnung in Dachwig brachte ebenso wenig Erkenntnisse über ihren Verbleib wie der spärliche Inhalt ihres Schreibtisches oder ihr dunkelblauer Opel, der kurz darauf in der Meister-Eckehart-Straße gegenüber dem Ratsgymnasium gefunden wurde. Die Strafzettel an der Windschutzscheibe und Zeugenaussagen legten den Schluss nahe, dass der Wagen seit Weiberfastnacht nicht mehr bewegt worden war.

      So sehr Graus und Regierungssprecher Cäsar auch um Diskretion bemüht waren, die Durchsuchung der Staatskanzlei mit vielen Polizeibeamten ließ sich nicht verheimlichen, zumal sie an einem Dienstag stattfand. Dienstags tagt jeweils das Kabinett; anschließend wird im Bürgersaal zur Pressekonferenz eingeladen.

      An diesem Dienstag wurde der Presse vom Sozialminister der jährliche Verbraucherschutzbericht präsentiert. Aber natürlich fragten die Journalisten auch nach dem Grund der unübersehbaren Polizeipräsenz. Regierungssprecher Cäsar stellte sich unwissend. Er glaube, das sei wieder mal so eine dümmliche Bombendrohung, aber die Beamten hätten natürlich nichts gefunden und zögen schon wieder ab. Letzteres entsprach immerhin den erkennbaren Tatsachen, und da niemand so überzeugend die Unwahrheit sagen konnte wie Cäsar, bleib das Interesse der Medien gering und versiegte bereits am nächsten Tag völlig.

      Andreas Stefani wird misstrauisch

      Letztlich hätte das spurlose Verschwinden von Frau Dr. Edelmann als ungelöster Fall in die Statistik eingehen können, falls man überhaupt im klassischen Sinn von einem Fall reden wollte, wenn nicht im Dachgeschoss gegenüber der Staatskanzlei Andreas Stefani seine Wohnung gehabt hätte. Haus zum ersten Schweinskopf war in altertümlichen Lettern über der Haustür der Regierungsstraße 4 zu lesen. Es gehörte zu jenen unzähligen Gebäuden in Erfurt, die aus einer spätmittelalterlichen Zeit stammten, als die Häuser noch durch phantasievolle Namen, wie „Zum schwarzen Ross“, „Zum breiten Herd“, „Zur hohen Lilie“ oder „Zum goldenen Helm“ statt durch profane Hausnummern unterschieden wurden. Stefani hätte sich eine weniger ehrenrührige Adresse denken können, war allerdings den Verdacht nie los geworden, dass mit dem ersten Schweinskopf niemals die Bewohner seines Hauses gemeint waren, sondern es sich eher um eine reichlich unbotmäßige Anspielung auf den Residenten gegenüber gehandelt haben könnte.

      Andreas Stefani galt als umgänglich gegenüber Kollegen, aber schwierig gegenüber Vorgesetzten. Er war früher in der Staatskanzlei beschäftigt gewesen. Dass er vor einiger Zeit aus Protest gegen bürokratische Verkrustungen, Verschwendung, feudalistische Strukturen, Entmündigung und Vorgesetztenwillkür seinen gut bezahlten Posten als Leitender Ministerialrat aufgekündigt hatte, sorgte bei den Kollegen für wenig Überraschung und bei seinen Chefs für aufatmende Erleichterung.

      Wenn sich der etwas untersetzte Eigenbrötler auf die Zehenspitzen stellte, konnte er vom Nordfenster seiner Wohnung aus direkt ins Arbeitszimmer und auf den Schreibtisch seines früheren Chefs, Ministerpräsident Bernhard Amsel, schauen.

      Stefani, trotz seines italienisch klingenden Namens ein gebürtiger Bayer, war schon im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung, nach Erfurt gekommen. Frau und Kinder waren in Bonn geblieben. Stefani bezeichnete sich selbst als einen „Dreitages-Sympath“. Drei Tage am Stück konnte er ein freundlicher, sympathischer Mensch sein – das Ideale für Wochenendreisen und Kurzbesuche. Aber dann überwog meist schon seine Menschenscheu, und er zog sich wieder zurück. Nach mehreren gescheiterten Liebschaften hatte er daher beschlossen, sich nicht wieder fest zu binden. Seine Söhne glaubten bei ihren seltenen Besuchen eine zunehmende Verschrobenheit an ihrem Vater wahrnehmen zu können.

      Nach seiner Übersiedelung in die Thüringer Landeshauptstadt diente Stefani zunächst dem ersten Thüringer Ministerpräsidenten, Josef Dokic als Stellvertretender Regierungssprecher. Nie hatte Stefani einen Menschen so schnell lernen sehen. Zudem entpuppte sich Dokic als Organisationstalent. Fast alles, was Thüringen heute ausmachte, war strukturell schon in Dokics kurzer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden. Als Bernhard Amsel Anfang 1992 die Regierungsgeschäfte übernahm, musste er letztlich nur noch verwalten und umsetzen, was Dokic ihm hinterlassen hatte. Kreatives Gestalten war ohnehin nicht die Stärke des CDU-Politikers. Darin glich er seinem SPD-Bruder Jochen Amsel. Auch dieser hatte in seiner Zeit als Bundesjustizminister ohne große eigene Phantasie nur das umgesetzt, was ihm Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, als Zielpunkte hinterlassen hatte.

      Da Stefani auch schon im Leitungsbereich des SPD-Bruders gearbeitet hatte, galt er in Erfurt als Ornithologe, seit er vom CDU Bruder Bernhard in seinem Amt als Stellvertretender Regierungssprecher bestätigt worden war.

      Nach etlichen unerfreulichen Querelen mit Graus, Cäsar und auch schon Amsels designiertem Nachfolger Neukate, hervorgerufen nicht zuletzt auch durch Stefanis falsches Parteibuch, hatte Stefani die Notbremse gezogen und gekündigt. Er arbeitete jetzt als mehr schlecht als recht bezahlter freier Journalist. Dabei kamen ihm seine alten Kontakte und vor allem auch sein exklusiver Fensterblick ins meist ziemlich unaufgeräumte Innenleben der Macht sehr zu Hilfe, wenn er einer politischen Story auf der Spur war.

      Obgleich Stefani die heutige Vorlage des Verbraucherschutzberichtes nicht sonderlich interessierte, zumal dieses Thema bereits von seinen fest angestellten Kollegen abgehandelt wurde, hatte er sich zur Pressekonferenz im Bürgersaal der Staatskanzlei eingefunden. Stefani kannte seinen früheren Chef Cäsar leider zur Genüge, trotzdem ließ sogar er sich immer wieder einwickeln von Cäsars sympathisch überzeugenden Art, die pure Unwahrheit zu sagen. Später dämmerte ihm dann allerdings meist doch noch, dass wieder einmal etwas dramatisch beschönigt worden war. So auch in diesem Fall: Eine Bombendrohung, die einerseits offenbar von der Polizei ernst genommen wurde, bei der aber nicht gleichzeitig das Gebäude geräumt wurde, war nur schwer vorstellbar. Außerdem hatte Stefani morgens eine Beobachtung gemacht, die er noch nicht ganz einordnen konnte:

      Das Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten lag etwas tiefer als Stefanis Wohnung. Er konnte daher nicht den ganzen Raum überblicken. Nahezu auf gleicher Ebene lag jedoch das Arbeitszimmer des Chefs der Staatskanzlei. Morgens hatten sich einige Polizisten in eben diesem Zimmer eingefunden. Es fand offenbar eine Art Lagebesprechung statt. Später kam ein schwarzer Schäferhund dazu. Diesem war ein beiger Mantel vor die Nase gehalten worden. Vielleicht hatte sich jemand eingeschlichen, der nun gesucht wurde? Womöglich ein etwas verwirrter Attentäter? Stefanis wacher politischer Instinkt sagte ihm, dass etwas im Gange war, was er scharf im Auge behalten sollte.

      Zwei Stunden später zündete sich Stefani unter dem Renaissance-Erker neben dem Haupteingang der Staatskanzlei eine Zigarette an. Es dämmerte schon. Neben ihm stand Friedhelm Obertür, einer der Pförtner. Obertür hatte seine Zigarette eben fertig geraucht, warf den Stummel in den Gully und wandte sich mit einem kurzen Gruß zum Gehen.

      „Habt ihr den Attentäter?“ klopfte Stefani auf den Busch. Obertür wandte sich noch einmal um und schaute verwundert. Stefani registrierte, dass er sich wohl doch auf einer falschen Fährte befand. „Na, wegen des Polizeiauftriebs heute.“

      „Ach so, - nein, das war nur eine Übung.“ Dabei blinzelte Obertür jedoch grinsend.

      Stefani hatte sich in seiner Zeit als Personalratsvorsitzender besonders auch für das Wachpersonal eingesetzt, obwohl es nicht zur Stammbelegschaft gehörte. Die Pförtner schätzten ihn deshalb, und darum wollte Obertür ihn auch nicht frech anlügen. Anderseits war klar, man hatte ihnen einen Maulkorb verpasst. „Übung“ lautete die Sprachregelung.

      Mehr würde Obertür nicht zu entlocken sein. Schließlich hatte er Angst um seinen Job. Erst neulich war ein Kollege auf Betreiben der Staatskanzlei entlassen worden, weil er gewagt hatte, in der Pförtnerloge einen Blick ins „Neue Deutschland“ zu werfen, was allerdings auch strohdumm war. Gegen die Thüringer Allgemeine, bis vor kurzem noch das peinlich unkritische Quasi-Regierungsblatt, hätte niemand etwas gehabt.