Ole R. Börgdahl

Ströme meines Ozeans


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die Volksschule in Paris besucht haben, und zwar solange, bis Victor nach dem Tod seines Vaters im Internat aufgenommen wurde. Émile konnte sich sogar noch an Victors Vater erinnern. Er soll sehr gütig gewesen sein und es gab zwischen ihm und Victor nie ein böses Wort. Als Émile davon erzählte, wurde Victor ganz still. Ich habe dann bewusst ein anderes Thema angestimmt, obwohl ich gerne mehr erfahren hätte. Stattdessen hat Émile dann über seinen Beruf erzählt. Im Gegensatz zu Victor ist er Zivilist, er ist Reisender und arbeitet für die amerikanische Firma Eastman. Émile präsentiert mal in Europa, mal in Übersee die neusten Fotoapparate und die Kunst des Fotografierens. Nach seiner Überzeugung eine Kunst für jeden, der es erlernen möchte. In seinem Gepäck hatte er zur Demonstration eine kleine Kamera dabei, die schon allein beeindruckte, weil Victor und ich bislang nur die großen Apparate kennen, die in den Fotoateliers stehen. Die neue Eastman, wie Émile sie nannte, passt bequem in eine Umhängetasche und lässt sich bei Gelegenheit hervorholen, um die Ereignisse festzuhalten, denen der Fotograf jederzeit begegnen kann. Victor interessierte sich sehr für die technischen Einzelheiten. Émile konnte uns auch einige Fotografien zeigen, die er mit der Kamera aufgenommen hatte und die zunächst etwas merkwürdig anmuteten, weil der Bildausschnitt kreisrund war. Dies fand ich verzeihlich, wo doch die Kamera selbst so beeindruckte. Émile war erst vor ein paar Wochen in Übersee, in Neufundland und zeigte uns auch ein paar kuriose Fotografien von dort. Dies wiederum weckte mein Interesse, weil es beinahe schaurig war. Die Bilder stammten aus St. John's auf Neufundland. Émile hatte sie wenige Tage nach dem großen Brand Anfang Juli aufgenommen. Ich konnte mich dann auch an die Schlagzeilen im Figaro erinnern. Unter den alten Zeitungen, die Jeanette immer fürs Feuermachen aufbewahrt, habe ich den Artikel später sogar noch gefunden. Émiles Fotografien zeigen allerdings mehr, als die Worte in der Zeitung vermitteln können. Es war schon einige Tage nach dem Brand, jeglicher Rauch hatte sich bereits verzogen, sodass alles klar und deutlich zu sehen war. In St. John's finden sich fast ausschließlich aus Holz erbaute Häuser, die bis auf ihre steinernen Kamine ein Raub der Flammen geworden sind. Wenn es aber doch ein Steinhaus war, eine Kirche oder eine Fabrik, so war das hölzerne Dach verschwunden und die Gebäude standen wie leer da, ohne jegliches Innenleben. Ein bedrückender Anblick, einsame Kamine ragen in den Himmel, verbrannte Mauern. Émile hat sich in St. John's umgesehen und überall, wo er es für wichtig erachtete, hat er seine Eastman hervorgeholt und mit wenigen Handgriffen eine Fotografie gemacht. Er hat uns das Fotografieren gezeigt und es ist wirklich einfach. Er hat Victor und mich aufgenommen. Nach dem schönen Abend gestern hat er sich in sein Hotel verabschiedet, ist aber heute Morgen zurückgekehrt, und hat uns vor unserem Haus, im Sonnenschein, noch einmal fotografiert. Émile hat versichert, uns das Ergebnis mit der Post zu schicken, sobald es in einem Labor seiner Firma entwickelt wurde. Ich bin sehr gespannt darauf.

      Nantes, 21. August 1892

      Victor hat seinen Marschbefehl erhalten. Zum Oktober wird er wieder nach Paris versetzt, endlich. Natürlich freue ich mich, obwohl, mittlerweile habe ich mich an Nantes gewöhnt, es ist nicht so hektisch wie Paris und so muss ich mich wohl auch erst wieder in Paris eingewöhnen, nehme ich an. Ganz besonders werde ich den Geruch des Meeres vermissen, das gibt es in Paris nicht. Victor erhält den versprochenen Posten. Er wird dem Stab eines Brigadegenerals zugeordnet. Leider wird er im Range eines Capitaines bleiben und noch nicht zum Commandant befördert. Victor hat hier in Nantes sicher gute Arbeit geleistet und irgendwann wird es sich auszahlen. So endet unser Abenteuer in Nantes doch schneller, als wir gedacht haben. Ich werde wohl bereits Mitte September nach Paris vorausreisen, zusammen mit Jeanette, die sich auch schon freut. Wir müssen unser Haus in der Rue Marcadet wieder wohnlich machen. Ich habe Monsieur Rolland geschrieben. Vielleicht kann er mich doch wieder gebrauchen. Er hat es ja nicht ausgeschlossen, als ich mich im letzten Jahr verabschiedet habe.

      Nantes, 27. August 1892

      Den schönen Sommertagen zum Trotz lässt mich Victor eine Woche allein zurück in Nantes. Er ist nach Belfort beordert. Es hängt schon mit seinen neuen Aufgaben zusammen. Der Stab trifft sich in der Garnisonsstadt. Es sind militärische Angelegenheiten, die Vorbereitung eines Manövers oder Ähnliches.

      Nantes, 3. September 1892

      Der Tag begann heute mit gleich zwei Briefen. Bei dem einen war ich überrascht, dass sich Émile Chazaud schon so schnell wieder gemeldet hat. Der Brief war ausdrücklich auch an mich adressiert, sodass ich ihn geöffnet habe. Neben ein paar herzlichen Grüßen habe ich dort das Ergebnis unseres Fotografierexperiments gefunden und das gleich in zweifacher Ausführung. Auf einem rechteckigen Karton sind Victor und ich in hervorragendem Licht zu sehen. Die Fotografie selbst ist kreisrund und zeigt auch ein etliches Stück unseres Hauses hier in Nantes, das so auch in Erinnerung bleiben wird. Als Victor die Fotografie vorhin zu sehen bekam, musste er nochmals sein Staunen über die Eastman zum Ausdruck bringen. Über diese kleine Freude möchte ich aber Mutters Brief nicht vergessen, der mir jedes Mal das Leben der Eltern näherbringt, obwohl uns der Kanal und etliche Hundert Kilometer trennen. Mutter hat noch einmal von Vaters Fußballsportverein berichtet und über den neuen Platz, der vor gut zwei Wochen eingeweiht wurde. Er hat auch schon einen Namen, Goodisen Park, es klingt sehr hübsch. Der Fußball wurde zur Eröffnung noch nicht gespielt, Mutter schreibt aber von athletischen Übungen, die dargeboten wurden und von einem Feuerwerk, begleitet von einer Musikaufführung. Zur Eröffnung sollen mehrere Tausend Menschen gekommen sein und ich muss mir Vater und Mutter unter ihnen vorstellen. Dann berichtet Mutter noch von der hohen Politik. Die Queen hat einen neuen Lordkanzler ernannt, Mr. William Gladstone folgt Lord Salisbury nach. Mr. Gladstone ist schon uralt, über achtzig, aber er ist jetzt schon zum vierten Male britischer Lordkanzler.

      Nantes, 7. September 1892

      Jeanette scheint auch erleichtert zu sein, dass die Zeit in Nantes nun endlich vorüber sein soll. Ich werde mit ihr zusammen den Hausstand schon in wenigen Tagen wieder nach Paris verlegen. Wir haben doch so viele Möbel dazugekauft, von denen ich mich jetzt nicht mehr trennen möchte und die mir die Erinnerung an Nantes immer wachhalten werden. Es gilt also, einen richtigen Umzug zu planen. Jeanette und ich werden diese Aufgabe erledigen und für Victor das Heim bereiten, wenn er uns dann im Oktober nach Paris folgt. Die Zeit in Nantes war aber schön, wirklich schön.

      Paris, 20. September 1892

      Unser Haus in der Rue Marcadet ist soweit wieder bewohnbar. Die Zeit ist nicht stehengeblieben und so gab es auch Veränderungen, die aber weniger gravierend sind, als ich dachte. Das Positive aus Nantes, aus der Zeit in Nantes, haben wir mitgebracht, es sind Erinnerungen und ein paar Dinge, die sich anfassen lassen, die materiell sind. So zieren Schmuckteller eine Wand im Salon und in die oberen Räume haben wir ein paar der Nanter Möbel verbracht. Die Zugehfrau war während unserer Abwesenheit sehr gewissenhaft. Sie hat die Rue Marcadet gut in Ordnung gehalten.

      Paris, 30. Oktober 1892

      Für Victor ist es ein ganz neuer Dienst. Er arbeitet ja erst seit diesem Monat als Stabsoffizier und er ist der rangniedrigste unter den Leuten im Stabe des Brigadegenerals. In einem halben Jahr könnte er aber zum Commandant befördert werden. Mit dem General hat er jetzt noch nicht so viel zu tun, er untersteht einem gewissen Leverne, der schon fast fünfzig ist und auch erst vor gut einem Jahr zum Commandant befördert wurde. Victor ist nicht ganz so glücklich mit dem Mann, weil dieser Leverne es neidet, dass Victor wohl innerhalb kürzester Zeit vom Capitaine zum Commandant befördert wird. Dieser Leverne war zwanzig Jahre Capitaine und hat seine jetzige Stellung nur unter großen Mühen erhalten. Es ist sicherlich verständlich, dass er dann das Glück eines anderen nicht tolerieren kann, aber Victor hat nicht nur Glück gehabt, er ist ja auch sehr tüchtig. Was genau zwischen diesem Leverne und Victor vorgeht, habe ich allerdings noch nicht erfahren. Vielleicht gibt es sich ja wieder, wenn Victor erst einmal länger im Stab arbeitet.

      Paris, 1. November 1892

      Ich hätte gerne ein paar Freunde aus Nantes zu meinem Geburtstag eingeladen, aber es ist so wie vieles im Leben, Nantes ist schon längst Vergangenheit. Es gab ein paar liebe Briefe und ich denke