Er will sich darum kümmern und eine richtige Kinderwiege von einer Tischlerei anfertigen lassen. Ich schaue gerade wieder aus dem Fenster. Die Sonne bricht in diesem Moment hinter den Wolken hervor. Ein Augenblick, den ich unbedingt nutzen muss. Ich werde Schwester Catherine bitten, mich für eine halbe Stunde nach draußen in den Park zu begleiten, alleine lässt sie mich nicht gehen. Wenn ich zurückkomme, werde ich Victor schreiben, so wie fast jeden Tag. Er soll später erfahren, wie die Zeit war, die er nicht miterleben konnte.
Allaire, 20. Februar 1895
Tante Carla und Tante Danielle haben mich wieder besucht, ganz ohne die Onkels. Mutter hat ihnen einiges aufgetragen. Die Tanten haben mehr Erfahrung mit dem Kinderkriegen als Mutter, so hat es Tante Carla gesagt. Sie haben mir eine Menge über die Geburt erzählt, sie haben versucht mich zu beruhigen, aber es war nicht notwendig, ich bin doch ganz ruhig und habe auch keine Angst vor dem, was kommt. Bei einer Sache werde ich aber meine eigenen Erfahrungen machen müssen, denn keiner in unserer Familie hat je Zwillinge geboren. Aber ich bin ganz froh, dass wir uns nicht nur über das Kinderkriegen unterhalten haben. Ich habe mich nach Pierre und Jacques erkundigt und erfahren, dass die beiden noch immer gemeinsam in Amerika sind. Sie arbeiten in einer Fabrik in New York. Pierre hat aber den Vorschlag gemacht, nach Kanada zu gehen, weil die Leute dort Französisch sprechen. Jacques wird sich wieder durchsetzen und sie bleiben in den Staaten. Tante Danielle hat dann noch erzählt, dass Bernhard jetzt auch fortgeht, er wird tatsächlich von seiner Firma nach Madagaskar geschickt und er freut sich auch darauf. Ich dachte nicht, dass es schon beschlossen ist. Unsere Familie zerstreut sich so langsam über die ganze Welt, nach Amerika, nach England, nach Madagaskar und nun bald auch nach Ozeanien.
Allaire, 3. März 1895
Mutter ist wieder bei mir. Sie bleibt bis in den April hinein, sie will bei der Geburt an meiner Seite sein. Der Arzt sagt, dass es noch nicht so weit ist, dass es noch gut zwei Wochen dauern kann. Dr. Coulaud hatte mir letztes Jahr den 21. März als Termin genannt, es würde hinkommen. Ich habe mich jedenfalls an die Last gewöhnt und kann mich wohl noch ein ganz klein wenig gedulden. Ich mache meine Spaziergänge jetzt zusammen mit Mutter. Ich habe die ersten Blüten gesehen. Das Gras im Park beginnt auch schon zu wachsen. Der Gärtner hat bereits seine Sense geschärft. Mutter und ich sprechen über Namen. Es gibt drei Möglichkeiten. Wir brauchen entweder zwei Mädchennamen oder zwei Jungennamen oder je eines von beiden, wenn es ein Mädchen und ein Junge werden, denn auch dies ist bei Zwillingen möglich. Ich möchte hier über keine Namen schreiben, die ich später nicht verwenden kann, die später als Mensch nicht existieren werden, das bringt Unglück. Einen Namen notiere ich aber dennoch hier. Victors Mutter hieß Thérèse, Thérèse Jasoline. Ich finde den Namen schön. Ich schreibe ja nicht, dass dieser Name für mich infrage kommt, aber ich könnte mir vorstellen, dass Victor seine Tochter nach seiner Mutter nennen würde, vorausgesetzt er bekommt eine Tochter.
Allaire, 12. März 1895
Heute Morgen wurde die Wiege geliefert. Es ist ein wunderschönes hölzernes Bettchen, etwas breiter als ein normales Kinderbett. Es muss ja auch Platz für zwei Kinder haben. Nach der Besichtigung habe ich den Eindruck, als warte jetzt alles auf mich, aber ich habe wirklich noch nicht den Eindruck, dass es bald soweit ist. Den Kindern wird es in meinem Bauch wohl gefallen, stelle ich mir vor. Sie bekommen jeden Morgen und Nachmittag die herrliche Luft aus dem Wald und vom See über meine Lungen geatmet und dazu noch die ruhigen Bewegungen, wenn ich langsam über die Wege schwanke. Dann sind da noch die Stimmen. Meine Stimme und Mutters Stimme. Wir werden nie sehr laut, wir reden sanft. Ich erzähle von Victor, sodass die Kinder schon jetzt von ihrem Vater hören. Mutter erzählt dann von mir, aus der Zeit, als ich noch klein war, sodass die Kinder später auch alles von mir wissen. Es ist so herrlich darüber nachzudenken, auch wenn es großer Unsinn sein mag. Ich rechne, wie oft ich den Weg am See und durch den Wald schon gegangen bin. Jeden Tag zweimal, seit einundzwanzig Tagen, das sind über vierzig Spaziergänge. Ich beschreibe beim Gehen auch den Weg für meine Kinder. Ich sage dann immer, dass wir auf der Wiese sind oder jetzt gleich an dem Baum vorbeikommen, dessen Äste wie ein Schirm über dem Weg hängen. Ich erwähne es auch, wenn wir den See erreichen oder wenn wir direkt durch den Wald zurückgehen. So mache ich es jedes Mal und jedes Mal gehe ich den gleichen Weg, in den ersten Tagen mit Schwester Catherine oder jetzt mit Mutter. Der Spaziergang ist ja auch so herrlich schön. Es beginnt immer am Sanatorium, dann den halben Weg um den Park herum, bevor wir durch die Schneise, entlang am Waldrand gehen. Der Park ist jetzt satt grün, von der Wiese, auf der auch schon wilde Blumen blühen. Unter den wenigen Bäumen, die das Grün unterbrechen stehen weißgemalte Bänke, die gleichen, die auch am Weg um den Park stehen. In den ersten Tagen waren diese Bänke verwaist, doch jetzt genießen noch andere Patienten die frische Luft. Die Schneise am Waldrand ist eine ungemähte Wiese. Die Halme hängen tief vor Feuchtigkeit, weil hier vor dem Winter keine Sense ihre Arbeit getan hat. Wir brauchen dreißig Minuten bis zum See. Ich gebe die Geschwindigkeit vor, ich bin nicht besonders schnell. Am See bleibe ich immer einige Minuten stehen und blicke hinaus. Mit viel Fantasie stelle ich mir den See als das große Meer vor. Das Ufer auf der anderen Seite ist mein Ziel. Ich weiß, dass es nicht Tahiti ist, aber ich stelle es mir einfach vor. Ich muss dieses Meer bald überqueren, um wieder mit Victor vereint zu sein. Mutter schaut mit mir zusammen über den See und sie weiß dennoch nicht, was ich jedes Mal denke. Ich habe es ihr auch noch nie erzählt, es sind meine Fantasien. Ich brauche die Pause nicht nur für meine Fantasien, auch mein Körper verlangt danach. Dann, wenn es wieder geht, setzen wir unseren Weg fort. Er führt jetzt für ein ganzes Stück am See entlang. Der Wind frischt auf, streicht durchs Schilf, das hier überall wächst. Mutter bindet mir dann immer ein Tuch um den Kopf, obwohl mir eigentlich nicht kalt ist. Wenn wir so gehen und uns unterhalten, müssen wir aufpassen, die Abzweigung nicht zu verpassen. An der Abzweigung geht es in den Wald hinein. Es war schattig, der Weg schlängelt sich, die Bäume stehen dicht am Pfad. Der Boden ist hier auch schwieriger zu gehen. Morgens ist er noch sehr feucht. Mutter mag den Wald nicht, doch sie hat sich noch nie beklagt. Nach einer Viertelstunde kommen wir an dem großen Findling vorbei und können schon das Sanatorium sehen. Wir sind zurück in der Zivilisation. Ich liebe diesen Spaziergang.
Allaire, 15. März 1895
Ich hatte recht. Das Erste, was Victor auf Tahiti getan hat, war den Brief aufzugeben, der mich heute erreicht hat. Jeanette hat ihn mir wieder aus Paris nachgeschickt. Ich habe gezittert, als ich das Kuvert geöffnet habe. Ich bin allein auf mein Zimmer gegangen. Es waren sieben lange Seiten für vier lange Monate, die wir jetzt schon getrennt sind. Natürlich hat Victor nicht gleich an seinem ersten Tag auf Tahiti geschrieben. Er hat erst noch Eindrücke gesammelt, um mir mehr von dieser neuen Welt zu berichten. Papeete ist eine lebhafte Stadt. Die Menschen sprechen tatsächlich Französisch, aber nur die Menschen in der Stadt. Es gibt eine große Anzahl Europäer in Papeete, bei Weitem nicht alles Franzosen. Es gibt eine katholische und eine evangelische Kirche. Die Katholiken sind streng, das wird Mutter gefallen. Dann schreibt Victor über das Land. Er schreibt, dass er es eigentlich nicht beschreiben kann. Ich weiß, dass Victor sich nie für Blumen oder Pflanzen interessiert hat. Das, was er auf Tahiti gesehen hat, muss ihn aber dennoch beeindruckt haben. Er schreibt eine Seite lang nur über die Natur. Neben all diesem Berichten, diesem Beobachten, vergisst er aber auch nicht über seine Gefühle zu schreiben. Seine Worte haben mich sehr berührt. Ich habe sogar kurz geweint, weil ich Victor jetzt doch so sehr brauche. Ich habe den Brief zweimal, dreimal, ach, ich weiß nicht wie oft, gelesen. Ich habe laut gelesen, ich habe unseren Kindern den Brief ihres Vaters vorgelesen und ich habe ihn dann wieder still gelesen, nur für mich, mit der Kraft meines Herzens.
Allaire, 20. März 1895
Ich habe mich im Bett aufgerichtet und Mutter hat mir mein Buch, Tinte und Feder und ein Tablett als Unterlage gegeben. Ich muss aufpassen, die frischen Laken nicht mit der Tinte zu bespritzen. Mutter sitzt neben der Wiege und sieht den Mädchen beim Schlafen zu. Ich habe sie vor einer Stunde gestillt. Ich brenne darauf, meinem Tagebuch alles zu berichten. Ein Brief an Victor ist schon seit heute Morgen fertig und geht am Abend auf die Kutsche nach Allaire. Ich brauche nicht lange zu überlegen und beginne mit dem Morgen des 17. März.