Ole R. Börgdahl

Ströme meines Ozeans


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zwei Wochen, bis Vater und Mutter nach Liverpool abreisen. Mutter gefällt es nach wie vor nicht, dass ich allein in Paris bleibe, aber ich will es unbedingt.

      Paris, 8. Mai 1890

      Ich darf seit drei Tagen im Verkauf helfen. Monsieur Rolland hat es mir am Montag mitgeteilt. Madame Riuné hat mich am Nachmittag unterrichtet. Sie hat mir alles gezeigt, was wir im Geschäft verkaufen. Ich weiß jetzt, was Gold- und Silberlegierungen sind und dass ein Diamant aus versteinerter Kohle besteht. Ich habe es nicht geglaubt, aber es muss wohl stimmen. Überhaupt habe ich viel über Edelsteine gelernt. Ich kenne jetzt alle Namen, Rubine, Smaragde, Saphire, Amethyste, Malachiten und Topase. Besonders schwer ist es, sich die Schliffe zu merken. Die Trapez-, Oval- und Tropfen-Formen sind noch einfach, den Scheren- und Briolett-Schliff kann ich jetzt aber auch schon unterscheiden. Am schönsten finde ich jedoch den Ceylon-Schliff, er wirkt so erhaben, so wie ich mir einen richtigen Diamanten vorstelle. Von den Steinen mag ich neben den Diamanten am liebsten den Bernstein. Ich konnte es auch nicht glauben, dass der Bernstein das Harz längst vergangener Wälder ist. Wenn Kunden ins Geschäft kommen, schaue ich Madame Riuné oder Monsieur Rolland noch zu. Wir haben vereinbart, dass ich am Vormittag weiterhin die Buchhaltung mache und danach im Laden verkaufe. Gestern habe ich noch vor dem Mittag die Briefe für die Rohrpost aufgegeben und nach meiner Rückkehr bin ich gleich vorne im Laden geblieben. Wir haben auch das Schaufenster neu dekoriert. Die Anordnung der Stücke war mein Vorschlag. Wir haben die günstigsten Ringe und Ketten ganz nach links gelegt. Zur Mitte hin wird es dann immer teurer und ganz rechts liegen schließlich die exklusiven Schmuckstücke. Es war auch meine Idee, ein gerahmtes Podest zu errichten, auf dem immer ein ganz besonders wertvoller Armreif oder ein Diadem präsentiert werden sollen. Monsieur Rolland will die Auslagen alle zwei Wochen erneuern, was in Zukunft auch zu meinen Aufgaben gehören soll.

      Paris, 17. Mai 1890

      Ich hatte die halbe Woche frei. Am Donnerstag war Feiertag. Gestern habe ich mir dann auch noch frei genommen. Es war Abreisetag. Ich habe Mutter und Vater zum Zug nach Le Havre gebracht. Jetzt sind sie endgültig fort. Sie reisen aber zunächst noch nach London und von dort erst nach Liverpool. Das große Gepäck hat eine Spedition schon letzte Woche verschifft. Als ich vom Gare Saint-Lazare heimkam, war es im Haus so still. Zum Glück habe ich ja noch Jeanette und Madame Bernier. Und natürlich habe ich Victor. Er hat mir gestern ein Geschenk gemacht, etwas ganz Wertvolles, etwas, dass eine besondere Bedeutung für ihn hat. Es ist ein Orden, aber kein gewöhnlicher Orden, es ist der Orden der Ehrenlegion. Ich war stolz, dass er ihn mir geschenkt hat, aber ich war auch traurig, als ich die Geschichte gehört habe. Ich sehe Victor vor mir. Ich sehe den elfjährigen Victor, wie er von seinem Direktor in das Lehrerzimmer gerufen wird. Ich sehe wie diese Männer ihm den Orden überreichen, diesen Orden, den eigentlich sein Vater hätte bekommen sollen, wenn er nicht bei Gravelotte gefallen wäre. Ich habe nachgesehen, dieses Gravelotte liegt in Lothringen und das gehört seit dem Krieg nicht mehr zu Frankreich. Oh, ich liebe Victor so sehr. Sein Geschenk verwahre ich jetzt wie einen Schatz.

      Paris, 7. Juni 1890

      Heute ist ein kleines Paket aus Liverpool bei mir eingetroffen und es ist schon sehr interessant. Anfang des Jahres schrieb der Figaro von einem Treffen zwischen unserem Jules Verne und der amerikanischen Journalistin Mrs. Nellie Bly. Mrs. Bly war auf einer Weltreise und über diese Reise ist jetzt ein dicker Band erschienen. Mutter hat ihn aus London mitgebracht und er ist natürlich in englischer Sprache. Ich freue mich schon, ihn zu lesen. Eine junge Frau, nur ein paar Jahre älter als ich, unternimmt ganz allein eine Weltreise. In Jules Vernes Buch wird eine Weltreise in nur achtzig Tagen unternommen. Es ist natürlich nur eine erdachte Geschichte, aber es muss etwas Wahres daran sein, denn Mrs. Bly hat diese Reise höchstpersönlich unternommen und sie hat es in zweiundsiebzig Tagen geschafft. Wie das möglich war, muss ich mir noch erlesen. Ich überlege auch, ob ich mir vorher nicht noch Jules Vernes Buch vornehme.

      Paris, 13. Juni 1890

      Heute auf den Tag genau vor zwei Jahren haben wir uns kennengelernt, zwei Jahre, eine lange Zeit. Jeder findet es merkwürdig, dass Victor mir an diesem Tag nur eine einzige Blume schenkt und es ist noch nicht einmal eine Rose, sondern eine gewöhnliche Dahlie. Für mich ist sie aber nicht gewöhnlich, für mich ist sie etwas ganz Besonderes und nur Victor und ich kennen ihr Geheimnis.

      Paris, 18. Juni 1890

      Ich habe mir Jules Vernes Erzählung über die Reise um die Welt von einer Freundin geliehen. Sie besaß sogar die Erstausgabe von 1873. Es ist also nicht verwunderlich, dass Mrs. Bly gut acht Tage schneller gereist ist, als ihre Vorgänger Phileas Fogg und Monsieur Passepartout. In fast zwanzig Jahren werden die Eisenbahnen und Dampfschiffe schneller geworden sein. Ich denke auch, dass eine Weltreise in weiteren zwanzig Jahren in noch kürzerer Zeit geschafft werden kann. Ich lese jetzt in jeder freien Minute den Jules Verne und bin bereits mit den beiden Helden in Indien. Mrs. Bly hat sich bei ihrer eigenen Reiseroute wohl sehr genau an die Vorlage des Buches gehalten. Es gibt nur eine Ausnahme und das ist der Umweg nach Amiens, um dort Madame und Monsieur Verne persönlich zu treffen.

      Paris, 3. Juli 1890

      Mutter hat wieder geschrieben. Ich spüre immer mehr, dass ich ihre Nachrichten brauche. Ich vermisse Vater und sie. Mutter schreibt vom Geschäft. Vater hatte es die ersten Wochen nicht leicht, doch jetzt hat er seine Lieferanten gefunden. Sie haben eine große Ladung Mahagoni und Palisander nach Liverpool gebracht und Vater hat bereits fast alles an eine Möbelfabrik verkauft. Die Briten sind wohl ganz verrückt nach dem braunen, schweren Holz. Wer das Geld hat, lässt sich daraus Schreibtische, Kommoden oder Kleiderschränke tischlern. Ich soll die Eltern so schnell wie möglich besuchen. Natürlich will ich kommen. Ich habe Mutter sofort zurückgeschrieben und vorgeschlagen, im August für eine Woche zu reisen. Ich hoffe Victor begleitet mich, wir sehen uns jetzt fast jeden Tag und gehen bei schönem Wetter in den Parks spazieren. Am Wochenende hatten wir eine Kutsche und sind nach Versailles hinausgefahren. Es war ein herrlicher Tag. Wir waren erst spät am Abend wieder zurück in Paris.

      Paris, 12. Juli 1890

      Victor hat mir einen Atlas geschenkt. Er ist nagelneu und muss ein Vermögen gekostet haben. Ich wollte Mrs. Blys Weltreise dort mit einem Graphitstift einzeichnen, genauso wie Jules Verne es auf der großen Karte in seinem Haus gemacht hat. Es war mir jedoch zu schade um das wertvolle Buch. Ich habe aber dann doch eine einfache Lösung gefunden. Ich verwende ein transparentes Blatt Papier und lege es über die Karte im Atlas. Die Karte scheint durch und ich kann auf das Transparentpapier zeichnen, ohne eine Spur in dem Buch zu hinterlassen. So kann ich immer die Route verfolgen und sie weiterführen, je nachdem, wie weit ich in Mrs. Blys Bericht fortgeschritten bin. Ich habe bereits den Atlantischen Ozean mit dem Graphitstift überquert. In Mrs. Blys Bericht hat mir bislang am besten der Besuch bei Madame und Monsieur Verne in Amiens gefallen. Ich habe schon überlegt Victor zu fragen, ob wir nicht auch einmal nach Amiens reisen könnten. Wir würden uns dann nach Monsieur Vernes Haus erkundigen und einmal daran vorbeigehen. Vielleicht würden wir ihm und seiner Frau ja auch in der Stadt begegnen und vielleicht lädt er uns zu sich nach Hause ein und zeigt uns sein Arbeitszimmer, so wie er es Mrs. Bly gezeigt hat.

      Paris, 30. Juli 1890

      Ich durfte mir heute Victors Büchlein ansehen. Es ist nicht so, dass er auch Tagebuch führt und wenn sein Büchlein ein Tagebuch wäre, dann hätte ich nicht darum gebeten, es zu lesen. Victor schreibt Sprüche und Zitate in sein Büchlein. Er sammelt sie und das schon, seitdem er Schüler war. Er ist sehr wählerisch und schreibt nur das auf, was ihm gefällt. Es sind daher auch keine zwanzig Seiten, die er gefüllt hat. Heute hat er wieder einen Spruch gefunden und ihn in meinem Beisein niedergeschrieben: »Ich beuge mich, aber ich breche nicht.« Victor notiert zu jedem Zitat, von wem es stammt und wann und wo er es gefunden hat. »Ich beuge mich, aber ich breche nicht« soll von Jean de Lafontaine stammen. Jedes Schulkind kennt Lafontaine und seine Fabeln. Victor hat schon viele seiner Sprüche notiert. Mir gefällt auch dieser hier: