Cristina Zehrfeld

Der kleine Herr Carl


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verkleidet erschreckte, dann war das eine Sache zwischen dem kleinen Herrn Carl und der Kirchentante. Wenn er versehentlich die Milch verschüttete, mit Steinchen nach Passanten warf oder sich Schokolade aus der Anrichte stibitze, dann ging das die Eltern nichts an. Tante Lotte wusste das. Nur Tante Lotte wusste das! Deshalb hat Tante Lotte immer dicht gehalten. Und deshalb ist Maestro Carl bis heute auf der Suche nach einem Ersatz für Tante Lotte.

      Die Leibchen

      In jenem Jahr, als der kleine Herr Carl geboren wurde, hat sich Ernest Rice aus dem USBundesstaat North Carolina eine segensreiche Erfindung patentieren lassen: Er hatte Strumpf und Unterhose kombiniert und damit die moderne Strumpfhose erfunden. Strickstrumpfhosen für Kinder wurden sehr schnell so beliebt, dass selbst im kleinen Örtchen Kräha alle Kinder welche trugen. Alle, außer dem kleinen Herrn Carl. Im Hause Carl war man neumodischen Dingen gegenüber nicht besonders aufgeschlossen. Mutter Carl, aber auch die Kirchentanten hatten daran maßgeblichen Anteil. Sie fanden, dass Strumpfhosen Firlefanz sind. Deshalb durfte der kleine Herr Carl nur das tragen, was seine Mutter und die Kirchentanten noch aus ihren eigenen Kindertagen liebten und schätzten: Das Leibchen, ein Oberteil, welches mit Strumpfhaltern, heute zumeist Strapse genannt, an den Strümpfen befestigt wurde. De facto ein sehr unpraktisches und unbequemes Kleidungsstück, denn die Strapse kratzten, und im Winter fror der kleine Herr Carl sich das nackte Stückchen Haut zwischen Leibchen und Strumpf blau. Kein anderes Kind in ganz Kräha ahnte auch nur im Entferntesten, wie unbehaglich das Tragen von Leibchen und Strapsen war, denn alle trugen ihre Strumpfhosen und gaben damit tüchtig an. Obwohl der kleine Herr Carl es nun prinzipiell sehr schätzte, wenn er sich aus der breiten Masse heraushob, war er mit den Leibchen arg unglücklich. Das allerdings gab er anderen Kindern gegenüber nicht zu. Nun wäre der kleine Herr Carl nicht der kleine Herr Carl, wenn er aus seinen fürchterlichen Leibchen nicht das Beste gemacht hätte. Es hat ein Weilchen gedauert, aber am Ende trug er sie mit großer Würde. Das war der Zeitpunkt, als er das Wort Retrolook erfunden hatte.

      Carlinchen

      Bis zum Alter von fünf Jahren war der kleine Herr Carl der unumstrittene Mittelpunkt der Familie Carl. Das ist kein Wunder, denn der kleine Herr Carl ist unter einem besonders glücklichen Stern geboren: Er ist ein Sonntagskind, er ist im Sternzeichen Steinbock geboren, und (man höre und staune) nach dem chinesischen Horoskop kam er im Jahr des Holz-Schafs zur Welt. Über solche Dinge hat sich Maestro Carl schon als kleines Kind seine Gedanken gemacht. Deshalb hat er sich einst als Steppke auf die Wiese gestellt, an einen Holzpflock angebunden und so lange geblökt, bis Mama Carl ihm ein großes Himbeereis gebracht hat. Mama Carl hätte dem kleinen Herrn Carl alles gebracht, denn Mama und Papa Carl liebten ihren Sohn viel mehr als sie sich selbst oder sich gegenseitig liebten. Sie hatten einen solchen Narren an dem kleinen Kerl gefressen, dass sie mehr von dieser Sorte Glück haben wollten. Sie unternahmen also diesbezügliche Anstrengungen, und sie hatten Erfolg. Jedenfalls ziemlichen Erfolg. Ihr zweites Kind kam leider nicht an einem Sonntag, sondern an einem Samstag im Vorwonnemonat April zur Welt, aber dafür war an jenem Tag Vollmond, und das ist ja auch nicht wenig. Der kleine Herr Carl hatte also Konkurrenz bekommen. Diese Konkurrenz war ein Mädchen. Es wurde Carlinchen gerufen und übernahm in der Familie die dankbare Rolle der Prinzessin.

      Die Musikschule

      Da der kleine Herr Carl nicht mehr der Einzige, sondern nur noch der Große unter den Kindern war, musste er seine Position innerhalb der Familie nun durch Leistung festigen. In Sachen Liebreiz kam er an die kleine Prinzessin nämlich nicht heran. Da kam es ihm gelegen, dass die Klavierlehrerin Herta ihm eine Empfehlung für eine höhere musikalische Ausbildung ausgestellt hatte. Gut gerüstet mit den vier vollgeschriebenen Notenheften und einem Repertoire, welches neben den inzwischen staunenswerten Improvisationskünsten auch drei Dutzend mittelschwere Stücke der sogenannten Klavierliteratur umfasste, stellte sich der kleine Herr Carl in der Musikschule zu Kamenz vor. Er legte seine säuberlich beschriebenen Notenhefte vor und spielte ein paar Stücke vom Blatt. Der Mimik des Prüfers ließ sich nicht entnehmen, was er von dem Vorspiel hielt. Deshalb improvisierte der kleine Herr Carl ungefragt noch eine geschlagene Viertelstunde über die Melodie des Chorals „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Danach drehte er sich fragend nach dem kahlköpfigen Herrn Klavierlehrer um. Dessen Miene ließ nichts Gutes ahnen. Doch der kleine Herr Carl ließ sich davon nicht einschüchtern. Er wusste von seinem Vater, dass an so einer Musikschule die Profis arbeiten, Menschen mit einem untrüglichen Gespür für junge Talente, die sich nichts sehnlicher wünschen, als begabte Nachwuchsmusiker unter ihre Fittiche zu nehmen, Lehrer, denen nicht ihr eigener Ruhm, sondern nur das Glück und der Erfolg ihrer Schüler am Herzen liegt. Der kleine und der große Herr Carl warteten also gespannt auf das Urteil des Profis. Der Lehrer atmete schwer, schüttelte den Kopf und sagte mit Leichenbittermiene zu Vater Carl: „Also so leid es mir tut, aber ihren Sohn können wir hier nicht unterrichten. Er ist völlig unmusikalisch. Vielleicht sollte er es lieber mit Fußball versuchen.“

      Ein neuer Versuch

      Nachdem der kleine Herr Carl wegen Unmusikalität von der Musikschule abgelehnt worden war, herrschte große Aufregung im Hause Carl. Vater Carl war fassungslos und suchte im Lokalblatt nach den Trainingszeiten der Fußballer. Mutter Carl war empört und wollte sich beim Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht beschweren. Carlinchen war verstimmt, weil sie zum ersten Mal seit ihrer Geburt nicht im Mittelpunkt stand. Der kleine Herr Carl aber stand hoch erhobenen Hauptes da, stampfte energisch mit den Füßen auf und sagte mit fester Stimme: „Pah, die haben doch keine Ahnung.“ Nachdem es der kleine Herr Carl vehement abgelehnt hat, sich das Fußballtraining der D-Jugend wenigstens spaßeshalber einmal anzuschauen, suchten seine Eltern nach einer Alternative zur Musikschule. Sie wurden dort fündig, wo per definitionem die Nächstenliebe zu Hause ist: In der Kirche. Der hochangesehene Kantor Bierthal in Kamenz konnte es weder mit seinem Gewissen noch mit seinem Portemonnaie vereinbaren, einen willigen Novizen abzulehnen, sei er auch noch so unbegabt. Deshalb hat er den kleinen Herrn Carl trotz aller berechtigter Bedenken als Schüler angenommen. Selbstredend entgingen Bierthal die eklatanten musikalischen Mängel seines Schülers nicht. Um seiner Musik die größtmögliche Emotionalität und Tiefe zu verleihen, hatte der kleine Herr Carl aus eigenem Empfinden heraus stets Dinge in die Musik hineininterpretiert, die nicht in den Noten standen. Da wurde hier mal eine winzige Verzögerung, da eine hauchzarte Beschleunigung eingeschleust, da wurde die Lautstärke geringfügig differenziert oder einzelne Noten akzentuiert, obwohl das gar nicht im Notenblatt stand. Freilich machten diese sorglosen Hineininterpretationen beim kleinen Herr Carl immer etwas her, aber sie waren eben falsch und deshalb mussten sie dem Kind ausgetrieben werden. Kantor Bierthal hat sich darum vorbildlich bemüht, indem er den kleinen Herrn Carl immer und immer wieder Taktarten und Taktfolgen hat üben lassen. Schon bald konnte der kleine Herr Carl exaktere Rhythmen anschlagen als jedes handelsübliche Metronom. Wenn er wollte. Aber er wollte eben nicht.

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