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Lust auf Stadt


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als Revier abenteuerlustiger Kindermeuten. Auf diesem hier in der Kasseler Karlsaue wuchern Tomaten, Rittersporn und Sonnenblumen. Nur wenige Schritte weiter erhebt sich ein runder Erdturm, aus dem Kohlrabi und Rhabarber wachsen.

      Packt jetzt auch die Kunst die Landlust? Geht es heute, dreißig Jahre nachdem Joseph Beuys 7.000 Documenta-Eichen in Kassel pflanzte, immer noch darum, die Urbanisierung zurückzudrängen?

      Ganz und gar nicht. Was die Documenta mit derlei erdigen Werken fragt, ist nicht: Wie viel Stadt? Sie fragt: Was wollen die Menschen von der Stadt?

      Grün statt Müll. Gesunde, regional angebaute Lebensmittel statt industrieller Ernährung. Miteinander statt Isolation. Kultur statt Kommerz. Was Kassel zeigt, ist dass das geht, und auch, welches Potenzial für ein besseres Leben in jeder Stadt steckt. Und wie schnell Veränderung möglich ist, ohne dass sie langwierig geplant ist und es teuer wird.

      Das ist eine gute Nachricht. Denn viele Städter hadern, wie sie ihr Bedürfnis nach Freiraum, Natur, Teilhabe und Gemeinschaft, nach Ruhe, Entschleunigung, Sicherheit und Ursprünglichkeit mit dem hektischen, lauten, grauen Leben im Ballungsraum vereinbaren können. Jedem dritten Stadtbewohner fehlen diese Dinge, wie eine YouGov-Umfrage im Auftrag von ZEIT ONLINE ergab.

      Diese Sorge um lebenswerte Räume in der Stadt lässt engagierte Bürger gegen die Berliner Mediaspree-Büros und den Bahnhof Stuttgart 21 protestieren, für den Erhalt des Hamburger Gängeviertels und den unverbauten Freiraum auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Andere treibt es zum Gärtnern zwischen Häuserwänden und auf die Mietscholle draußen vor die Stadt. Oder zumindest in den Bioladen. Dutzende Raus-aufs-Land-Bücher suchen nach Heilung für das, was in der Stadt nervt und fehlt.

      Dabei ist die Stadt der Industrialisierung, in der Menschen auch unter erbärmlichen Umständen ausharrten, weil es dort Arbeit gab, längst Vergangenheit. Güterbahnhöfe sind heute Messehallen für Lifestyleprodukte und Fabriketagen Wohn- und Arbeitsräume. Der von Alexander Mitscherlich 1965 in Die Unwirtlichkeit unserer Städte beschriebenen Gesichts- und Herzlosigkeit begegnete die Stadtplanung mit besseren öffentlichen Plätzen und mehr Grün. Gegen die aufziehende Segregation legten Bund und Länder 1999 das Programm Soziale Stadt auf. Die deutschen Städte wurden Stück für Stück lebenswerter. Heute machen es die Möglichkeiten des mobilen Internet bequemer denn je, sich in der Stadt zu orientieren, zu bewegen, Freunde zu treffen und Dienstleistungen zu buchen.

      Dennoch bleibt das Stadtleben herausfordernd. Großstädte sind der Austragungsort eines beschleunigten, vernetzten, von globalen Kräften geprägten Arbeits- und Lebensstils. Es ist gerade die Verdichtung von Kapital, Macht, Dienstleistung und Innovation, die Städte wirtschaftlich erfolgreich macht. In Deutschland teilt sich ein Netz von Städten die Aufgaben einer nationalen Schaltzentrale: München, Stuttgart, Köln, Frankfurt am Main, Düsseldorf, Hamburg, Berlin – nach den Vorhersagen sind sie es, die auch in Zukunft noch wachsen.

      Nur geht dieser Erfolg zulasten der Lebensqualität. Austauschbare Hochhäuser und Shoppingarkaden machen sich in den Innenstädten breit, die außerdem unter Touristenmassen, Verkehrschaos und Mietpreisexplosion leiden. Stadtbewohner haben dieser Entwicklung lange zugesehen. Aalglatte Büros und Cocktailbars, perfekt ausgeleuchtete Einkaufsparadiese, Riesenräder und Clubterrassen wurden zu den Spielplätzen der Erlebnisgesellschaft. Statt Verantwortung zu übernehmen für den Lebensraum vor der Haustür, gibt es für viele Menschen nach getaner Arbeit nur ein Ziel: Es sich zu Hause gemütlich machen. Die Unmittelbarkeit des Lebens bleibt so auf Abstand.

      Doch es scheint, als sei das Ende dieser Phase erreicht. Nicht nur der vermehrte Auftritt einer als Wutbürger denunzierten, engagierten Öffentlichkeit ist ein Zeichen dafür.

      Auch hat der Rückzug aus dem Öffentlichen, und damit auch aus dem Echten, Wachsenden, Schmutzigen und Sinnlichen wenig vorangebracht. Wer stadtmüde aufs Dorf ziehen oder den Traum vom Leben auf dem Land in gesicherten Wohnkomplexen träumt, hat keine Lösung für die Probleme großer und kleiner Städte. Und den meisten Menschen erlauben ihr Arbeitsplatz, ihre familiäre und finanzielle Situation einen solchen Schritt schlicht nicht.

      Nein, die Lösung liegt in der Stadt selbst. Sie gilt es gemeinschaftlich zu gestalten, angetrieben von einer neuen Lust auf Stadt. Mit einer Themenwoche will ZEIT ONLINE diese Stadtlust anfachen. Wir haben Projekte und Ideen gesucht, wie das Stadtleben mit dem Bedürfnis nach Mitgestaltung, einer intakten Umwelt und Pausen vom komplexen Alltag vereinbar bleiben kann.

      Leer stehende Industriehallen und Wohnhäuser, Brachflächen und stillgelegte Bahntrassen können zwar den Spaziergang über weites Feld in einer grünen Landschaft nicht ersetzen. Aber es sind Orte, an denen Menschen sich austoben können. Parks, saubere Flüsse, begrünte Dächer und Fassaden sind es, die Städte lebenswerter machen und gleichzeitig dem Klimawandel und der Energiefrage Rechnung tragen.

      Wir plädieren für eine neue Sicht auf die Stadtnatur und auf den Wert des Wachsenden. Denn er bietet Erwachsenen und Kindern die Möglichkeit, den Kopf aus- und die Sinne anzuschalten: Bäume riechen, Holz und Erde fühlen, Vögel hören, abtauchen und sich treiben lassen. Auch das ist möglich in der Stadt.

      Wer aufmerksam seine Umgebung wahrnimmt, kann in der vermeintlich hektischen Großstadt die schönsten Orte der Ruhe finden. Wer sich bewusst für eine entschleunigte Art der urbanen Fortbewegung entscheidet, beispielsweise mit dem Fahrrad, kann aus rasendem Stillstand ein selbstbestimmtes Fortkommen machen.

      Auch urbane Mythen stellen wir infrage. Ist das Stadtleben per se wirklich einsamer und – besonders für Kinder und Jugendliche – gefährlicher als das Leben auf dem Land? Wie groß der Wunsch nach einem selbstbestimmten Miteinander an einem gemeinsam genutzten Ort ist, zeigen die vielen genossenschaftlich organisierten Baugemeinschaften. Wo Wohnungsbaugesellschaften darauf reagieren, kann die Stadt für alle Lebensphasen zu einem lebendigeren Zuhause werden. Und zwei Autorinnen und Mütter geben zu, dass Städte für ihre Kinder längst ein gutes Zuhause sind.

      Es lohnt sich, den Lebensraum Stadt zurückzuerobern. Wie es die Documenta in Kassel vormacht: Statt sich abzukapseln und wegzuziehen, können sich Menschen in die Stadt hineinstürzen – und sie verändern.

Stadt erleben

      Die Stadt mit der Nase entdecken

      Sie meinen, nur Landluft rieche gut? Dann braucht Ihre Nase eine Schulung! Urbane Smellscape-Projekte erweitern unsere Wahrnehmung.

       VON RABEA WEIHSER

      Einatmen, 20.000 Mal am Tag. Mehr als zwölf Kubikmeter Luft saugen wir durch unsere Nasen in die Lungen und mit ihnen unzählige Geruchsmoleküle. Doch nur selten sind wir uns bewusst, was wir da aufnehmen. Die Landluft hat es immerhin an die Spitze der Geruchsstereotype geschafft. Von Kuhdung, Moderteich und Stinkmorchel schwärmt man besonders in urbanen Ballungsräumen. Erst wo die Welt nach geschnittenem Gras dufte, sei der Mensch ganz bei Sinnen.

      Die Stadtluft gilt als schmutzig, verbraucht und ungesund. Doch wer ihr etwas Aufmerksamkeit schenkt, kann einiges erleben: Die Winde in den Häuserschluchten erzählen uns Geschichten über unser gesellschaftliches Zusammenleben, über Arbeit, Kinder, Ernährung, Hygiene, Architektur, Technik, Geschichte. Bloß hat eine durchschnittliche Menschennase kein Ohr für das Säuseln der Geruchsmoleküle. Ohne Umwege erreichen die Informationen aus der Luft unser limbisches System, das unsere Gefühle steuert. Wir reagieren also oftmals, ohne zu wissen, warum.

      Im Lauf der Evolution haben wir unseren wichtigsten Sinn vernachlässigt und ins Unterbewusste sinken lassen. "Man nimmt die Umgebung zuerst mit der Nase wahr", sagt die Duftforscherin Sissel Tolaas. "Danach bestätigen die Augen, was die Nase schon weiß." Die Chemikerin widmet ihre Arbeit den Geschichten, die in der Luft liegen. Und sie möchte dazu beitragen, dass alle zuhören lernen.

      "Jede Stadt hat einen Eigengeruch, eine Identität", sagt sie. Die Viertel ihrer Berliner Wahlheimat hat Tolaas mittlerweile duftkartografiert: Neukölln riecht, neben Döner, nach Weichspüler und Wäschetrockner – hier wohnen viele kinderreiche Familien. Charlottenburg hingegen nach Seifensauberkeit. Reinickendorf nach Sonnenstudio. Und aus dem S-Bahn-Schacht Jannowitzbrücke dünstet noch immer die sozialistische Vorwendezeit mit ihren