Dr. Jens-Michael Wüstel

Das Corona-Trauma


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Frau sind typische Zeichen für eine Phase der Anpassung. Körper und Seele müssen sich an die neuen Umstände gewöhnen. Die gute Nachricht ist, dass alle Störungen heilen können. Alle Menschen verfügen über angeborene Selbstheilungskräfte der Psyche, die nach einer Stresssituation aktiviert werden. Wir können diese Kräfte unterstützen, indem wir eine Art Psychohygiene betreiben. Wir pflegen das Gute und Heilsame in uns. Und wir fegen und putzen das Belastende heraus.

       Verlust und Trennung

      Die Erfahrung, von etwas getrennt zu werden, setzt mit unserer Geburt ein. Da werden wir aus dem Mutterleib verstoßen, die Verbindung wird gekappt. Was könnte schmerzlicher sein? Viele psychologische Theorien und esoterische Vorstellungen kreisen um diesen Ur-Moment der Geburt. Er ist immer verbunden mit dem (unbewussten) Gefühl des Verlusts. Verlust von Wärme, Geborgenheit, Versorgt-Sein und Zugehörigkeit.

      Dieser kleine Exkurs ist wichtig, um zu begreifen, warum das Coronavirus uns seelisch derart stark verletzen kann. Es stellt nämlich alle Sicherheiten, die wir uns im Leben so mühsam geschaffen haben, in Frage. Diese Sicherheiten dienen dazu, uns wieder gewärmt, geborgen, versorgt und zugehörig zu fühlen. Wie im Mutterleib. Nun aber haben wir Angst, dass unsere erarbeitete Stabilität wegfallen könnte. Insofern ist die Pandemie mit einer tief empfundenen Verlustangst verbunden. Aber es ist auch ein Gefühl der Trennung, das ausgelöst wird. Corona isoliert uns von vielem, was bisher selbstverständlich Bestandteil unseres Lebens war. Augenfällig ist dies bei den Einschränkungen im Alltag, etwa den Ausgangssperren. Wir werden von unseren sozialen Gruppen getrennt. Am Arbeitsplatz. Beim Sport, Einkaufen und Reisen. Im Freundeskreis. Sogar in der Familie. Dadurch wird in der Tiefe unseres Unterbewusstseins eine noch viel stärkere Angst aktiviert, die wir bei der Geburt kurz erfahren mussten: Die Angst, wir könnten ganz allein auf dieser Welt sein. Für immer. Erst der Kontakt mit der Mutter hatte uns damals als Neugeborene getröstet. Aber wer tröstet uns heute?

      Wegnehmen, fortschicken, trennen. Das sind üble Erfahrungen, die uns belasten. Alte Menschen haben oft noch Erinnerungen an die Verschickungen der Kinder im und nach dem Weltkrieg. Da wurden Familien zerrissen, auf den Bahnhöfen spielten sich Tragödien ab. Zwar ging es letztlich darum, den Kindern etwas Gutes zu tun, aber sie erlebten es oft als erhebliche Belastung. Interessanterweise scheinen auch die Kinder dieser Kinder, die sogenannten Kriegsenkel, Schwierigkeiten mit solchen Situationen zu haben. Ich werde darauf noch näher eingehen. Tatsache ist, dass die Wirkungen des Coronavirus in die Tiefe unserer Psyche reichen. Alte Ängste werden geweckt, alte Traumatisierungen reaktiviert.

       Ich kann im Moment schlecht einschlafen. Ich grüble viel, frage mich, ob ich im Leben alles richtig gemacht habe. Ich denke oft an meine Eltern. Meine Mutter lebt noch, sie ist dement. Unser Verhältnis war nie innig, aber jetzt verspüre ich den Wunsch, sie öfter zu besuchen und kann es nicht. Ich träume davon, dass sie dasitzt und aus dem Fenster schaut, auf mich wartet. Obwohl es nicht real ist, zerreißt mir der Gedanke daran das Herz.

      

      Es ist ungewöhnlich, solche Worte von einem Mann zu hören. Schon dies ist ein Alarmzeichen für eine verwundete Seele. Hier wirkt der Trennungsschmerz. Hier hat die Corona-Krise freigelegt, was Jahrzehnte verdrängt wurde. Es ist wichtig, sich diesen Gefühlen zu stellen. Sonst laufen wir Gefahr, nach dieser schweren Zeit wieder in dieselben Mechanismen zu verfallen. Arbeit, Konsum, Ablenkung decken dann wieder die schmerzhafte Wunde zu. Es ist wie der berüchtigte Teppich, unter den alles gekehrt wird.

      Der Klient war übrigens bereits früher bei mir. Er gehört zu den oben erwähnten Kriegsenkeln, und wir hatten an dem Trennungsthema schon gearbeitet. Die Großmutter war sehr früh von den eigenen Eltern getrennt worden. Sie wurde bei einem Bombenangriff schwer verletzt. Der Großvater war im Krieg gefallen. Die Mutter des Patienten kam während der Nazi-Zeit erst in ein Kinderheim, später wurde sie von der Tante aufgezogen, zu der sie nie eine liebevolle Beziehung aufbauen konnte.

      Wir können nur ahnen, welcher Schlag hier die Seele eines kleinen Menschen traf. Schläge verbeulen, sie dellen ein und verformen uns. Es entstehen Splitter, Teile, Fragmente. Und diese Erlebnistrümmer bleiben in den Betroffenen manchmal zeitlebens wirksam. Die Beziehung zwischen meinem Klienten und seiner Mutter war immer schwierig gewesen, er hatte nie eine wirklich liebevolle Beziehung zu ihr aufbauen können. Aber in der Pandemie-Krise bricht sich offenbar der Wunsch nach Aufhebung der Trennung Bahn. Wir müssen damit rechnen, dass solche Biografien nach der Krisenzeit vermehrt berichtet werden. Und auch diese – weit in die jeweiligen Familiengeschichten zurückreichenden – Folgen des Corona-assoziierten Traumas gilt es zu berücksichtigen.

       Verlieren

      Im ersten Moment scheinen Verlust und Verlieren sich ähnlich, und sie sind es natürlich von der Wortherkunft und Bedeutung auch. Jedoch finden sich beim Verlieren noch weitere Nuancen. Verlieren ist – insbesondere für Männer – gleichbedeutend mit Versagen und Aufgeben. Hier wirken zum Teil archaische, biologisch bedingte Konzepte, die ich in meinem Buch „Männliche Depression“ (Beltz, 2018) ausführlich dargestellt habe.

      Und durch Corona können wir in der Tat viel verlieren. Unsere Gesundheit, Angehörige, Freunde, Mitmenschen, aber auch Wohlstand, Geld, Arbeit usw. Wie geht man in der kommenden Zeit mit diesen Verlusten um, ohne sich als Versager zu fühlen? Hätte man es nicht schon vorher wissen können? Auf den Partys gab es doch schon immer die Propheten der Apokalypse, die in ihren Kellern und Garagen Fischkonserven horten und Gaspistolen ihr eigen nennen. Ist man(n) ein Versager, wenn man in alles dennoch einfach hineingeschliddert ist? Nun ja, nicht nur uns „Normalos“ passieren Missgeschicke:

       David stieg weinend und mit verhülltem Haupte den Ölberg hinauf; er ging barfuß. (2. Sam; 15, 13 ff)

      Auch David, der große König des Alten Testaments, musste aus Jerusalem fliehen, nachdem er die Stadt und sein Reich an seinen Sohn verloren hatte. Trauernd lief er barfuß einen Berghang hinauf. Seine Barfüßigkeit war ein starkes Symbol. Denn Schuhe waren das Privileg der Reichen und Mächtigen. Arme Leute gingen blanken Fußes. Ihre Haut war die Belastungen gewohnt. Diese Menschen spürten buchstäblich „den Boden unter den Füßen“. Sie waren förmlich „geerdet“. Aber ein König? Es ist ein großes Zeichen, das die Bibel hier wählt. Ein Herrscher kommt in Kontakt mit dem Dreck und Unrat der Straße. Steine, Dornen und heißer Sand setzen seinen gepflegten Füßen zu. Auch David wird geerdet, nun steht er mit beiden Beinen auf dem Boden.

      Und was bedeutet dieses Bild in Zeiten der Pandemie? Der Schmutz, der des Königs Füße malträtiert, ist das Virus. Wir fühlen uns beschmutzt. Etwas ist an uns, in uns. Früher galten ja manche Kranke als „unrein“. Und nun haben wir selbst unsere Sauberkeit, unsere Reinheit verloren. Ein unbehagliches Gefühl. Niemand würde sich in ein Bett legen wollen, in dem Würmer und Wanzen herumkriechen. Und jetzt soll ich Luft atmen, die vielleicht mit Coronaviren verseucht ist?

      An dieser Stelle müssen wir uns klar darüber werden, dass wir es hier immer mit Gefühlen zu tun haben. Gerade jetzt sind es Ahnungen und Ängste, die im Zusammenhang mit Verlusten stehen könnten. Gewissheit haben wir (noch) nicht. Das Ereignis eines Verlusts wird von unserer Psyche quasi vorweggenommen, ohne dass es bereits eingetreten ist. Leider ist jedoch die Gefühlserfahrung unabhängig von der Realität. Der Schaden an unserer Seele wird auch dann angerichtet, wenn sich später herausstellt, dass „alles gar nicht so schlimm war“. Die Gefühle haben Realitätscharakter. Starke und chronische Ängste lösen Prozesse aus, die für sich genommen krankmachend sind. Diese Verselbständigung von Gefühlen kennen wir aus dem Alltag. Wir können uns vor einem dunklen Keller fürchten. Wir zittern und jammern. Später stellt sich heraus, dass es ein ganz harmloser Keller ist. Diese Erkenntnis ändert jedoch nichts daran, dass wir furchtbar gelitten haben. Und dass wir auch in Zukunft wieder Angst haben werden…

       Hilflosigkeit

      Die Trauma-Forschung konnten zeigen, dass das Empfinden der Wehrlosigkeit und des Ausgeliefert-Seins bei den meisten Opfern die Hauptbelastung ausmacht. Die Traumatisierungen sind umso ausgeprägter und anhaltender, je stärker die Hilflosigkeit real (oder gespürt) war. Offenbar ist es für das Erleben des Menschen