Marc Lindner

Flucht aus dem Morgengrauen


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zu viel reden. Und ich war stumm geworden, vereinsamt, inmitten einer Stadt. Hatte mich wie ein Fisch in der Masse versteckt. Doch jetzt war Schluss damit, ich würde einsteigen, beim Schaffner stehen bleiben, einmal um die Welt bitte, und dann ging es los. Ich wollte raus, raus aus dem System, raus aus der Masse, sie er­drückte mich. Endlich wieder allein sein, dann würde das mit dem Einsam sein schnell aufhören. Keiner der versuchte mich zu zensieren, keine Ab­striche, nur noch ich. Endlich diese Schuppen loswerden, sie ließen meine Seele vertrocknen. Ich musste raus aus diesem Rennen. Du bist verrückt, erinnerte ich mich wieder an die Frau. Ich lachte, nein ich war normal, nur keiner konnte das sehen.

      Wie ich die restliche Nacht und den dann anbrechenden Morgen verbrachte, war mir nicht bewusst.

      Kleinigkeiten in meinen Augen, Nichtigkeiten hatte ich noch eilends erledigt. Für den Rest konnte ich die Aufbruchsstunde kaum noch erwarten. Und der Dicke hatte wirklich gewollt, dass ich zwei Wochen hätte warten sollen. Mehr als ein amüsiertes Lachen konnte mir dieser Gedanke nicht abverlangen.

      Es war noch nicht lange her, dass ich den Mann das letzte Mal gesehen hatte und doch wollte mir meine Erinnerung ihn mir nicht mehr originalgetreu ab­bilden. Vielleicht war es um die Zeit zu überbrücken, auf jeden Fall malte ich mir eine Karikatur des Mannes, die nun in meinem Geist herumspuke. Und ich sah ihn nicht bloß einmal, denn für jede Geschichte, die ich in seinem Gesicht ge­lesen hatte, fertigte ich eine neue Gestalt an, die ihm versuchte gerecht zu werden. Ich malte mir aus, wie er in seiner Firma umherstolzierte, wie er die An­deren befehligte, wie ein Feldherr sah er für mich aus. Groß, imposant und dick. Auf eine gewisse Weise lächerlich bei dem Versuch sich seine eigene Macht vorzuspielen, wie eine tobende Seifenblase, die allen Angst machen wollte, damit keiner sich an sie heranwagte.

      In mir war ich immer noch ein Kind geblieben, nicht weil ich nicht die Reife gehabt hätte, erwachsen zu sein, sondern weil ich es nicht wollte. Ich beabsichtigte nicht zu jenen Fischen gehören, die mich mit ihren fragwürdigen Werten abzumessen gedachten. Gewogen, und für zu leicht empfunden. Darüber konnte ich nur lachen. Ich merkte, wie die Anderen zu mir herab sahen. Mit ihren großen, blinden Augen. Und ich sah zu ihnen hinauf, wie bei einem Hoch­haus. Ich wusste, ich trachtete nie dorthin zu kommen, ich hatte schon als kleines Kind immer Höhenangst gehabt. Die Luft war mir da oben zu dünn. Zu wenig Frei­heit, da konnte man nicht laufen. Das beabsichtigte ich aber, das brauchte ich. Und jetzt, einmal um die Welt.

      Seltsames Gefühl war es dann doch, als ich, ohne mich umzu­drehen, aus der Wohn­ung gegangen war, und nun durch die Straßen der Stadt ging. Wie ein Frem­der kam ich mir auf einmal vor, irgendwie hatte ich das Gefühl als müsste jeder merken, dass mit mir etwas nicht stimmte. Doch es blieb keiner stehen, keiner drehte sich um. Und immer noch liefen sie. Gehetzt sahen sie aus. Mir fiel es auf einmal noch mehr auf als sonst, viel schneller kam es mir vor, wie sie an mir vorbei liefen. Alle waren sie auf der Flucht, es war wirklich an der Zeit, dass ich hier einmal wegkam. Alle durchgedreht. Ich wollte ihnen noch weiter zusehen, doch ich konnte es nicht. Sie störten mich auf einmal, mit ihren gesenk­ten Blicken, mit ihren vollen Tüten und ausdruckslosen, leeren und star­ren Augen, die sie vor jedem zu verstecken versuchten. Die schweren Wolken hatten sich über Nacht verzogen. Mir erhellte eine aufsteigende Sonne den Weg.

      Aus weiter Ferne konnte ich den Marktplatz erkennen. Unzählige kleine Straßen und Gassen liefen dort zusammen und es gab keinen Strom in dem die Men­schen untergehen konnten.

      Den Dicken und die Leute vom Fernsehen konnte ich aber noch nicht aus­machen. Die würden sich wohl irgendwo in der Mitte tummeln. Auffällig, fast störend postiert. Doch dieses Mal mussten sie warten, nicht wie zuvor die Leute erschrecken, kein Aufdrängen mehr. Sicher eine ganz neue Erfahrung für die junge, attraktive Frau. Ein Bild, auf das ich mich freute. So viel gab es nun, wo­rauf ich gespannt war, dass ich es kaum noch erwarten konnte. Das Dreh­buch und die Spielregeln hatte ich vergessen, doch ich wusste, dass es auch so eine spannende Geschichte werden würde. Einfach nur treiben lassen, aber auf­pas­­sen vor diesem schier unausweichlichen Strom der Men­schen, die das Ganze dann auch noch Leben nannten.

      Dann betrat ich den Marktplatz und mit jedem Schritt wurde mein Blick freier, da keine Gebäude ihn mehr einengten. Während ich auf die Mitte zu­hielt, ließ die Menschenmasse nach und es gab keinen mehr der mir entgegen kam. Langsam lichtete sich der Schleier der Passanten und da sah ich sie.

      Sie beanspruchten viel Platz für sich, oder vielleicht war es wieder die Masse, die sich aus Angst nicht dorthin wagen wollte. Ich aber hielt geradewegs auf sie zu. Den Dicken bemerkte ich diesmal als Ersten.

      Unruhig blickte er um sich, als würde er selbst dieses Abenteuer bestreiten. Die Frau wirkte eher genervt als angespannt. Ihr Boss hatte ihr sicher einge­heizt, denn sie sah nicht aus, als glaubte sie, dass ich kommen würde. Und bei meiner Reaktion hatte ich ihr keinen Grund gegeben, es zu tun. Zu gelassen war meine Reaktion gewesen, als dass ich mir ernsthaft Gedanken darüber ge­macht haben könnte. Sie hatte nicht in meinem Gesicht gelesen, sonst wüsste sie es. Sie kannte mich nicht und hatte mich mit den Werten gemessen, die sie kannte. Und da reagierte man anders.

      Obwohl der Dicke sich unentwegt umdrehte und umher stierte, war es die Frau, die mich als Erste bemerkte. Ihre Kinnlade drohte herab zu stürzen, doch mit ihrer Erfahrung und ihrer schwatzhaften Art gewann sie ihre Beherrschung schnell zurück. Ohne Konrad zu beachten, ging sie an ihm vorbei und ließ ihn nichts ahnend stehen. Wieder mit einem gewinnenden Lachen im Gesicht kam sie auf mich zu. Diesmal war sie gleich von drei Kameras umringt, wobei sich eine auf mich stürzte, eine sich ganz ihr widmete und die dritte sich etwas ent­fernt postierte.

      «Wie fühlst du dich?», fragte sie mich, während sie sich mir annäherte, als wären wir Altbekannte.

      Die typische Journalistenfrage, wie ich sie hasste. So machten die das immer. Stand ein Mann vor seinem abgebrannten Haus. Und wie fühlen sie sich? Ein­fach kein Feingefühl, diese Sensationsreiter.

      «Gut», gab ich mich wortkarg und erwiderte ihr Lächeln.

      «Wo hast du denn dein ganzes Gepäck gelassen?», kam eine frauenspezifische Frage gleich hinterher. Und in eben dem Augenblick wusste ich, dass mir dieses Spiel Spaß machen würde. Es war ganz nach meinem Geschmack.

      «Oh, das ist alles. Ich reise nur mit leichtem Gepäck», erklärte ich ihr und nahm den Rucksack von der Schulter, damit die Kamera ihn auch gut einfangen konnte.

      «Ich hatte schon befürchtet du kämst nicht», vernahm ich eine bebende Stim­me, während eine breite Pranke meinen nun freien Rücken mit voller Wucht traf.

      «Nicht doch, wo es ein Abenteuer gibt, da bin ich zu Hause.» Die Antwort galt der Kam­era, die scheinbar den Weg in meine Nase suchte.

      «Und du bist bereit loszugehen?» Die Frau blieb skeptisch.

      «Sobald der Vertrag unterschrieben ist», klärte ich sie über meine einzige Beding­ung auf.

      «Hör mal, ich bin ein Ehrenmann», klopfte mir der gestandene Mann aber­mals auf den Rücken und ich drohte fast nach vorne zu fallen.

      «Es ist nicht persönlich gemeint, das sicher nicht, aber wie stünde ich da, wenn ich noch bevor ich den Diplom in Hände halte, alles vergessen würde, was ich gelernt habe», wollte ich ihm mein Benehmen verständlich machen.

      «Recht hast du, Kleiner», lobte er mich. «Du wirst es noch weit bringen.»

      «Ja, hoffentlich einmal um die Welt», meinte ich lachend.

      Mit seiner rauen, dröhnenden Stimme fiel er in mein Lachen ein. Dieser un­mög­liche Mensch wurde mir richtig sympathisch. Wir verstanden uns gut. Nur die Frau vom Fernsehen wirkte leicht gekränkt.

      Die Einstiegsszene war keineswegs nach ihrem Geschmack verlaufen. Das sah man sogar ihren Kameraleuten an, die sich fragten, was sie eigentlich hier soll­ten. Drei Mann, und ich lieferte kein Material. So einen hatten sie wirklich nicht erwartet. Doch sie mussten es nun versuchen. Die Frau wusste ihren Chef im Nacken. Und ihre Furcht vor ihm war größer als ihr Missfallen an meinem faden Benehmen.

      «Wieso hast du dich eigentlich so schnell überreden lassen?», klammerte sie sich an mich.