Gisela Schaefer

Von Gnomen und Menschen


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nicht befolgen?“

      „Die kommen in die Hölle, ein so grauenvoller Ort, dass ich kein Wort darüber verlieren möchte von dem, was ich gehört habe.“

      „Warum streiten sie dann trotzdem, ich versteh das nicht,“ sagte Haralds Frau Line.

      „Ich auch nicht!“ Harald zog die Schultern hoch. „Dabei gehen sie mindestens einmal in der Woche in das Haus Gottes und versprechen zu gehorchen, aus Angst vor seinem Unmut und seiner Hölle. Kaum sind sie draußen, haben sie alle Versprechen vergessen und sind so unanständig wie eh und je.“

      Die Gnome schüttelten entsetzt den Kopf, als Knut, Eric und Vindale wieder hundert Jahre später von Kriegen berichteten, die wegen des Glaubens an diesen Himmelsgott geführt wurden – weil nämlich die Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen von IHM hatten und unbedingt ihr eigenes Bild allen anderen aufzwingen wollten. Ganze Heerscharen von bewaffneten Rittern kämpften auf Leben und Tod gegen ‚Ungläubige‘. „Obwohl das gar nicht stimmt,“ erklärte Knut, „denn alle Menschen glauben an irgendeine Art von Gott. Sie sind also nicht ungläubig, sondern andersgläubig.“

      Als er einen typischen Ritter beschrieb, waren sie nicht sicher, ob er ihnen einen Bären aufbinden wollte.

      „Brustpanzer?“

      „Kettenhemd?“

      „Helm mit Visier?“

      „Alles aus Erz? Wie kann man sich denn darin bewegen?“

      „Nicht gut,“ kam seine prompte Antwort, „die schwere Rüstung ist Segen und Fluch gleichermaßen. Sie schützt vor den Waffen der Feinde, aber macht ihre Träger schnell müde … und wenn sie umfallen oder vom Pferd stürzen, liegen sie dort wie Käfer auf dem Rücken, total hilflos.“

      So verbrachten die Gnome nach den Reisen ihrer Weisen Männer viele Abende mit nicht enden wollenden Fragen, bis sie alle eine ungefähre Vorstellung hatten von der Lebensweise und den Gepflogenheiten der Menschen – was wiederum jedes Mal zu dem Entschluss führte, weiter im Verborgenen zu leben und ihren eigenen Sitten und Gebräuchen treu zu bleiben.

      Die Ansiedlung am Waldrand war mit den Jahren langsam aber stetig gewachsen, erreichte jedoch nicht die Größe einer Stadt, von denen es immer mehr im Lande gab, mit Tausenden Menschen darin, die sich Bürger nannten und die ein Handwerk ausübten oder Handel trieben. Und weil es so viele Menschen gab, genügte es nicht mehr, ihnen Vornamen zu geben. Jeder erhielt nun auch einen Nachnamen oder Familiennamen. So wurde zum Beispiel aus einem einfachen Matthias ein Matthias Müller, wenn dieser eine Mühle betrieb und von Beruf Müller war. Oder ein Gottlieb, der Schuhe herstellte oder flickte, wurde Gottlieb Schuhmacher genannt. Kinder und Ehefrauen bekamen den Nachnamen des Vaters bzw. Ehemannes.

      Solveig konnte nicht anders und musste seinen Bruder Knut ein bisschen necken: „Dann könnten wir dich Knut Weise nennen, oder Knut Zaubermann.“

      „Und dich, Solveig, nennen wir Tischemacher,“ bemerkte ein anderer.

      „Tischler,“ verbesserte ihn Knut lachend. „Einen Mann, der Tische und andere Möbel aus Holz herstellt, nennen sie Tischler … aber sonst liegt ihr vollkommen richtig.“

      Dieser Abend endete in großem Gelächter, weil jedem von ihnen ein passender Name für seine Freunde und Verwandten einfiel, wie zum Beispiel Steinklopfer, Wurzelgraber, Scheibenschleifer, Murmelmacher, Ohrenzieher und Kräuterpantscher.

      „Da wir gerade von passenden Namen sprechen,“ sagte Knut, „ihr Kaiser ist jetzt ein Friedrich Barbarossa, das heißt Friedrich Rotbart.“

      Da es niemanden mehr unter den Gnomen gab, der je einen Nordmann gesehen hatte mit blondem oder rotem Bart, rief die Vorstellung von Haaren ähnlich dem Fell des Fuchses, und dann auch noch mitten im Gesicht, weitere Heiterkeitsausbrüche hervor.

      „Ob rot, schwarz, gelb oder grau ,“ Knut verzog missbilligend seine Mundwinkel, „es hängen in diesen Bärten andauernd Speisereste, oder es klebt Bier daran … nicht sehr appetitlich. Etwas anderes hat mir dagegen sehr gefallen: Es reisen neuerdings Spielleute mit Musikinstrumenten durch die Lande, die wunderschöne Balladen singen, von Rittern und Edelfrauen, von Liebe, Hass und Heldentum … das geht richtig zu Herzen. Andere erzählen Geschichten, eine davon handelt von den Nibelungen, einem Zwergenvolk, das weitläufig mit uns verwandt ist.“

      Weder die Menschen noch die Gnome konnten ahnen, dass all die Grausamkeiten des 13. Jahrhunderts wie Grippe und Kriege noch überboten wurden von der Kältewelle, den Hungersnöten und dem Schwarzen Tod oder der Pest des 14. Jahrhunderts. Die Weisen Männer, die 1320 und 1420 in die Ansiedlung kamen, konnten nichts als Bedrückendes berichten. Jammer und Elend in allen Familien. Allerdings gab es auch – wie immer - staunenswerte Fortschritte: So hatte der Kirchturm inzwischen eine Uhr bekommen, so dass jeder die genaue Tageszeit kannte. Die Bauern auf dem Feld ernteten ihr Getreide nun mit einem sehr scharfen Gerät, das sie Sense nannten

      und das soviel Halme auf einmal schnitt, wie sie mit einer weit ausladenden Armbewegung erreichen konnten, so dass ihnen die Arbeit schneller von der Hand ging als jemals zuvor. In den Bauernstuben saßen die Frauen und Mädchen und bedienten das Spinnrad, mit dessen Hilfe ihnen immer feinere Fäden gelangen.

      Leider gab es auch Fortschritte in der Kriegstechnik. So entwickelten die Menschen Feuerwaffen mit Schießpulver und Kanonen, die entsetzliche Zerstörungen anrichteten. Sehr unglaubwürdig erschien den Gnomen das Gerücht von Gewässern, die tausende Male größer sein sollten als ihr See im Wald, und dazu so tief wie die Berge auf dem Land hoch waren. Nicht genug damit, hinter diesen Unmengen von Wasser sollte Land entdeckt worden sein, eine ganz Neue Welt. Wahrscheinlich nichts weiter als das berühmt-berüchtigte Seemannsgarn, vermuteten sie mit vielsagendem Grinsen - von diesen großmäuligen, angeberischen Übertreibungen der Fischer und Seefahrer hatten ihnen schon ihre Vorfahren aus dem hohen Norden erzählt.

      Als sie Anfang des 16. Jahrhunderts in das Dorf kamen, gerieten sie mitten in einen Bauernaufstand. Die Landleute litten Hunger und Not, weil ihnen viel zu hohe Abgaben und viel zu häufige Frondienste vom Adel aufgebürdet wurden. Der Adel, das war im Ort der Gernotsteiner, der vom König zum Grafen erhoben worden war. Nun fuhr er mit seiner Gräfin in einer prächtigen Kutsche mit vorgespannten Pferden – auch dann, wenn er nur 500 Meter weiter die Verwandtschaft besuchen oder in die Kirche wollte, und seine Gier nach immer mehr Reichtum ließ ihn hart werden gegen die Not Anderer. Der König hatte ihm mit dem Adelstitel auch das Recht verliehen, in seinem Wald zu jagen, was er jedoch nicht selber ausübte, weil es ihn wenig interessierte und zu anstrengend war. Also überließ er es seinen Bediensteten - wie alle anderen Arbeiten auch. Die wiederum steckten wie ihre Väter und Großväter voller abergläubischer Ängste vor bösen Waldgeistern und hielten sich wie diese an die Gewohnheit, nur die Randgebiete zu betreten. Außerdem machten sie dem Gernotsteiner weis, dass der Wald nicht sehr ertragreich sei und verschwiegen ihm, dass sämtliche Männer des Ortes dort wilderten. Auf diese Weise blieb der Wald in seinem Inneren auch weiterhin unberührt und unerforscht, was den Tieren und den Gnomen gerade Recht war.

      Wieder hundert Jahre später, also 1620, berichteten die Weisen Männer von Maschinen, die Buchstaben, Worte, Sätze, ja ganze Geschichten auf Papier drucken könnten, in Windeseile, und jeder, der Geld habe, könne sich ein – wie sie es nannten – Buch kaufen, was natürlich nur Sinn machte, wenn man lesen gelernt hatte, was bis zu dieser Zeit hauptsächlich der Geistlichkeit vorbehalten war.

      Eines gab es, um das die Gnome die Menschen schon lange und heftig beneideten: Ihre Musikinstrumente. Natürlich hatten sie auf ihren Fahrten das eine oder andere stibitzt – eine Flöte, eine kleine Kindertrommel, eine Mundharmonika und eine Spieluhr zum Aufdrehen, deren Klänge sie zu Tränen rührten, da sie, außer dem Gesang der Nachtigall, bisher nichts Schöneres an Melodien gehört hatten. Aber die größeren und neueren Instrumente wie Geige, Posaune, Harfe oder Cembalo waren für sie unbegreifliche Wunder. So sehr sie sich auch bemühten, hinter die Geheimnisse der komplizierten Mechanik zu kommen, es gelang ihnen nicht – und ein Exemplar auf dem üblichen Weg zu transportieren war schlichtweg unmöglich. So blieb ihnen nichts weiter übrig, als von den himmlischen Klängen zu erzählen, wohlwissend,