Marian Hajduk

Dewil's Dance


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Aula, an einem einzelnen Pult, vor mir stapelweise Aufgaben, Aufgaben über Aufgaben, schwarze Schrift auf muffig grauem Recyclingpapier.

      Und Leere.

      Anfangs beginnen meine Finger zu zittern, ich atme schwer, immer heftiger, ein Spanngurt quetscht meinen Brustkorb zusammen, bis ich meine Rippen bersten höre – dann werde ich ruhig, immer ruhiger, hauche die Seele aus meinem Körper, die kalt in der Luftröhre brennt, und ergebe mich. Leere umfängt mich, die Wände der Aula sind zurückgetreten, noch immer kein einziger Gedanke in meinem Kopf, keine Idee und keine Erinnerung. Ich breite die Arme aus, sinke nach hinten und falle, falle zurück und ergebe mich, zurück in mein Schicksal, zurück in die Zukunft, eine ewige Reise, die nur nach hinten gerichtet ist.

      Und dann geht es von vorne los.

      Wieder Jahrgangsstufen, Seminare, Klausuren, wieder Ohnmacht und Hilflosigkeit, in Latein, Biologie, Mathematik, wieder fortwährende Rückwärtsbewegung. Die Blätter fallen draußen vor den braungerahmten Fenstern, eine Decke aus schmutzigem Schnee legt sich auf die verlassenen Betonfelder, die fensterlosen Gewerbekomplexe ertrinken im Grau des Nachmittagshimmels.

      Wie konnte ich nur! Wie konnte ich so dumm, so unvorsichtig – so überheblich sein? Noch mehr als an meinen Lebensumständen zweifelte ich an mir selbst. Denn die Tatsache, dass ich mich hier befand, war weder göttliche Strafe noch irgendein absurder Zufall. Sie war mein eigenes Verschulden: Da ich mich für so intelligent und so talentiert hielt, hatte ich mich entschlossen, mein Abitur noch einmal zu machen. Ich hatte mein altes Abschlusszeugnis im Direktorat abgegeben und damit all meine Rechte verwirkt. Weil ich der Überzeugung war, mit Leichtigkeit und innerhalb kürzester Zeit eine Traumnote zu erzielen, jetzt, wo ich erwachsener und so viel klüger war als damals.

      Im Gegenteil.

      Ich lief durch die Gänge, wanderte die Treppenhäuser auf und ab, Tag für Tag, von Seminarraum zu Seminarraum, vor dem Fenster wurde es Frühling, Sommer und wieder Herbst, der Busen meiner Mathematiklehrerin wankte, und ich versagte, versagte weiter, begleitet von schlaflosen Nächten und der ständigen Angst vor der nächsten Klausur.

      Schlimmer als der Stillstand und das Ohnmachtsgefühl war nur mein Selbsthass - meine Wut, das verzweifelte Unverständnis, mit dem ich auf diese maßlos überhebliche, unnötige, größenwahnsinnige Entscheidung zurückblickte.

      Und schlimmer als mein Selbsthass war nur die Häme. Die Häme der anderen. Derer, die damals wirklich mit mir zur Schule gegangen sind. Während ich colatrinkend und zigarettenrauchend mit ihren Geistern auf der anderen Straßenseite an der Bushaltestelle stand, sah ich die Bilder ihrer jetzigen, heutigen, realen Persönlichkeiten vor mir: Ich sah, wie sie studierten, Abschlüsse fabrizierten und Doktorarbeiten schrieben, wie sie in gepflegten Anzügen zur Arbeit gingen, wie sie heirateten, Kinder bekamen und geräumige Altbauwohnungen in der Innenstadt bezogen, ich sah, wie sie ins Ausland abwanderten, in die Businessmetropolen, London, Toronto, Peking, wie sie in der großen weiten Welt ihr Glück machten und ihre Gehaltsschecks immer üppiger wurden.

      Und ich sah mich selbst: Einen arbeitslosen Literaturwissenschaftler. Wie ich mich beim Sozialamt von bissigen, ungezogenen Frauen bewerten und maßregeln ließ, die einen Bruchteil meiner Qualifikation und Intelligenz besaßen. Ich sah, wie all meine früheren Mitschüler, vom größten Einfaltspinsel bis zum dümmsten, alles auswendig lernenden Streber, mich überflügelt hatten. Mich. Der ich immer der klügste, gewitzteste, leichtfüßigste – der außergewöhnlichste von ihnen war.

      Sie alle lachten mich aus. Zeigten mit dem Finger auf mich und verlachten mich schallend: Sieh hin, was aus Dir und deiner Großspurigkeit geworden ist!

      Und sie lachten zu Recht.

      Ich erinnere mich.

      Ich erinnere mich, dass ich aufwachte.

      Dass ich geträumt hatte.

      Es war der erste Tag meines Lebens. Der erste Tag, den ich mit dem Urheber dieser Seiten verbracht hatte.

      Und ich bin mir sicher, dass es dieser Moment war, in dem ich wie er sein wollte.

       - 5 -

      Da es bisher mein einziger Anhaltspunkt auf der Suche nach dem Urheber des Manuskripts war, suchte ich am nächsten Tag wieder das Café auf. Genau wie ich schien er häufiger an diesen Ort zu kommen und ich fragte mich, ob ich ihm in der Vergangenheit bereits unwissentlich begegnet war.

      Außer der Kellnerin, die mit gelangweiltem Gesichtsausdruck an der Kaffeemaschine herumwischte, war niemand dort. Obwohl ich normalerweise Cappucino trinke, bestellte ich schwarzen Kaffee und las, um die Spur des mysteriösen Verfassers weiterzuverfolgen:

       - 6 -

      Durch die Nordlage des einzigen Fensters meiner Wohnung, ihr fahles, indirektes Licht, weiß ich nie, wie das Wetter gerade ist. Hätte ich keinen Kalender in meinem Handy, könnte ich nichtmal die Jahreszeit feststellen. Jeder Tag, selbst im Hochsommer, wirkt aus meinem Fenster betrachtet zunächst wie kalter grauer Januar. In all der Zeit habe ich mich nie daran gewöhnt.

      Auf meinem winzigen Ess- und Schreibtisch steht neben einem überquellenden Aschenbecher und einer fast leeren Flasche billigem Scotch der aufgeklappte Laptop. Hinter dem schwarz schweigenden Bildschirm kann ich noch immer das leere weiße Textdokument sehen, vor dem ich den gestrigen Abend vergeudet habe. Angewidert winde ich mich am Tisch mit dem Computer vorbei, als wäre er ein Eimer voll in der Sonne verwesender Fleischabfälle. Auf der Ablage neben der tragbaren Elektroherdplatte, auf der eine Dose Ravioli verschimmelt, finde ich mein Geld, die Zigaretten und mein Notizbuch.

      Ich sammle all meine Zettel zusammen, lege sie in mein Notizbuch und verschließe es mit dem Gummiband. Wenn das Papier, auf dem ich arbeite, schon benutzt ist, wenn bereits etwas darauf geschrieben steht, ist die weiße Leere meist etwas weniger angsteinflößend.

      Ich stopfe alles in meine Jackentaschen und hechte zur Tür hinaus.

      Der Himmel hat ein lockeres Hellgrau übergestreift, doch es ist wärmer als erwartet und dünne Regenfäden nieseln die letzten bräunlichen Schneereste aus den Rinnsteinen. Nach kurzem Spaziergang erreiche ich das Café, in dem ich am häufigsten bin, und breite die mitgebrachte Zettelwirtschaft vor mir auf dem Tisch aus. Der Kaffee, schwarz, ohne alles, ist grässlich aber er kostet nur 1.50 und ich brauche hier pro Stunde nicht mehr als einen zu trinken, um nicht als Belästigung empfunden zu werden. Die Betonglocke über meinem Gehirn scheint sich um wenige Millimeter zu heben und in dünnen Rauchschwaden einige Gedanken einströmen zu lassen…

      Erst sterben die Schurken.

      Dann sterben die Helden.

      Dann sterben alle Geschichten.

      Was macht Sherlock?

      Harting stellt die falsche Frage.

      Dann bricht das Dokument ab.

       - 7 -

      Ich konnte mir auf diese letzte Notiz nur schwer einen Reim machen. Mit Holmes konnte nur Sherlock, die berühmte Romanfigur von Sir Arthur Conan Doyle gemeint sein. Mit dem anderen Namen vermutlich Joe N.K. Harting – ein sehr erfolgreicher zeitgenössischer Krimiautor.

      Vielleicht arbeitete der Verfasser gerade an einer Neuinterpretation des Stoffs? Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich die Geschichten um den Londoner Meisterdetektiv zum letzten mal gelesen hatte – und musste unweigerlich an die unzähligen Verfilmungen denken.

      Dabei hatte ich mich schon immer daran gestört, dass so gut wie alle Adaptionen den interessantesten Aspekt dieses Charakters völlig vernachlässigen. Denn in Conan Doyles Erzählungen ist Sherlock Holmes ein tragischer und zutiefst zerrissener Charakter: Wenn er keine Herausforderungen in Form geheimnisvoller Kriminalfälle vorfindet, neigt er zu Launenhaftigkeit und Depressivität, betäubt sich mit harten Drogen und gerät an den Rand der Selbstzerstörung.