Edgar Wallace

Die blaue Hand


Скачать книгу

das dürfen Sie nicht tun!«

      Ihr Dazwischentreten ernüchterte ihn. Er trat langsam an den Kamin, steckte ein Streichholz an und entzündete vor den erstaunten Augen des Mädchens das Testament.

      Als es ganz verbrannt war, zertrat er es mit den Füßen.

      »Diese Sache wäre geregelt! Sie glauben, daß ich ein Unrecht getan habe?« sagte er lächelnd zu Eunice. Er war plötzlich wieder der alte. »Wie Sie schon gemerkt haben werden, ist meine Mutter nicht ganz normal. Es wäre zu viel gesagt, wenn ich sie für vollkommen verrückt erklärte. Ein Marquis von Estremeda existiert nämlich überhaupt nicht, soviel ich weiß. Es ist eine fixe Idee meiner Mutter, daß sie früher einmal mit einem spanischen Adligen befreundet war. Das ist das traurige Geheimnis unserer Familie, Miss Weldon.«

      Er lachte; aber sie wußte, daß er log.

      11

      Die Tür zu Digby Groats Arbeitszimmer stand auf, und er konnte sehen, wie Eunice nach ihrem Zimmer ging, das im Obergeschoß lag. Er hatte fast den ganzen Nachmittag an sie denken müssen und hatte sich selbst verwünscht, daß er sich ihr von einer so schlechten Seite gezeigt hatte, denn er wollte ihr doch vor allen Dingen imponieren und gefallen. Aber vor allem ärgerte er sich darüber, daß er in seiner Wut in ihrer Gegenwart ein Dokument zerstört hatte und dadurch nun in ihrer Hand war. Wenn seine Mutter starb und man nach einem Testament forschte, wenn nun Estremeda durch irgendeinen Zufall mit Eunice bekannt wurde und sie vor Gericht als Zeugin auftrat, konnte durch ihre Aussage das frühere Testament seiner Mutter annulliert und er auf die Anklagebank gebracht werden.

      Er war stets der Meinung, daß die großen Verbrecher durch Kleinigkeiten zu Fall gebracht werden. Der Verschwender, der Hunderttausende von Pfunden vergeudet, wird schließlich durch eine kleine Summe von hundert Pfund bankerott, die er nicht bezahlen kann. Und er, das Haupt der Bande der Dreizehn, der alle Spuren seiner Vergehen so meisterhaft verwischt hatte, daß die tüchtigste Polizeibehörde der Welt und die schlauesten Detektive nicht imstande waren, ihm etwas nachzuweisen, lief Gefahr, durch irgendeine Dummheit gefaßt zu werden, die er aus plötzlicher Wut oder Eitelkeit beging.

      Er war jetzt noch mehr als früher entschlossen, Eunice Weldon unter seinen Einfluß zu bringen, so daß sie ihre Kenntnisse niemals gegen ihn ausnützte.

      Es war eine schwere Aufgabe, die er sich stellte, denn Eunice hatte ihn selbst durch ihre Schönheit sehr fasziniert. Ihre herrliche Erscheinung und ihre ungewöhnliche Intelligenz waren Anziehungskräfte und Reize, denen er sich nicht verschließen konnte. Er wußte genau, daß sie Jim Steele öfter traf, den Mann, den er haßte, und der sein Todfeind war. Jackson hatte sie schon zweimal bei ihren Ausgängen in die Stadt verfolgt und hatte ihm berichtet, daß sie Jim im Park getroffen hatte. Und die Möglichkeit, daß Jim sie liebte, war der größte Ansporn zu all seinen niederträchtigen Plänen.

      Er konnte sich durch dieses Mädchen an Jim rächen, er konnte die Frau für sich gewinnen, die Jim Steele am meisten auf der Welt liebte. Das würde eine herrliche Rache sein, dachte er, als er vor seinem Schreibtisch saß und sie behend die Treppe hinaufgehen hörte. Aber er wußte, daß er geduldig warten und vorsichtig zu Werke gehen mußte. Vor allen Dingen mußte er ihr Vertrauen erwerben. Und wenn er sein Ziel erreichen wollte, durfte er nichts davon erwähnen; daß sie Jim Steele traf. In keiner Weise durfte er sie hindern, diesen Mann zu sehen, und ebenso mußte er alles vermeiden, was ihr den Eindruck geben konnte, daß er sich für sie interessierte.

      Er hatte nicht mehr versucht, seine Mutter zu sprechen. Wie ihm die Krankenschwester erzählt hatte, schlief sie schon den ganzen Nachmittag. Er fühlte, daß er auch in diesem Falle nur mit Geduld weiterkommen würde. Beim Abendbrot erwähnte er Eunice gegenüber noch einmal die Szene im Wohnzimmer seiner Mutter.

      »Sie müssen denken, ich sei ein rücksichtsloser Mensch, Miss Weldon«, sagte er; »aber Sie wissen nicht, wie ich durch die vielen Dummheiten meiner Mutter mit der Zeit verärgert und nervös geworden bin. Sie glauben, daß meine Handlungsweise ihr gegenüber nicht richtig ist?« fragte er lächelnd.

      »Wir tun in unserer Aufregung manchmal Dinge, über die wir uns hinterher schämen«, erwiderte Eunice, die seinen Wutausbruch entschuldigen wollte. Am liebsten hätte sie über die ganze Sache nicht mehr gesprochen, denn sie hatte ein böses Gewissen, weil sie Digby Groat diese Sache mitgeteilt hatte. Aber sie wurde noch unruhiger bei der Fortsetzung der Unterhaltung.

      »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Miss Weldon, daß alles, was innerhalb dieses Hauses passiert, vertraulich ist, und daß Sie nicht zu Fremden darüber sprechen dürfen.«

      Er bemerkte, daß sie rot wurde. Sie senkte den Blick auf das Tischtuch und spielte nervös mit ihrer Gabel, so daß er sofort wußte, daß sie über das Testament gesprochen hatte. Er verwünschte sich selbst aufs neue, daß sie Zeugin seines Ärgers und seiner Wut gewesen war.

      Aber zu ihrer größten Beruhigung ging er dann auf ein anderes Thema über. Er erzählte ihr, daß er Änderungen in seinem Laboratorium vornehmen wolle und sprach begeistert von neuen elektrischen Geräten, die er ausprobieren werde.

      »Darf ich Ihnen nicht einmal meinen Arbeitsraum zeigen, Miss Weldon?«

      »Ich würde mich sehr freuen«, antwortete sie.

      Sie wußte genau, daß sie unaufrichtig war. Sie wollte sein Laboratorium überhaupt nicht sehen. Nachdem Jim ihr neulich beschrieben hatte, wie er den armen kleinen Hund auf dem Operationstisch durch Klammern und Schrauben befestigt hatte, war es für sie eine Stätte des Schreckens und des Abscheus. Aber sie war froh, mit Digby Groat irgend etwas anderes besprechen zu können.

      Als sie zusammen in den Raum traten, entdeckte sie nichts Schreckliches. Das Laboratorium war weiß und sauber, alle Geräte und Gegenstände waren ordentlich aufgestellt. Bewundernd gingen ihre Blicke über die langen Reihen von Medizinflaschen und Medikamenten auf den Wandbrettern. Er zeigte ihr die kleinen Glasröhren, die geheimnisvollen Instrumente und Apparate.

      Er hütete sich aber wohl, den einen Schrank zu öffnen, der in der hintersten Ecke des Raumes stand, und so blieben ihr die Zeugen der schrecklichen und grausamen Operationen verborgen, die er hier schon ausgeführt hatte. Sie freute sich nun, daß sie das Laboratorium gesehen hatte, aber trotzdem fühlte sie sich erleichtert, als sie wieder ins Wohnzimmer zurückkehren konnte.

      Digby ging um neun Uhr aus. Sie blieb allein und konnte lesen oder sonstwie den Abend vertreiben. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sprach sie im Krankenzimmer von Mrs. Groat vor und erfuhr, daß die alte Frau auf dem Wege der Besserung sei.

      »Ich hoffe, daß sie morgen oder übermorgen wieder ganz hergestellt ist.«

      Auch das war eine Erleichterung für Eunice. Die Krankheit von Mrs. Groat hatte sie bedrückt. Es war so traurig zu sehen, wie die einst so schöne Frau nun verfallen, alt und krank aussah, eine hilflose Greisin, die nicht mehr Herrin ihres Körpers und ihrer Gedanken war. Sie hatte ihr Zimmer, das schon so schön war, als sie hierherkam, noch hübscher gemacht, indem sie einige Kleinigkeiten änderte und ein paar Möbel umstellte. Sie hatte einige der Bücher gelesen, die Digby Groat zu ihrer Unterhaltung ausgewählt hatte; manche hatte sie auch nur durchgeblättert und war dann zu einem ablehnenden Urteil gekommen.

      Heute las sie den Roman ›Der Mann aus Virginien‹. In diesem Buche lernte sie eine der entzückendsten Schöpfungen menschlicher Phantasie kennen. ›Der Mann aus Virginien‹ war ebenso schön und tugendhaft wie Jim. Überhaupt ähnelten alle Helden in Büchern, die ihr gefielen, Jim.

      Als sie ihr Taschentuch aus ihrer Handtasche nahm, berührten ihre Finger die kleine, graue Karte, die sie damals auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Sie nahm sie wieder heraus und zerbrach sich aufs neue den Kopf darüber, wer sie ihr wohl zugesandt hatte, und welchen Zweck er damit verfolgte. Noch mehr wunderte sie sich über das Zeichen der blauen Hand. Sie hätte gar zu gern gewußt, was sie bedeutete. Irgendeine geheimnisvolle Geschichte mußte hinter der ganzen Sache stecken.

      Sie legte ihr Buch einen Augenblick fort, erhob sich, drehte die Schreibtischlampe an und besah sich noch einmal genau die Handschrift