Katrin Maren Schulz

Dünenvagabunden


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sind meine Gedanken bei ihr.

      Im letzten Jahr, gegen Ende meiner Auszeit in St. Peter-Ording, habe ich sie endlich kennengelernt; die Frau, die ich die Vagabundin genannt hatte, solange ich sie nur vom Sehen kannte. Viel Zeit hatten wir nicht mehr miteinander, aber immerhin zwei Begegnungen, in denen die Gespräche tief und ernst waren und die gegenseitige Mitteilung offen und direkt.

      Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, das wir abends im Strandkorb geführt hatten, in dieser letzten Zeit die uns blieb, bevor ich abgereist bin, zurück in mein Städterleben. Genau das war es, wozu mir Viktoria Löcher in den Bauch gefragt hat: warum ich mich für dieses Pendler-Leben entschieden habe, und nicht für ein komplettes Leben an der Küste, so wie sie.

      „Erkläre mir dein Pendeln, so dass ich es wirklich verstehen kann. Ansonsten unterstelle ich dir Unentschlossenheit und Ängstlichkeit vor deinen wahren Bedürfnissen“, hatte Viktoria mich in der ihr eigenen Radikalität aufgefordert.

      Ich mag diese Radikalität. Denn ich weiß, dass Viktoria mich damit nicht verletzen oder quälen will, nein. Sie will mich auffordern, meine Wahrheit für mich zu finden. Und weil sie ahnt, dass ich diese bereits gefunden habe, fordert sie mich auf, meine Wahrheit in deutliche Worte zu fassen.

      Ich mag Wachrüttler. Ich mag Menschen, die reflektieren und Reflektion fordern. Ich mag eigeninitiative und selbstreflektierte Menschen. Vermutlich habe ich Eigenschaften eines solchen Menschen, sonst würde ich mein Leben nicht so führen, wie ich es führe. Meine Lebensführung, meine Gedanken, meine Erkenntnisse bergen keine abschließende Weisheit in sich, und nicht die absolute Wahrheit, natürlich nicht. Denn ich bin auf einem Weg, so wie jeder auf seinem ganz eigenen Weg ist, mit den eigenen kleinen und großen Schritten, im eigenen Tempo, für das es keine Bewertung von langsam oder schnell, gut oder schlecht gibt.

      Ja, unser Gespräch im vergangenen Jahr, es hat mich gezwungen, klare Worte zu finden über meine Ansichten des Lebens, meiner Art zu leben. Viktoria hat mich gezwungen, und das war gut so. Es hat mich bekräftigt.

      Im Laufe der Auszeit war mir vieles klargeworden in Bezug auf meine Lebensweise, der Frage nach Stadt- oder Landleben. Ich habe versucht, ihr meine damals neugewonnene Sicht zu beschreiben:

      „Weißt du, Viktoria, in der Art, ein Leben zu führen und zu gestalten sehe ich kein gut oder schlecht, sondern unzählige Möglichkeiten dazwischen. In allen Lebensbereichen. Das Leben birgt solch eine Vielfältigkeit. Und ich meine, unsere große Chance - und übrigens auch unser Glück - liegt darin, diese Vielfältigkeit auskosten zu dürfen. Und so muss auch für einen Lebensraum nicht gelten: dieser oder jener, Stadt oder Land. Nein. Denn du kannst immer ein oder durch ein und ersetzen. Und genau das habe ich getan, weil ich beide meine Leben liebe, wie sie sind: das kleine, kürzere Leben, das ich hier auf der Halbinsel Eiderstedt führe, und das größere, längere Leben, das ich in der Stadt führe. Es sind wechselnde Lebensphasen innerhalb meines Jahres, die ich beide brauche. Und ich lebe in dem Luxus, beide ausleben zu können - warum also sollte ich mich für eine allein entscheiden müssen?“

      Viktoria wäre nicht sie selbst, wenn sie dazu nicht ihre Zweifel kundgetan hätte:

      „Nun gut, ich kenne dich in Berlin nicht. Aber was ich sehe, wenn ich dich hier sehe, ist, dass du aufzublühen scheinst und echter zu werden hier, je länger du da bist! Und das erinnert mich einfach allzu sehr an mich, und an mein Empfinden früher, wenn ich aus der Stadt an die Küste kam …“

      An dieser Stelle hielt sie inne, und eine Woge von Erinnerungen schien sie zu ergreifen.

      Sie malte gedankenversunken mit ihren Zehen Wellen im Zickzack in den Sand vor unserem Strandkorb, als seien die Wellen ihre Erinnerungen, bis sie mit dem flachen Fuß über alles hinwegfegte und der Sand wieder eben war und glatt. Dann erst fuhr sie fort:

      „… wobei, wenn ich mich so recht erinnere, kann ich eigentlich kaum von einem Stadtleben sprechen in meinem Fall, das es da mal bei mir gab vor vielen Jahren … mein Stadtleben war eigentlich mein Arbeitsleben, freie Zeit hatte ich kaum. Mein Leben in der Stadt bedeutete bis zu zwölf Stunden Büroarbeit am Tag, oft auch am Wochenende. Die Zeit davor und danach stand ich in meinem schicken Dienstwagen im Stau. Meine Eigentumswohnung kannte wahrscheinlich meine Reinigungskraft besser als ich, denn ich habe dort lediglich ein paar Stunden geschlafen. Und ob das wirklich Schlaf war, bezweifle ich. Es war ein dumpfes, erschöpftes Absinken in ein Designerbett, aus dem mich nach viel zu kurzer Zeit wiederum der Wecker gerissen hat.

      Und dann kam dieser eine, alles verändernde Sonntag. Ein Sonntag, an dem ich tatsächlich endlich mal wieder frei hatte.

      Ich war nachts aus gewesen, erstaunlich lange, und war daher etwas verkatert erst gegen Mittag aufgewacht. In dieser lauen Sommernacht hatte ich eine eindrucksvolle Begegnung, die mich aufgewühlt hatte. Und nach dieser Nacht, es regnete inzwischen, stand ich seit Ewigkeiten einmal wieder einfach so in meiner Wohnung, und hatte tatsächlich nichts vor, nichts zu tun.

      Da fielen mir Gegenstände auf in meiner Wohnung, die mir überhaupt nicht vertraut waren. Für eine Weile überlegte ich, ob vielleicht meine Reinigungskraft sie gekauft und dekoriert hatte. Je länger ich die Gegenstände aber betrachtete, umso klarer wurde mir: ich selbst hatte sie vor etwa einem Jahr gekauft, an einem meiner letzten wirklich freien Wochenenden, bevor die intensive Projektarbeit im Büro begann.

      Ich bin schockiert auf meinem Sofa zusammengesunken, und eine Erkenntnis machte sich in mir breit. Ich verdiene sehr viel Geld - aber ich tue eben genau das: ich ver-diene es, in dem ich anderen diene, dabei aber überhaupt nicht mehr mir! Und dabei lebe ich so sehr an meinem eigenen, freien Leben mit ureigenen und persönlichen Interessen und Bedürfnissen vorbei, dass ich sogar meine eigene Wohnungseinrichtung nicht mehr erkenne!

      Am nächsten Tag habe ich meine Kündigung eingereicht und beschlossen, es nie nie nie wieder so weit kommen zu lassen!“

      An dieser Stelle lachte Viktoria kurz sarkastisch auf:

      „Es so weit kommen zu lassen??? Was für eine irrwitzige Formulierung! Nie wieder so tief zu sinken, träfe es wohl besser. In all dem Saus und Braus, in dem ich lebte, in all dem Geld, in dem ich schwamm, war mir das Wichtigste abhandengekommen: mein Leben!“

      Es war ganz still. Ein paar Vögel zwitscherten im Himmel über den Salzwiesen, ab und zu blökte eine Kuh. Kaum Wind, kein Meeresrauschen, weil Ebbe war. Es war diese besondere Stille nach Viktorias Vergangenheitsschilderung, die selten und einzigartig ist. Eine Stille, die ganz trocken ist und ehrlich und klar, weil gerade ganz viel Gefühlsintensität offenbart wurde.

      Wir saßen in unserem Strandkorb, regungslos, schienen gar nicht mehr zu atmen vor Bewegungslosigkeit, und umklammerten unsere Rotweingläser, als ob sie wärmen könnten.

      Es fiel mir schwer, in diese Stille hinein das Gespräch wieder aufzunehmen. Aber zu sehr wühlte mich Viktorias sarkastischer Unterton in der Art, in der sie über ihr vergangenes Arbeitsleben gesprochen hatte, auf:

      „Du hast also keine andere Möglichkeit gesehen, dein Leben zu verändern, außer dieser, dein altes Leben komplett abzubrechen?“

      Viktoria nickte versunken. Ich aber wollte mehr wissen:

      „Aber diese Vielfältigkeit an Möglichkeiten, die es im Leben gibt, die gibt es nicht nur bezüglich des Wohnortes! Es gibt sie auch hinsichtlich vieler denkbarer Lebens- und Arbeitsformen! Gerade in Berlin habe ich den Eindruck, dass so viele Lebensbereiche dort von den Menschen neu überdacht und oft auch verändert werden. Das finde ich übrigens auch einen der inspirierenden Momente in Berlin, auf die ich ungern verzichten möchte.“

      Viktoria erwachte aus ihrer Versunkenheit, und warf ein:

      „Was ist es denn, was du da so inspirierend findest? Ich kann mich an keine Inspiration mehr erinnern aus meinem Stadtleben. Aber vielleicht konnte ich sie ja auch einfach nicht sehen, weil ich keine Zeit dafür hatte?“

      „Ja, vielleicht hast du sie einfach nicht gesehen. Denn in Hamburg ist es doch ähnlich wie in Berlin. Es gibt so viele Freiberufler, Selbständige und Kreative, die frische Ideen haben, Werkstätten aufmachen oder Initiativen, Tauschbörsen und ähnliches. Sie haben Ideen, und