Rita Kuczynski

Mauerblume


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      Imprint

      Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze

      Rita Kuczynski

      published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

      Copyright: © 2013 Rita Kuczynski

      Buchcover: Bernd Floßmann, www.flossmann.de

      ISBN 978-3-8442-6336-7 (E-Book)

      ISBN 978-3-8442-6337-4 (Paperback)

      Widmung

      Für David

      Das Buch

      Ihre Kindheit verbringt Rita Kuczynski in beiden Teilen von Berlin. Der Mauerbau 1961 macht den Osten über Nacht zu ihrer einzigen Heimat. Sie versucht sich durch die Beschäftigung mit Musik und Philosophie eine Nische zu schaffen, später flüchtet sie in eine Ehe. Doch auf der Suche nach ihrem beruflichen und persönlichen Glück stößt die ungewöhnliche Frau immer wieder an die Grenzen des Systems.

      Rita Kuczynski erzählt ihre Lebensgeschichte. Sie berichtet von dem Versuch, sich von der Umklammerung durch die Politik zu lösen und selbstbestimmt zu sein.

      Die Autorin

      Rita Kuczynski, 1944 in Neidenburg/Ostpreußen geboren, besuchte die Meisterschule im Fach Klavier am Konservatorium in Leningrad. Außerdem studierte sie in Leipzig und Berlin Philosophie und promovierte über Hegel. Rita Kuczynski lebt in Berlin.

      Rita Kuczynski

      Mauerblume

      Ein Leben auf der Grenze

      1

      Bei Tisch hat meine Mutter oft erzählt, ich sei ein echtes Urlauberkind, meine Schwester auch. Damit meinte sie, wenn mein Vater im Juni 1943 nicht auf Fronturlaub gekommen wäre, wäre ich nicht im Februar 1944 geboren worden. Sie wollte, falls mein Vater im Krieg fiele, wenigstens ein Andenken von ihm haben. Meine Schwester kam zwei Jahre früher auf die Welt. Mein Vater hatte wegen einer besonderen Tapferkeit in einem Sturmangriff gleich zehn Tage Heimaturlaub bekommen. Weil der Vater bereits 1942 im Krieg hätte erschossen werden können, wollte meine Mutter schon damals ein Andenken. Meine Schwester und ich sind daher nicht nur Urlaubskinder. Wir sind auch Andenkenkinder. Als unser Vater aus dem Krieg zurückkam, hießen wir Kriegskinder. Meine beiden jüngeren Geschwister, die geboren wurden, nachdem der Vater wiedergekommen war, sind Nachkriegskinder geworden.

      Ich habe meiner Mutter später vorgeworfen, daß ihre Gründe für’s Kinderkriegen ziemlich verantwortungslos waren. Zumindest, soweit sie mich betrafen. Schließlich war 1943 auch in Deutschland schon Krieg. Meine Mutter kannte Bombennächte nicht nur vom Hörensagen. Das war, so meinte ich, nicht gerade eine Zeit, Kinder in die Welt zu setzen. Meine Mutter reagierte auf meinen Standpunkt fürs Kinderkriegen stets mit überlegenem Lächeln: Es sei Liebe gewesen, aber davon verstünde ich nichts.

      Den heißen Krieg kannte ich nur aus Erzählungen. Bei Familienfeiern wurde oft von ihm gesprochen. Der Vater redete viel von Stalingrad und von der Ostfront, von Hunger und von russischer Gefangenschaft. Onkel Fred hingegen erzählte von der Westfront und von französischen Internierungslagern. Die Geschichten wiederholten sich. Über den Kessel von Stalingrad wußte ich als Kind bald gut Bescheid. Aber eigentlich interessierte er mich nicht. Außer der Vater spielte mit uns heißen Krieg und den Angriff der Russen auf das deutsche Feldlazarett. Dann hatte ich mit meinen Geschwistern einen Sanitätszug zu bilden. Das bedeutete, wir bauten aus den Küchenstühlen Tragen für Verletzte, indem wir die Stühle an den Stuhllehnen mit Schnur zusammenbanden. Wir legten uns nacheinander auf die Tragen und wurden vom Vater und seinem Helfer durch die Wohnung, im Sommer auch über den Hof getragen. Je weniger Zeit unsere Kompanie für die Flucht vor den Russen brauchte, desto besser waren wir auf den Ernstfall vorbereitet und bekamen dementsprechend viele Sahnebonbons. Meine Mutter mochte unser Spiel nicht. Aber sie konnte sich gegen den Vater nicht durchsetzen. Sie konnte sich nie gegen ihn durchsetzen.

      Wer im Krieg siegte, habe ich als Kind nie recht verstanden. Die Russen? Die Amerikaner? Von den Franzosen und Engländern wurde weniger gesprochen. Unter Siegermächten konnte ich mir nichts vorstellen. Als ich älter wurde, verstand ich, es gab geteilte Ansichten zum Sieg. Sie hingen mitunter vom Stadtteil ab, in dem die Diskussion stattfand. Im amerikanischen Sektor von Berlin war zu hören und zu lesen, daß ohne die US-Armee alles noch viel schlimmer gekommen wäre, als es ohnehin schon gekommen war, nicht nur für Berlin, sondern für Deutschland überhaupt. In dem von den Russen besetzten Teil hingegen war zu hören, daß die Amerikaner alles verdorben hätten. Was, verstand ich als Kind schon wieder nicht.

      Innerhalb der Familie gab es nicht nur geteilte Ansichten über den Sieg. Es gab auch geteilte Ansichten über den verlorenen Krieg. Sie hingen mit den besiegten Deutschen zusammen. Wäre Hitler nicht von lauter unfähigen Generälen umgeben gewesen, hätten wir den Krieg nicht verloren, meinte Onkel Richard. Dann brauchte sich der Deutsche heute nicht zu schämen und stünde nicht als Dämling da. Dann müßte er, der Deutsche, sich nicht herumkommandieren lassen, nicht vom Iwan, auch nicht von Jimmy Black. Das war Onkel Richards ehrliche Meinung. Und er wußte genau, daß er sie eigentlich nicht sagen durfte. Er äußerte diese seine tiefste Überzeugung auch nur, wenn er angetrunken war. Meine Mutter fiel ihm dann ins Wort: Hör auf Richard, solches Zeug zu reden. Wenn das einer hört. Meist nahm sie dabei die Schnapsflasche aus seiner Reichweite. Onkel Richard war dann auch still. Aber nicht ohne noch zu sagen: Ist doch wahr. Dabei kippte er zuerst seinen Schnaps und dann sein Bier hinter und sah in eine Ferne, die zu erreichen ich außerstande war.

      Um ehrlich zu sein, gingen mich die Geschichten aus dem heißen Krieg als Kind nicht viel an. Ich hatte meine eigenen, und die hingen mit dem Kalten Krieg zusammen. Ich wuchs in einer geteilten Stadt auf: Sitz von vier Siegermächten. Jede Macht hatte ihren eigenen Sektor von Berlin, mit eigener Militärpräsenz. Mit der Berliner Stadt-Bahn konnte ich alle vier Sektoren für einen Groschen durchfahren: Achtung, Achtung, hier endet der amerikanische Sektor. Sie verlassen jetzt den französischen und so weiter. Irgendwann änderte sich die Bahnhofsansage: Dann verließ ich den Demokratischen Sektor von Groß-Berlin. Fuhr ich nur lange genug, machte eine Stimme darauf aufmerksam, daß ich, Achtung, Achtung, jetzt den freien Sektor von Berlin verlasse.

      Was wußte ich davon? Ich nahm es wie jedes Kind. Ich nahm den freien und den unfreien Sektor als gegeben hin. Die Frontstadt Berlin war meine Stadt. In Berlin lebte beinahe die gesamte Verwandtschaft, wenn auch in verschiedenen Sektoren, was zur Folge hatte, daß die Ansichten über frei und unfrei in ihrer Bedeutung wechselten. Daran gewöhnte ich mich. Das Hin und Her zwischen zwei Welten war also mein natürlicher Lebenshintergrund. Grenze zwischen Ost und West, Demarkationslinie im Kalten Krieg. Freund und Feind wechselten von einer S-Bahn-Station zur anderen.

      Es existierte eine S-Bahn-Linie, sie hieß Berliner Ring. Das Besondere am Ring war, daß es keine Endstation gab. Die Bahn fuhr endlos durch die unter den Siegermächten aufgeteilten Sektoren. Der Berliner S-Bahn-Ring war meine Lieblingslinie. Mitunter fuhr ich stundenlang vom freien in den unfreien, in den freien Teil. Ich glaube, auf meinen Fahrten mit der Berliner Ring-Bahn bekam ich eine erste Distanz zu Ost und West. Diese Fahrten hatten etwas von Rummel, den Lieblingsspielplätzen meiner Kindheit: Karussellfahren oder Himmel-und Hölle-Bahn mit ihren glitzernden Lichtern. Nur daß ich bei der Ring-Bahn die Anzahl der Runden - und damit den Zeitpunkt des Ausstiegs - selbst bestimmen konnte, einschließlich der Tatsache, ob ich im freien oder unfreien Teil der Stadt den Bahnhof verlassen wollte. Zur Grundlage für die Entscheidung, frei oder unfrei, machte ich den Ort, an dem ich in die Ring-Bahn eingestiegen war. Die an diesem Ort geltenden Ansichten der jeweiligen Besatzungsmacht über Freiheit nahm ich als gegeben hin. Auf diese Weise lernte ich spielend mit Definitionen umzugehen, lange bevor sie als Unterrichtsstoff im Fach Mathematik zur Diskussion gestellt wurden. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der ich mich später in definierten Räumen der Philosophie zu bewegen verstand, hatte mit meinem Leben in der gespaltenen Stadt