Rita Kuczynski

Mauerblume


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Ich trainierte mit Erfolg, die Zeitspanne zu verlängern, die ich in einem Stücken schwang. In diesen Trancezuständen realisierte ich bald den gesamten Alltag, den ich abgetrennt von mir erledigte. Das Stück, das ich spielte, nicht abbrechen zu lassen, war mein ganzes Streben. Auf diese Weise konnte ich mich dem eigentlich unerträglichem Leben um mich herum entziehen. Beim Sitzen und beim Stehen, beim Rennen und beim Spazierengehen war ich in Gedanken oder direkt am Klavier bald ganz und gar auf meine Stücke konzentriert. Solange ich spielte, kam nichts und niemand an mich heran. Allein, wenn die Melodie in mir abbrach und ich sie selbst auf dem Klavier nicht mehr fand, bekam ich panische Angst. Denn die Welt, die ich nicht wahrhaben wollte, stand plötzlich ganz unverhohlen neben mir und grinste mich an. Dann wurde es so laut um mich, ich hatte das Gefühl, augenblicklich ersticken zu müssen, weil ich vor lauter Lärm keine Luft mehr bekam. Manchmal schaffte ich es noch, während eines solchen Angstzustandes mir die Ohren zuzuhalten und mein Stück zu singen oder ein eigenes Stück zu erfinden. Stundenlang summte ich es dann oder spielte auf dem Klavier. Wenn der Vater kam und mich rüttelte oder ohrfeigte, weil ich nicht aufhörte mit dem Spielen und ich vor lauter Spiel seine Ohrfeige nicht spürte, wußte ich, ich hatte mit meinem Spiel auch gegen ihn gewonnen. Zufrieden trieb ich dann auf den Tönen, ich weiß nicht wohin. Mutwillig trieb ich mit aller Musik gegen jegliche Rhythmisierung, bis ich die Abstände zwischen Ton und Ton aufgehoben hatte. Kontrapunktisch schlug ich die Töne gegen die Töne und entließ sie spielend aus ihrem Klangraum. Daß sie nicht zurückklangen in die Räume, aus denen ich sie gerade herausgeholt hatte, war mein Bestreben. Mutwillig schliff ich die Töne solange aneinander, bis sie im ungeschützten Klangzustand auf eine noch nicht gehörte Weise zueinanderfanden. In diesem unerhörten Klangzustand trieb ich dann.

      Eines Tages aber trieb ich wohl zu weit. Ich trieb an mir, an allen Tönen und ihren Klangräumen vorbei. Hinter mir schlug unerwartet eine Tür nach der anderen zu. Ich saß in einer Falle und fand nicht mehr heraus. Wenn überhaupt, gingen alle Türen immer nur nach innen auf. Angst trieb mich. Sie jagte einen Schrei, mit ihm war ich so allein, daß ich das Bewußtsein verlor.

      Als ich aufwachte, stand eine freundliche Schwester an meinem Bett und fragte, ob ich Mischbrot oder Knäckebrot zum Frühstück möge. Vor lauter Angst fing ich an zu weinen. Sie spritzte ein Mittel zur Beruhigung. Ich schlief wieder ein. In den Wochen, die kamen, lernte ich ruhig zu sein, um keine Spritzen zu bekommen. Ich nahm zur Kenntnis, was mir die Ärzte erklärten, daß mich das Klavierspielen krankgemacht habe, daß ich damit aufhören müsse, wenn ich nicht für immer in der Psychiatrie bleiben wollte. Ich verstand nicht, aber ich hörte meine Töne nicht mehr. Meine Melodie war weg.

      Später verstand ich, ich war abgestürzt zwischen den beiden Welten Ost-West. Sie waren nicht mehr zu spielen, ich saß in ihrem Ostteil fest.

      2

      Mein eher unfreiwilliger Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik begann also mit der schrittweisen Entlassung aus der Nervenklinik.

      Zunächst waren es Spaziergänge im Klinikpark, stundenweise. Sie wurden als Training zu meiner Wiederbelebung angeordnet. Es folgten Probeentlassungen, vorerst über das Wochenende. Das war mir nicht recht. Denn ich wußte nicht, wohin. Zu den Eltern zu gehen, war nicht gerade vergnüglich, zumal der Vater schon immer gewußt hatte, daß ich nie normal gewesen wäre, sonst hätte ich meine Klimperei auf dem Klavier selbst nicht ausgehalten. Daß ich in der Klapsmühle gelandet war, sei daher nur folgerichtig gewesen und allein Schuld meiner Großmutter und meiner Mutter. Sie hätten mir den Klimperkasten wegnehmen müssen, eben weil ich von Anfang an nicht richtig tickte. Aber auf ihn wollte ja keiner hören. Und warum nicht? Weil man ihn ja nicht ernstnehme. Weil man ja denke, er als Sohn der Arbeiterklasse wisse nicht, was los sei. Mit “man” meinte er vor allem meine Großmutter, aber auch meine Mutter. Was mich betraf, habe man wohl genug Schaden angerichtet. Gut, daß damit jetzt Schluß sei.

      Zu meinen Geschwistern hatte ich über die Jahre den emotionellen Kontakt verloren, in zu unterschiedlichen Milieus waren wir sozialisiert worden. Da gab es wenig geschwisterlich Bindendes.

      Meine Mutter versuchte nett zu mir zu sein. Aber es war ihr peinlich, daß ich aus der Psychiatrie kam. Soweit als möglich versuchte sie, diesen Umstand in der Verwandtschaft zu vertuschen. Klinik ja, aber nicht psychiatrische, gab sie mir zu verstehen. Das brauche ja nicht jeder zu wissen.

      Die zweite Phase der schrittweisen Entlassung aus der Klinik bedeutete, daß ich nur noch zum Schlafen in das Krankenhaus zurückkehren mußte. Das war schon besser. Meine Mutter versorgte mich in dieser Zeit großzügig mit Geld. Sie wollte, daß ich nach Hause zurückkäme. Sie wollte es wirklich, glaube ich. Aber ich wollte es auf gar keinen Fall. Ich gab ihr eine gehörige Portion Schuld daran, daß ich nun im Osten befreit vom Klassenfeind festsaß. Ich gab ihr auch die größte Schuld daran, meine musikalische Existenz zerstört zu haben. Später verachtete ich sie dafür, daß sie den Vater nicht verlassen hatte, von dem sie sich bis hin zu Schlägen hatte demütigen lassen.

      Ich hatte nie sehr viel Lust, mich in die möglichen Gründe meiner Mutter für ihre Entscheidungen hineinzudenken. Bestimmt hingen sie auch mit meiner Großmutter zusammen. Meine Großmutter war eine starke Persönlichkeit: Charme, Klugheit und Ausstrahlung gehörten untrennbar zu ihr. Bestimmt war sie als Sängerin enttäuscht von ihrer einzigen Tochter, weil sie erstaunlich unmusikalisch war. Und bestimmt hatte meine Mutter darunter gelitten, wie sie auch darunter leiden mußte, daß meine Großmutter nun mich statt ihrer gerade wegen meiner Musikalität über alles liebte und Gott dankte, wie sie sagte, daß sie in mir nun doch noch eine Tochter hatte. Ich konnte meiner Mutter gegenüber nie nachsichtig sein. Schließlich hatten weder meine Geschwister noch ich darum gebeten, auf die Welt zu kommen.

      Nach der endgültigen Entlassung aus der Nervenheilanstalt ging ich nicht wieder zurück zu den Eltern. Meine persönlichen Sachen fanden Platz in einer Reisetasche, mit der ich durch die zwangsverordnete Heimat zog. Natürlich war ich irgendwo in Berlin polizeilich gemeldet. Keinen festen Wohnsitz zu haben, war strafbar. Aber sich irgendwo bei Bekannten anzumelden, ein Namensschild an ihren Briefkasten zu kleben, blieb eine Formalität.

      Irgendwer gab mir den Rat, zu einer Berufsberatung zu gehen, weil keine Arbeit zu haben auch strafbar war. Man nannte das asozial. Im Zentrum für Berufsberatung schlug mir ein Berater vor, ehe ich auf die Idee käme, ein Studium aufzunehmen, sollte ich unbedingt einen ordentlichen Beruf erlernen. Weißnäherin zum Beispiel, da gäbe es freie Lehrstellen. Auf meine Nachfrage, was das denn sei, wurde mir erklärt, daß ich in diesem Beruf lernte, Bettwäsche zu nähen. Die Freude in meinem Gesicht muß wohl nicht sehr groß gewesen sein. Daher schlug mir der Berater vor, Gärtnerin zu werden, das sei gut für die Nerven. Feinmechanikerin, dafür hätte ich mit meiner Vorgeschichte als Klavierspielerin auch gute Voraussetzungen. Ich solle mir alles in Ruhe überlegen. Ich überlegte und ging nie wieder zu der Beratungsstelle.

      Ich schlug mich durch mit Gelegenheitsarbeiten. Ich brauchte nicht viel in dieser Zeit. Ich hatte kein Ziel, das mir lebenswert schien. Warum ich überhaupt noch lebte und herumlief, verstand ich selbst nicht. Auf die Idee, mein Leben zu beenden, kam ich erst langsam. Ich war sprachlos nach dem Einsturz meiner musikalischen Welt. Mich in einer anderen Sprache als in der der Musik auszudrücken, hatte ich nicht gelernt. Darüber hinaus schienen mir alle anderen Ausdrucksformen wenn nicht minderwertig, dann zumindest unbrauchbar, jedenfalls für mich. Ich wußte nicht, wie zu sprechen war über das, was geschehen war. Was ich sagte, war unbeholfen und grob. Die Wörter brachten nicht zum Ausdruck, was ich sagen wollte. Ich bekam Angst zu sprechen, weil mir meine Entfremdung unüberhörbar und unverhohlen gegenüberstand.

      Wortkarg arbeitete ich am liebsten als Hilfsarbeiterin in Nachtschichten im volkseigenen Glühlampenwerk Narva. Diese Arbeit hatte nichts mit mir zu tun und wurde gut bezahlt. Die Arbeiter tolerierten mich, weil ich meine Arbeit schaffte, trotz meines immer abwesenden Blicks.

      In dieser Zeit hatte ich einen kaum zu bändigenden Drang zu stehlen. Wenn ich schon gezwungenermaßen im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat leben mußte, wollte ich auch etwas davon haben. Schließlich gehörte das Eigentum allen, und so nahm ich mir vom Volkseigentum, was ich zum Leben brauchte.

      Etwa zwei Jahre zog ich mit meiner Tasche durch Berlin-Brandenburg. Inzwischen hatte