Rita Kuczynski

Mauerblume


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wir seien doch schon tief in ihm, sah er mich verständnislos an. Alex war gut zu mir. Für große Liebe fehlte es mir an Kraft. Aber daß ich nicht mehr alleine war, auch nachts, wenn die Angst aufstand und mich mitnahm auf ihrem Schrei, daß ich mich festhalten konnte in solchen Momenten an Alex und seinen Atem spürte, beruhigte mich.

      In dieser Zeit kümmerte sich wieder meine Mutter um mich. Es tat ihr leid, daß ich versuchte mich umzubringen. Schließlich liebe sie mich, sagte sie. Und es war ihr auch unangenehm, weil ich schließlich ihre Tochter war, die nicht einsehen wollte, daß ich, wie alle anderen auch, im sozialistischen Vaterland eine enorme Chance hätte, wenn ich nur wollte...

      Selbstmordversuche waren nicht vorgesehen in der Ideologie des sozialistischen Glücksprogramms und daher moralisch nicht zu rechtfertigen. Schließlich gehörte dem Sozialismus die Zukunft und mir daher auch. Daß ich nicht einsah, welch ein Glück es für mich sei, an der besseren Zukunft der Menschheit teilnehmen zu können, sei allein meine Schuld. Ich sei verstockt, so meine Mutter. Ich wolle ihr wehtun, das sei der tiefere Grund für meine Trotzreaktionen. Als ich ihr klarzumachen versuchte, daß mir mein sozialistisches Leben hier auf die Nerven ginge, daß mich Routinearbeit fertigmache, daß ich an Stumpfsinn zugrunde ginge, versprach sie mir, sich um eine Arbeit für mich zu kümmern, in der ich Erfüllung fände, wie sie sagte. Und sie kümmerte sich auch tatsächlich. Ich wurde als Kulturfunktionärin in einem großen Krankenhauskomplex eingestellt.

      Meine Mutter hatte das über die SED-Kreisleitung des Stadtbezirks eingefädelt. Sie selbst galt als Garant meiner politischen Zuverlässigkeit und sprach von dem großen Vertrauen, das sie für diese Stelle in mich gesetzt habe und von einem Risiko, das sie da eingegangen war. Ich sollte sie daher nicht enttäuschen. Natürlich begriff ich erst viel später, daß hier ein familiäres Vererbungsprinzip zur Anwendung gekommen war: Die politische Zuverlässigkeit meiner Mutter wurde auf mich übertragen, ohne daß meine wirkliche Eignung in Betracht gezogen worden war.

      Die einzige Bedingung, die ich bei dieser Stellenvermittlung zu erfüllen hatte, galt einer Formsache, nämlich, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund beizutreten. Ich besprach den Eintritt mit Alex. Er fand nichts weiter dabei, in den FDGB einzutreten. Er sei selbst Mitglied dort, schon wegen des Segelclubs. Außerdem bekomme man billig Ferienreisen über die Gewerkschaft. In dem Eintritt sähe er keine Hürde, meinte er. Ich vergäbe mir nichts dabei. Ich trat also dem freien Bund bei und war plötzlich Kulturfunktionär in einem großen Krankenhaus. Für Ärzte und Schwestern sollte ich sozialistische Kultur organisieren. Was wußte ich davon. Ich griff zurück auf das, was ich kannte. Ich organisierte als erstes ein Konzert des Ärzteorchesters im Krankenhaus am Vorabend zum 1. Mai: Händel, Bartok, Brahms. Mit den Ärzten kam ich gut aus, die Fragen, die wir hatten, waren vornehmlich musikalischer Art. Neben Konzerten organisierte ich Tanzveranstaltungen. Lesungen standen auch auf dem Programm. Sie wurden mit der Gewerkschaftsbibliothek gemeinsam vorbereitet.

      Die Programmanschläge der Ortskirche zu wöchentlichen Orgelvespern brachten mich auf die Idee, mit dem Pfarrer zu sprechen, ob wir nicht eine Reihe barocker Orgelkonzerte veranstalten könnten. Er war sehr angetan von der Idee. Ich hatte keine Ahnung, daß ich mit der Kirche nicht gemeinsame Sache machen durfte. Das erste Orgelkonzert fand an einem Freitag statt. Es wurden Bach und Buxtehude gespielt. Die Kirche war überfüllt. Als zwei Tage später der Organist krank war und nicht zum Gottesdienst spielen konnte, klingelte der Pfarrer in aller Frühe bei Alex und mir. Er fragte, ob ich nicht ausnahmsweise die Orgel spielen würde. Ich hatte ihm davon erzählt, daß ich in der Hochschule Orgel als Zweitfach hatte. Verschlafen wie ich war, konnte ich nur Ja-sagen. Er wartete, bis ich mich angezogen hatte, dann fuhren wir in seinem Trabant zur Kirche. Daran, daß ich als erstes den von Bach für die Orgel bearbeiteten Choral, “Wachet auf, ruft uns die Stimme” spielte, erinnere ich mich genau, auch weil ich selbst noch mit der Morgenmüdigkeit zu kämpfen hatte.

      Am Tag darauf wurde ich zum Ärztlichen Direktor des Krankenhauses bestellt. In seinem Zimmer warteten der Gewerkschaftsvorsitzende, der FDJ-Sekretär und der Parteisekretär des Krankenhauses auf mich. Welche Stimmen denn da aufwachen sollten, war die Begrüßungsfrage. Ob ich nicht wisse, daß der Gegner gerade heutzutage in den Kirchenbänken säße? Als ich eine erste Erklärung versuchte, daß ich auf einen Gegner so früh am Morgen nicht gekommen sei, außerdem sei der Choral vor mehr als zwei Jahrhunderten geschrieben worden und also kein Kampflied, unterbrach mich der Parteisekretär: Es wäre ein Skandal, daß ich zum Gottesdienst in der Kirche spielte. Ich sei hier Gewerkschaftsfunktionär, das hätte ich anscheinend bislang nicht begriffen. Ob ich politisch nicht bei Verstand sei? Das war ich in der Tat nicht und verstand daher den Grund der ganzen Aufregung nicht. Auf meine Frage, wo ich denn sonst Orgel spielen sollte, schließlich stünden Orgeln nun mal in Kirchen und nicht in Gewerkschaftshäusern, bekam der Krankenhausdirektor einen Tobsuchtanfall. Er sprach von einer politischen Provokation ohne gleichen. Als ich versuchte zu erklären, daß sich Bach, soweit ich wisse, für Politik einen Dreck interessiert hätte, verwies er mich des Zimmers. Ich flog aus der eben erworbenen Stellung.

      Zunächst einmal hatte ich wieder keine Arbeit, dafür aber ein Mitgliedsbuch des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Alex tröstete mich damit, daß solch eine Mitgliedschaft ruhen könne, ich aber bei einer von ihm beantragten FDGB-Reise trotzdem den gewerkschaftlichen Rabatt bekäme. Den Segelklub könnte ich bei ruhender Mitgliedschaft auch nutzen. Das waren die sachlichen Kommentare eines Elektroingenieurs, die ich an Alex so sehr mochte.

      3

      Die Lust auf ein Angestelltenverhältnis war mir wieder einmal vergangen. Ich zog mich zurück und jobbte im Glühlampenwerk. Wenn keine besonderen finanziellen Ausgaben wie Urlaub oder Wintermantel anstanden, reichten zwei Nachtschichten in der Woche. Das Leben in der DDR war billig, wenn man von allen bürgerlichen Differenzierungen des Geschmacks absah. Und die bürgerlichen Standards, die an Essen, Trinken, Wohnen und an Kleidung und geknüpft waren, hatte ich ohnehin längst als Krimskrams verworfen. Essen hatte ich zur Nahrungsaufnahme degradiert, wobei ich mich an die sogenannten Grundnahrungsmittel hielt, wie sie von den DDR-Behörden so treffend benannt wurden. Diese Grundnahrungsmittel gab es beinahe gratis, das Wohnen auch. Die Mieten hatten eher einen Symbolwert. Eine Neubauwohnung mit Bad, Warmwasser und Zentralheizung war von Familien mit Kindern sehr begehrt. Daß diese Wohnungen im Lego-Baukasten-System des Plattenbaus gebaut waren, wurde seiner Eintönigkeit wegen, wenn überhaupt, nur von Intellektuellen bemäkelt.

      Dieses Erlebnis, daß Essen, Trinken und Wohnen nahezu gratis sein können, wenn man von allem anderen absieht, gehört zu meinen wichtigsten Erlebnissen in der DDR. Im einfachen Wortsinn konnte in der DDR niemand verhungern, nicht einmal aus Protest. Man konnte schlecht essen und wohnen, aber wenn jemand auf der Parkbank schlafen wollte oder gar auf irgend einem Bahnhof, wurde er von der Polizei aufgegriffen und kam unter das polizeiliche Obdach.

      Doch daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, war nicht erst seit Brecht bekannt. Einen Teil dessen, was der Mensch außer einem Obdach noch brauchen könnte, schwirrte an den DDR-Bürgern allabendlich auf der Mattscheibe in der Reklamezeit des Westfernsehens vorbei. Zunächst in schwarz-weiß, später in Farbe. Ich erzog mich in dieser Zeit zur Bedürfnislosigkeit gegenüber den alltäglichen Dingen. Dafür konsumierte ich, wie viele Intellektuelle im “Leseland DDR”, Bücher.

      Ich wog mein spartanisches Leben auf mit dem Konsum philosophischer Literatur. Gierig verschlang ich ein Buch nach dem anderen: Heidegger, Nietzsche und Sartre. Alex’ Schwester hatte gerade diese Philosophie vor dem Mauerbau kontinuierlich gekauft. Zunächst aber las ich wie gebannt Heideggers “Holzwege” und war begeistert von jedem neuen Satz, den ich mir eroberte. Ich verstand nicht viel von dem, was ich las. Aber ich war getroffen von dem Rhythmus der Heideggerschen Sprache. Und mit jedem Satz traf er mich erneut, versetzte mir einen Schlag und schürte die Angst. Ja, die Panik war es, die sich angestaut hatte, und die Verzweiflung, die keinen anderen Weg aus mir fand als den der Selbstzerstörung. Für eben diese Existenzpanik gab es bei Heidegger bereits einen sprachlichen Ausdruck. Meine verrückte Angst hatte also einen Ort auch außerhalb von mir. Sie war kommunizierbar. Insofern beruhigten mich Heideggers Sätze auch, selbst wenn sie mich immer tiefer in die Verzweiflung trieben. Auszudrücken, was geschehen war und die eigene Leere durch Sprache zu überbrücken war die Absicht, die ich so erst wieder auszudrücken