Wolfgang Greuloch

Anea


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bekommt keine Antwort. Sie sackt zusammen. Zum Hinlegen ist die Plattform zu klein; sie darf der grellen Masse nicht zu nahe kommen.

      Der Mantel!

      War das die Stimme? Nein, das war sie nicht. Der Mantel, jetzt darf sie ihn benutzen. Sie holt ihn aus der Tasche. Für die Heats ist alles an ihr Eins, sie können die Tasche nicht von ihrem Kleid unterscheiden. Mühsam streift sie den Mantel über, vorsichtig schlägt sie die Kapuze über den Kopf, legt die Arme auf die Knie und den Kopf darauf.

      Bald merkt sie die nachlassende Wahrnehmung der Gefahr. Der Mantel schützt sie. Langsam weicht das seltsame Empfinden, die von dem Licht ausgehende Lähmung lässt nach. Nach einiger Zeit wagt sie, in Richtung Kanal aufzublicken. Sie sieht, der Lichtschein ist schwächer geworden, die Masse fließt kaum noch, wälzt sich nur noch träge vorwärts, die Oberfläche weist dunkle Flecken auf, gibt kaum noch grelles Licht ab. Sie wartet und beobachtet, kann ungefährdet das Gesicht dem Strom zuwenden.

      Sie streckt vorsichtig die Hand aus, registriert die Wahrnehmung nur noch schwach. Die Masse im Kanal wird immer dunkler, die dunklen Flecken auf der Oberfläche haben zugenommen, bald geht nur noch ein schwacher Lichtschein von ihr aus, der gerade ausreicht, um in der Felsenzelle eine Orientierung zu ermöglichen. Anea faltet den Mantel zusammen und steckt ihn in die Tasche.

      Bald danach läuft der Fels auseinander und gibt den Eingang frei. Ein matter Schein dringt von außen in die Zelle, der Erste Priesterweise betritt die Höhle.

      Joshua

      „Josh“, ruft Mom von unten die Treppe hinauf. Von oben dröhnt laute E-Musik herab. Als sie keine Antwort erhält, versucht sie lauter zu rufen, aber dadurch wird ihre Stimme nur schrill.

      „Josh, hörst du? Da ist ein Brief angekommen, eine Rechnung. Wir müssen über vierhundert Dollar nachbezahlen. Warum müssen wir so viel nachzahlen? Hast noch mehr Computer-Dingsda laufen als die letzten Monate? Wie sollen wir das bezahlen? Ich habe kein Geld übrig und die nächste Rente kommt erst in zwei Wochen.“

      Jetzt klingt Joshuas Mutter noch einen Ton schriller, fast kläglich. Oben wird die Musik leiser gedreht.

      „Mach die keine Sorgen, Mom. Ich werde das schon regeln, ich treibe das Geld schon auf“, ruft Joshua herab.

      „Schau dir doch wenigstens den Brief an, da steht noch etwas über eine Elektroinstallation“, bettelte die Mutter.

      Oben quietschen die Rollen eines Schreibtischsessels über den Boden, das Quietschen lässt auf ein altes Exemplar schließen. Polternd stampft Joshua die Treppe hinunter, ein schwergewichtiger junger Mann mit sympathischem, aber etwas schwammigem Gesicht.

      „Gib her“, sagt er nicht gerade freundlich zu seiner Mutter. Er hat sie gern, aber die Unterbrechung wegen diesem überflüssigen bürokratischen Kram ärgert ihn. Er liest den Brief. Nicht nur die Nachzahlung muss getätigt, sondern auch eine Überprüfung der Elektroinstallation vorgenommen werden, da der Stromverbrauch in den letzten Monaten immens gestiegen und die Elektroinstallation des Hauses schon sehr alt ist, und die Wahrscheinlichkeit eines Kurzschlusses mit folgender Brandgefahr nicht ausgeschlossen werden kann, schreibt der Energieversorger.

      Joshua stöhnt.

      „Auch das noch. Die sollen doch erstmal das Netz in Ordnung bringen, bevor sie die Haushalte aufrüsten. Alles nur Abzocke. Die kassieren die Stromkunden ab, um die Dividende erhöhen zu können.“

      „Ist es schlimm? Was wollen die machen?“, fragt seine Mutter besorgt.

      „Unsere Installation wird überprüft, ob sie noch den Vorschriften entspricht. Nichts Schlimmes, ist auch nicht schlecht. Wir bekommen noch einen Termin dafür.“

      Vielleicht wirklich nicht schlecht, denn Mom besitzt nur eine billige Feuerversicherung, die nicht zahlt, wenn die Elektroinstallation unzulänglich ist.

      „Wird das auch Geld kosten?“, fragt seine Mutter.

      „Ja. Die schenken uns nichts. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde das Geld beschaffen. Mach dir keine Sorgen.“

      Die Mutter schaut ihren Sohn zweifelnd an. Er merkt das.

      „Das ist doch eine Kleinigkeit. Wenn nur alles so einfach wäre“, sagt er.

      „Es gibt aber jeden Monat Kleinigkeiten; Kleinigkeiten hier, Kleinigkeiten dort. Wir haben nie etwas übrig“, klagt sie.

      „Was wollen wir denn übrig haben? Auf der Bank verfällt das Geld. Oder andere pumpen es und können es kaum zurückzahlen. Da sind wir noch gut dran.“

      Mom hat den Eindruck, Joshua glaube an das, was er sagt. Sie glaubt nicht daran. Aber sie wird ihrem Sohn nie Vorwürfe machen, weil er keinem richtigen Job nachgeht, dabei hätte er das Zeug dazu, oder weil er immer Zuhause sitzt und von hier aus arbeitet, weiß der Teufel was, aber er verdient sein Geld, lebt nicht von ihrer Rente. Im Gegenteil, wenn er nicht einen Teil zu den Haushaltskosten beitragen würde, könnten sie das schon ziemlich heruntergekommene Häuschen nicht halten.

      Als würde Joshua die Gedanken seiner Mom erraten, drückt er sie beruhigend und geht dann mit dem Brief nach oben. Er schreibt die Programmzeile zu Ende und wählt dann die Nummer von ‚Boss’. Boscovsky ist der Mensch, für den er und einige andere IT-Worker arbeiten. Den Titel ‚Boss’ hat er nicht verdient, der Name Boss ist eine Kurzform seines Nachnamens.

      „Sag bloß nicht, du wirst nicht pünktlich fertig“, blafft er Joshua an, als sie auf den Bildschirmen Blickkontakt haben.

      „Kann passieren, denn mir ist eine Power-Unit hopsgegangen. Meine Systeme laufen jetzt langsamer. Ich kann meine Files kaum testen. Ich brauch einen Vorschuss, damit ich mir umgehend eine neue Unit bestellen kann. Das wird zwei, drei Tage dauern, bis die eintrifft.“

      „Ha“, schnauft Boss, „sonst hast du keine Wünsche?“

      Da Joshua weiß, dass Boss keinen Spaß versteht, meint er: „Nein, sonst ist alles in Ordnung. Die Arbeit läuft.“

      „Und ich soll dir das glauben? Du machst mir doch was vor. Ich glaub dir kein Wort.“

      „Ich kann nur sagen, wie es ist. Du schenkst mir ja nichts, du zahlst mir etwas früher einen Teil meines Lohns. Das ist alles.“

      „He - Welchen Typ, welche Marke brauchst du? Ich bestelle dir das Ding und lasse es an dich liefern.“

      „Das ist keine gute Idee, denn wenn mit dem Gerät etwas nicht Ordnung ist und ich die Garantie in Anspruch nehmen muss, dann muss ich alles über dich abwickeln. Das kostet nur Zeit und hält meine Arbeit auf.“

      „Ha - Wie viel brauchst du?“

      „Fünfhundert Dollar“, sagt Joshua, „Ich nehme nur das Beste, und bei den preisgünstigsten Lieferanten kostet die Unit ungefähr so viel.“

      „Ich überweis dir das Geld, aber dafür will ich eine pünktliche Lieferung, ohne Ausreden.“

      „Ist okay.“, sagt Joshua und beendet die Verbindung.

      Puh, das hätte schnell in die Hosen gehen können, schnauft Joshua durch. Zwar ist etwas Wahres dran an seiner Geschichte, eine der Power-Units schwächelt, wird womöglich bald ausfallen, aber natürlich hat er schon Ersatz bereitliegen.

      Er musste zu dieser Ausrede greifen, weil Boscovsky ein raffgieriger, misstrauischer Geizkragen ist. Er nimmt erleichtert zwei kräftige Schlucke aus der immer bereitstehenden Cola-Flasche.

      Nun aber wieder zu etwas Sinnvollem. Der Instinct File funktioniert schon ganz gut. Ihr Gemüt ist auf einem kindlichen Niveau, aber auch das ist schon eine Leistung. Das macht sie als Figur authentisch, denkt er. Das was sie lernen soll, wird sie erlernen. Er hat ihr einen rudimentären Memory File mitgegeben, das reicht für den Moment. Es macht zu viel Arbeit aus ihrem ersten Erlebnis einen Teil auszusieben, Erinnerungen zu filtrieren, und die gesamten Geschehnisse in den M-File zu speichern würde zuviel Speicherplatz