Stephen Red

Scherenschnitte bei Nacht - Band 2


Скачать книгу

Gedanken schon wieder ganz woanders. Eigentlich war es den beiden Brüdern von ihm auch herzlich egal, woran er so dachte. Nick interessierte sich mehr für die Geschichten, die es über den See gab. Vor Jahren soll hier mal ein Junge ertrunken sein. Er wollte als Mutprobe über den See schwimmen. Auf halber Strecke jedoch drückte ihn irgendetwas unter Wasser. Urlauber, die am Rand des Sees standen, konnten deutlich sehen, wie ein kräftiger Arm den kleinen Jungen unter Wasser drückte. Daraufhin war der See ein paar Jahre für die Touristen gesperrt. Nach der Wiedereröffnung verschwand noch am selben Tag erneut ein Junge. Diesmal allerdings vom Rand des Sees. Berichten zufolge soll ein weiß gekleidetes Mädchen mit langen schwarzen Haaren und braunen Augen den Jungen in den See gezerrt haben. Sie hat ihn angeblich an den Haaren in die Tiefe gezogen. Die verzweifelten Rettungsversuche der Eltern brachten schließlich nichts.

      Cody und Adam kannten diese alten Geschichten und taten sie immer als Ammenmärchen ab. „Wer hat schon Angst vor Wasser?“, fragte Adam das eine oder auch andere Mal und Cody tat so, als sei es ein Leichtes, einmal quer über den See zu schwimmen. Und so gab er damit an, dass er den See bezwingen würde, wann immer es von ihm gefordert würde. Heute sollte es so weit sein. Die ganze Clique war da. Wenn man nämlich weiter nach rechts herübersah, konnte man dort noch Tom, Pedro, Sanchez, Hector und Syria sehen. Alle feuerten Großmaul Cody an, sein Versprechen einzulösen. Dieser, selbstbewusst, wie er nun mal war, winkte gleich fleißig zu Estelle herüber. Die beiden waren schon länger ein Paar. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Cody, der zukünftige Chef über die Holzwerke und Estelle, seine fleißige Sekretärin und vielleicht eines Tages sogar die Frau vom Chef. Estelle winkte prompt zurück, als sie die winkende Hand von Cody auf der anderen Seite des Sees erblickte. Die beiden Mädchen schauten sich verwundert an. Was mochte Cody da vorhaben? Keine von ihnen konnte sich auch nur annähernd vorstellen, um was es da drüben bei den Jungs eigentlich ging. So schauten sie einfach nur herüber und genossen die Show. Gitte sagte zu Estelle: „Vielleicht haben wir ja Glück und die Jungs machen Turmspringen von den Felsen herunter.“ – „Ja vielleicht“, entgegnete Estelle nur knapp. Der Gedanke war an sich gar nicht so abwegig, denn damit bewiesen sich die Jungs untereinander immer wieder, wer der Chef vom Rudel war. Dieser Posten war heiß begehrt, und so sprangen sie immer wieder mal von diesen Felsen. Jeder von ihnen hatte Talent dafür.

      Cody war ein vorzüglicher Saltospringer, sein Bruder Adam hingegen sprang ins Wasser, ohne das es spritzte. Man könnte glauben, er schnitte die Oberfläche des Sees etwas auf und schlüpfe darunter. Tom hingegen war ein Rückwärtsspringer. Was viele schon entsetzt hatte, denn dabei bestand immer ein großes Risiko, das er sich den Kopf an den Felsen aufschlug. Pedro wiederum sprang mit einer Art Schraube im Salto. Er war ein echter Könner. Nur leider sprang er recht selten. Sanchez und Hector waren ebenfalls Brüder. Diese beiden sprangen immer gemeinsam und schlugen einen Einfachsalto. Immer die gleiche Figur, ohne Ausnahme. Syria, das einzige Mädchen der Clique, sprang einen eleganten Doppelsalto vom Felsen. Das war schon bemerkenswert anzuschauen. Die Jungs waren deswegen auch immer wieder von ihr begeistert und erachteten sie als festes Mitglied. Wer hier nicht aufgezählt war, war Nick. Der des Öfteren als Nichtsnutz betitelte Bruder von Cody und Adam traute sich nicht, von dieser Höhe in den See zu springen. Was allerdings eher ein Vorwand dafür war, dass er nicht in den See – vor allem nicht in diesen See – springen musste. Lieber ließ er sich von den anderen necken und verhöhnen, als dass er da nur einen Fuß in diese schwarze Brühe hineinsetzte. So richtig klar war der See nie gewesen. Daher wurde er über die Jahre auch bekannt als „der schwarze See“.

      Andererseits fand Nick heraus, dass in dem See schon weit mehr als nur zwei Jungen ums Leben gekommen waren. Über eine Periode von mehreren Jahrzehnten belief sich die Zahl auf beachtliche 13. Diese Zahl allerdings durfte er als Reporter offiziell nirgends erwähnen und so blieb das dunkle Geheimnis des Sees in seinen Aufzeichnungen verborgen. Er war wohl der Einzige, der um das schreckliche Geheimnis wusste. Einzig der Einsiedler Quist könnte noch etwas wissen. Ihn bewunderte er, denn Quist wohnte in unmittelbarer Nähe zum See. Vielleicht war dieser Umstand auch der Grund, warum er eine Doppeltür in seinem Blockhaus hatte, sowie Gitter vor den Fenstern.

      Heute war der Tag aller Tage. Die Einlösung der vor langer Zeit schon angepriesenen Wette stand kurz bevor. Cody hatte, je näher es an die Umsetzung seines Wettversprechens ging, immer mehr Bedenken, ob er es wirklich machen sollte. Andererseits würde er dann auf das Niveau von Nick sinken, was keine Option war in seinem Denken. Adam pflichtete ihm bei und sagte nur: „Du schaffst das schon. Wenn es einer schafft, dann du!“ Adam klopfte ihm auf die Schulter. "Aber zuvor machen wir unser legendäres Felsenspringen!“ – „Yeah“, entgegnete ihm Cody knapp. Jetzt kamen auch die anderen zu ihnen herüber. Wie üblich waren sie zu acht, wovon nur sieben sprangen. Nick setzte jedes Mal unter einem anderen Vorwand aus. Klappte bis heute auch gut, nur jetzt war Schluss damit. Denn er wollte auch endlich dazugehören, und das ging nur über einen Weg. Er musste mitspringen. So sagte er hörbar für alle anderen: „Ich springe heute mit.“ – „Hey, unsere Heulboje will ein Mann werden“, grölte Cody da gleich. Adam sagte ganz beiläufig zu ihm: „Du musst das nicht tun. Mir musst du nicht beweisen, dass du mein Bruder bist. Du warst und wirst es immer sein; ein Teil von mir.“ Mann, das ging Nick runter wie Öl. „Warum hatte er sowas früher nie zu mir gesagt“, dachte er sich. „Na, dann sind wir ja in Zukunft doch acht Mann“, warf Syria lauthals in die Runde und grinste darauf verschmitzt. „Wobei ich mehr Mann bin, als du es jemals sein wirst, aber das ist schon in Ordnung, denke ich, oder?“ Das war Nick egal. Er wollte einfach nur seinen Einstand in der Gruppe hinter sich bringen. Immerhin würde er so heute bei der Einlösung der Wette von Cody am Rand des Felsens verdientermaßen mitsitzen können und zusehen, ob er es schaffte. Davon ging er aber fest aus. Immerhin war Cody von allen mit Abstand der beste Schwimmer.

      Auf der anderen Seite des Sees wurden die Mädchen euphorisch. „Jippie, es gibt wieder das Felsenspringen“, sagte Gitte. „Wie lange haben wir darauf schon gewartet? Viel zu lange denke ich, oder?“ entgegnete ihr Estelle. Sogar Quist kam aus seinem Blockhaus heraus und wollte sich das Treiben auf der anderen Seite nicht entgehen lassen. Immerhin sprangen die Jungs von einer ganz beachtlichen Höhe. Der hervorstehende Felsen, von dem sie sprangen, war mehr als fünfzehn Meter hoch. Das bedurfte schon einer beachtlichen Überwindung, da herabzuspringen. Er verneigte sich ehrerbietend vor den Jungs. Wusste er doch genau, wann man anderen die Show überließ, um sich selbst aus sicherer Entfernung ein Spektakel anzusehen. Quist fragte die Mädchen, ob sie nicht eine kühle Limonade haben wollten. Beiden sagten zu und so eilte er nach drinnen und füllte ihnen eine frische Orangenlimonade ab.

      Mit drei Glasflaschen und ebenso vielen Strohhalmen kehrte er nach nur wenigen Minuten zurück. „Hab ich was verpasst? Oder sind noch alle da oben?“ fragte er die Mädchen. Estelle antwortete ihm lächelnd: „Nein, ist noch alles gut. Sie machen sich gerade warm, denke ich.“ Das Wasser im See war nicht dafür bekannt, dass es besonders angenehm war. Auch dies war ein Grund, warum immer wieder davor gewarnt wurde, im See zu schwimmen. Gerade herzschwache Menschen sollten ihn auf Grund dieser Tatsache meiden, da sonst schnell ein Herzinfarkt drohte.

      Die Jungs waren so weit. Das Aufwärmen war abgeschlossen, ihre Hosen gerichtet und so standen sie nun alle nebeneinander und winkten den Dreien auf der anderen Seite des Sees zu. Dann riefen alle einmal ganz laut: „YEAH Bodys!“ Syria machte den Anfang. Dazu ging sie bis an die Spitze des Felsens und blickte in die Tiefe. Sie konzentrierte sich, schloss die Augen und sprang. Ein eleganter Doppelsalto war das Ergebnis, bevor sie in das kühle Nass des Sees eintauchte. „Juhhhuuu!“, brüllte sie heraus. „Das Wasser ist herrlich! Los, Jungs, kommt runter!“ Hector und Sanchez folgten ihr nach. Beide stellten sich nebeneinander auf den Felsen und sprangen ab. Diesmal, zur Verwunderung aller Anwesenden, sprangen beide einen doppelten Salto und das absolut glatt. Da gab es nichts dran auszusetzen. „Wuhhhuuu!“, jubelten auch sie, als sie ihre Köpfe wieder über die Wasseroberfläche streckten. Sie hatten ihr Pensum, was sie sich für heute vorgenommen hatten, erfüllt. „Irgendwie ist das Wasser komisch“, sagte Sanchez. „Es riecht regelrecht.“ – „Ja, du hast recht, Bruder“, antwortete ihm Hector. Syria bemerkte es auch. Schwarz war es ja schon immer, aber bisher doch immer geruchsneutral. Und nun stank es – wie der Tod. Die Drei wollten nur noch raus aus der Brühe und so schwammen sie zum Ufer. Es gab unweit des Sprungfelsens unterhalb