ablehnte, öffnete Cardew eine Schranktür, nahm daraus eine dunkle, staubige Flasche, stellte vorsichtig ein Glas auf den Tisch und füllte es mit einem prachtvoll rubinroten Wein.
»Ich habe noch ein anderes Interesse an Sullivan«, fuhr Cardew fort. »Wie Sie vielleicht wissen, beschäftige ich mich mit Anthropologie. Ich schmeichle mir, daß ein ausgezeichneter Detektiv an mir verlorengegangen ist. Wenn man die Männer sieht, die in hervorragenden Stellen im Polizeipräsidium sitzen, möchte man das ganze System reorganisieren, damit einmal Leute von reicher Erfahrung und Bildung ihr Talent zeigen könnten. In meinem Bezirk ist zum Beispiel ein Beamter, der einfach ...«
Die Worte fehlten ihm. Er zuckte nur die Schultern. Jim, der den Oberinspektor Minter kannte, unterdrückte ein Lächeln. Es war allgemein bekannt, daß Super die gebildeten und theoretisch arbeitenden Amateurdetektive vom Grund seiner Seele aus verachtete. Seine Einstellung war ungefähr die eines guten Handwerkers einem Künstler gegenüber. Bei einer Gelegenheit, bei der es sich um Anthropologie handelte, war er sogar sehr ausfallend geworden. Mr. Cardew nannte sein Benehmen tölpelhaft und bäurisch.
»Herr, Sie sind kindisch!« hatte Super ihn damals angefahren, als er leise andeutete, daß eine gebrochene Stimme und große, harte Augen eine bestimmte verbrecherische Anlage verrieten.
Jim wunderte sich und war neugierig, aus welchem Grund Cardew ihn plötzlich und unerwartet in sein Privatbüro einlud. Es war sein erster Besuch hier, obgleich er den Anwalt bereits seit fünf Jahren kannte. Daß der Aufforderung etwas Besonderes zugrunde liegen mußte, war ganz klar, das ging schon aus dem Benehmen Cardews hervor. Er war nervös und schien offenbar Sorgen zu haben. Mit unentschlossenen Schritten ging er in dem Raum auf und ab und machte ab und zu halt, um ein Schriftstück auf dem Pult geradezurücken oder einen Stuhl anders zu stellen.
»Während ich zur Stadt fuhr, habe ich dauernd an Sie gedacht«, begann er plötzlich. »Ich habe mir überlegt, ob ich Sie um Rat fragen soll – Sie kennen meine Haushälterin Hanna Shaw?«
Jim erinnerte sich sehr gut an die böse dreinschauende Frau, die nur wenig sprach und sich nicht die mindeste Mühe gab, ihre Feindschaft gegen Super zu verheimlichen, wenn ihn jemand erwähnte.
»Sie mögen sie nicht?« fragte er. »Sie hat sich nicht nett gegen Sie benommen, als Sie das letzte Mal zu mir kamen. Mein Chauffeur, der gerne klatscht, erzählte mir, daß sie Sie angefahren hat. Zweifellos ist sie bissig und mürrisch und eine unangenehme Person; aber ich bin sonst sehr zufrieden mit ihr. Überdies ist sie sozusagen das Vermächtnis meiner verstorbenen Frau. Sie hat sie aus einem Waisenhaus zu sich genommen, als sie noch ein Kind war, und Hanna ist in meinem Haus großgezogen worden. Ich möchte sie fast mit einem Terrier vergleichen, der mit Ausnahme seines Herrn alle Leute beißt.«
Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und entnahm ihr einige Papiere, die er auf dem Tisch ausbreitete.
»Ich ziehe Sie ins Vertrauen«, sagte er. Er schaute noch einmal nach der geschlossenen Tür. »Bitte, lesen Sie dies.«
Es war ein gewöhnliches Blatt ohne Adresse, Datum oder irgendwelche Oberschrift. Nur drei handgeschriebene Zeilen standen darauf:
»Ich habe Sie zweimal gewarnt.
Dies ist das letzte Mal.
Sie haben mich zur Verzweiflung gebracht.«
Das Schriftstück war mit ›Großfuß‹ unterzeichnet.
»Großfuß? Wer ist das?« fragte Jim, als er es noch einmal durchlas. »Ihre Haushälterin ist demnach bedroht worden? Hat sie Ihnen das gezeigt?«
»Nein, es kam auf sonderbare Art in meinen Besitz. Am Ersten jeden Monats bringt mir Hanna die Haushaltsrechnung und legt sie auf das Pult in meinem Arbeitszimmer. Ich schreibe dann die Schecks für die verschiedenen Kaufleute aus. Sie hat die Angewohnheit, die Rechnungen vorher in ihrer Handtasche mit sich herumzutragen und sie erst im letzten Augenblick zusammenzusuchen. – Dieses Schreiben habe ich in einer zusammengefalteten Rechnung des Kolonialwarenhändlers gefunden. Sie muß es in der Eile mit den anderen Papieren aus ihrer Tasche genommen haben, ohne zu merken, daß sie mir einen Privatbrief gab.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
Mr. Cardew zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er zögernd. »Das tat ich nicht. Ich habe ihr aber unter der Hand zu verstehen gegeben, daß sie mich ins Vertrauen ziehen soll, wenn sie jemals in Sorge oder Unannehmlichkeiten kommt. Aber Hanna hat – ich kann keinen anderen Ausdruck dafür finden –, sie hat mich angeknurrt. Es war geradezu unverschämt.« Er seufzte schwer. »Ich kann neue Gesichter nicht leiden, und es würde mir leid tun, wenn ich Hanna verlieren müßte. Wenn sie sich anders betragen hätte, wüßte sie natürlich von meiner Entdeckung. Und um vollständig offen zu sein, ich fürchte mich, ihr zu sagen, daß ich einen ihrer Briefe habe. Wir hatten eine ziemlich ernste Auseinandersetzung wegen eines dummen Scherzes, den sie machte. Der nächste Streit wird uns vollständig trennen. Was denken Sie von dem Brief?«
»Es scheint irgendein Erpressungsversuch zu sein«, vermutete Jim. »Er ist mit der linken Hand geschrieben, um die Schrift unkenntlich zu machen. Meiner Meinung nach müßten Sie Hanna Shaw doch um eine Erklärung bitten.«
»Sie fragen?« entgegnete Mr. Cardew aufgebracht. »Um alles in der Welt – das geht nicht! Ich kann nur meine Augen offenhalten und bei der ersten Gelegenheit, wenn sie in besserer Stimmung ist – und wenigstens zweimal im Jahr ist das der Fall –, diese Sache mit ihr besprechen ...«
»Warum vertrauen Sie sich nicht der Polizei an?«
Mr. Cardew wurde steif und zugeknöpft.
»Minter?« fragte er eisig. »Diesem unhöflichen, unfähigen Beamten? Ist das wirklich Ihr Ernst? Nein, wenn es irgendwelche Detektivarbeit gibt, so glaube ich, daß ich allein imstande bin, die Sache aufzuklären. Aber es gibt außer diesem Brief noch ein anderes Geheimnis.«
Er schaute wieder nach der Tür, hinter der seine harmlose Sekretärin arbeitete, und sprach leiser.
»Wie Sie wissen, habe ich ein kleines Haus an der Küste von Pawsey Bay. Es war früher eine alte Wachstation, und ich habe es während des Krieges für eine geringe Summe gekauft. Früher habe ich schöne Stunden dort zugebracht, aber jetzt gehe ich selten hin. Gewöhnlich überlasse ich das Haus meinen Angestellten zur Benutzung. Miss Leigh ist im letzten Jahr öfter zum Ferienaufenthalt dort gewesen und hat mit verschiedenen Freundinnen in der Villa logiert. Nun kam heute morgen ganz unerwartet Hanna zu mir und fragte, ob sie von Sonnabend bis Montag in dem Haus wohnen könne. Seit Jahren ist sie nicht mehr dort gewesen. Sie haßt den Platz, sie hat es mir noch vor einer Woche gesagt. Ich bin nun neugierig, ob diese plötzliche Reise an die Küste irgend etwas mit dem Brief zu tun hat.«
»Lassen Sie sie doch von Detektiven beobachten«, rief Jim.
»Das habe ich mir auch schon überlegt«, erwiderte Cardew nachdenklich. »Aber ich möchte es nicht gerne tun. Bedenken Sie doch, daß sie über zwanzig Jahre in meinen Diensten ist. Natürlich gab ich ihr die Erlaubnis, obgleich ich etwas besorgt bin, was daraus entstehen wird. Gewöhnlich bringt Hanna ihre freie Zeit damit zu, in einem alten Fordwagen im Lande herumzufahren – sie geht also nicht zur Küste, weil sie eine Luftveränderung braucht. Ich gebe ihr ein gutes Gehalt, und sie könnte bequem in einem anständigen Hotel wohnen. Ich wüßte nicht, warum sie nach Pawsey gehen sollte, wenn sie nicht diesen geheimnisvollen Menschen treffen will, der sich den Namen ›Großfuß‹ beilegt. Wissen Sie, manchmal denke ich, sie ist etwas ...« Er zeigte mit seinem Finger an die Stirn.
Jim wunderte sich immer mehr, warum ihn der Anwalt zu Rate zog; aber er sollte es jetzt erfahren.
»Am Freitag habe ich eine kleine Gesellschaft in Barley Stack, und ich möchte Sie bitten, auch zu kommen und Hanna scharf zu beobachten. Vier Augen sehen mehr als zwei. Es ist möglich, daß Sie etwas bemerken, was mir entgeht.«
Jim dachte verzweifelt über Entschuldigungsgründe nach. Aber Mr. Cardew kam ihm zuvor.
»Würden Sie etwas dagegen haben, Miss Leigh bei mir zu begegnen?