Dennis Blesinger

Magische Bande


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und schob den Kristall an den Rand der Fensterbank, dorthin, wo Vanessa ein entsprechendes Zeichen gemacht hatte. Acht weitere Kristalle waren an den verschiedensten Punkten im Haus platziert worden. Vanessa blickte sich um, nickte, und legte den kleinen Kristall ihrer Halskette neben zwei identisch aussehende Steine auf den Sims des Kamins.

      Einen Augenblick lang passierte nichts, dann leuchteten für einen Sekundenbruchteil die imaginären Verbindungslinien zwischen den insgesamt neun Steinen rot in der Luft auf und erloschen dann wieder. Von oben betrachtet hätte das Muster, das soeben kurz erschienen war, ein kompliziertes Schutzdiagramm gezeigt. Vanessa nahm die kleinen Kristalle vom Sims und gab Marc und Sven jeweils einen davon, während sie den dritten wieder an der Kette befestigte und sich um den Hals hängte.

      »Und was passiert jetzt?«, fragte Sven, während er den Stein einsteckte. Vanessa schüttelte den Kopf.

      »Schwierig zu erklären. Die Steine vibrieren. Ich kann nicht sagen, wie stark. Das kommt darauf an, was durch den Riss durchkommt. Je größer die Gefahr ist, desto deutlicher werden wir den Alarm spüren.«

      Marc blickte aus dem Fenster. Im Osten war die erste Ahnung von Dämmerung zu erkennen. Er schaute auf die Uhr und stöhnte innerlich. Theoretisch müsste er in zwei Stunden aufstehen.

      »Ich melde mich krank«, meinte er, während er zum Telefon ging. Seine Vorgesetzten würden einen Anfall bekommen. Der Jahresabschluss stand bevor und Krankmeldungen waren das Letzte, was die Kollegen im Moment gebrauchen konnten. Jedoch würde er sowieso nicht bei der Sache sein, wenn er jetzt ins Büro gehen würde.

      Nachdem er eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte, kehrte er zu Vanessa und Sven zurück, die beide in der Küche saßen und ein sehr zeitiges Frühstück zu sich nahmen. Das, oder einen sehr späten Mitternachtsimbiss. Dankbar nahm er den Becher Kaffee entgegen, den Vanessa ihm reichte. Schweigend trank er einen Schluck.

      »Was jetzt?«

      »Wir müssen herausfinden, wie wir den Riss wieder verschließen können.«

      »Was ist mit Nadja?«

      Vor vierundzwanzig Stunden hätte Marc laut gelacht, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass er derjenige sein würde, der die Frage stellen würde und Vanessa diejenige, die darüber nachdachte, wie man den Riss würde schließen können. Die beiden Geschwister blickten sich an, beide erstaunt über den Wechsel der sonst üblichen Denkweisen.

      »Ich wollte nicht – «

      »Ich weiß. Das ist nicht – «

      Beide verstummten und blickten sich wieder an. Dann nickten beide und lächelten. Es war kein fröhliches Lächeln, aber es lag mehr Verständnis für den jeweils anderen darin, als eine fünfminütige Entschuldigung ausgedrückt hätte.

      »Erst einmal müssen wir herausfinden, wohin der Riss führt«, meldete sich Sven zu Wort. »Wenn wir das wissen, können wir anfangen zu planen, was notwendig ist, um ihn wieder zu schließen. Dann müssen wir wissen, was mit Nadja ist, um zu entscheiden, ob es machbar ist, einen Rettungsversuch zu unternehmen und was wir dafür brauchen.«

      Wieder nickten die beiden Geschwister. Irgendwann würden sie eine Entscheidung treffen müssen, ihre kleine Schwester betreffend. Solange sie noch nicht im Besitz aller Fakten waren, lag die Notwendigkeit, die Entscheidung jetzt fällen müssen, jedoch nicht unmittelbar vor ihnen.

      »Was brauchen wir?«, fragte Marc.

      Sven überlegte einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich hab die Bücher nicht hier, die wir brauchen«, meinte er dann. »Ich muss ins Archiv.«

      »Wir kommen mit«, meinte Vanessa. »Ich sag Sandra Bescheid. Die kann einen oder zwei Tage alleine auf den Laden aufpassen.« Sandra war die Angestellte, die Vanessa bei der täglichen Arbeit im Laden half und für den eigentlichen Tagesablauf zuständig war. Vanessa kümmerte sich um das Organisatorische. Sie füllte die Regal und kümmerte sich um eventuelle Sonderbestellungen und -wünsche. Entsprechend war es nicht ungewöhnlich, dass Vanessa mal ein oder zwei Tage nicht im Laden war. Noch während sie eine entsprechende SMS schrieb, entfuhr Marc ein herzhaftes und ausgiebiges Gähnen.

      »Ich weiß nicht, wie es euch geht«, meinte er, nachdem er sich die Augen gerieben hatte, »aber ich schlafe im Sitzen ein. Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal ein paar Stunden hinhauen, bevor wir uns über irgendwelche dicken Wälzer hermachen?«

      Marc blickte von Vanessa zu Sven und erntete ein zweifaches Nicken. Sven war seit mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen und auch Marc und Vanessa hatten weniger als eine Stunde geschlafen. Die Anstrengungen des letzten Tages forderten ihren Tribut. Nach ein paar Stunden Schlaf würde die Welt vielleicht nicht unbedingt positiver aussehen, aber sie würden besser gewappnet sein, mit dem umzugehen, was sie ihnen entgegenzusetzen hatte.

      Trotz ihrer Erschöpfung dauerte es mehr als eine halbe Stunde, bis Marc und Vanessa in einen unruhigen Schlaf fielen. Dieses Mal waren es nur gewöhnliche Albträume, die sie heimsuchten und ihnen zeigten, wie ihre Schwester langsam aber sicher zu Tode gefoltert wurde.

      14

      Der Laden, den Sven betrieb, war einerseits Fassade für das, was sich im Lager befand, andererseits stellte er, genau wie bei Vanessa, den Grundstein für ein regelmäßiges Einkommen dar.

      Während Vanessa in ihrem Geschäft alles verkaufte, was sich aus Pflanzen und Kräutern herstellen ließ, hatte sich Sven auf den unterhaltsamen Teil der Magie verlegt. Das Angebot fing mit den klassischen Rollenspielwerken und deren Zubehör an, ging über rein dekorative Kristallkugeln und endete mit Kostümen und handgefertigten mittelalterlichen Outfits. Mehr als neunzig Prozent der Kunden waren normale Personen, die ihrem Hobby nachgingen oder sich zu Halloween als Hexe, Dämon oder Zauberer verkleiden wollten. Die wenigen, die wussten, dass Sven ein Teil der magischen Kommune war, ignorierten das offen zur Schau gestellte Inventar und richteten ihre Bestellungen oder Fragen direkt und diskret an Sven.

      Der Fantasyladen war einer der wenigen, die in der Stadt noch existierten, und hatte über die Jahre eine Stammkundschaft aufgebaut, die es Sven erlaubte, zwei Angestellte zu beschäftigen, die sich um die täglichen Belange des Geschäftes kümmerten.

      Als Sven, Marc und Vanessa den Laden betraten, schlenderte Sven kurz hinüber zum Tresen, hinter dem einer seiner Angestellten saß. Marc und Vanessa blickten sich in dem Verkaufsraum um. Überall waren Regale mit Waren zu sehen, hier und da war ein Kunde in eines der Bücher vertieft, versuchte zu entscheiden, welche der unzähligen Würfel ihm am besten gefiel oder probierte eines der Kostüme an. Sven beendete das Gespräch mit seinem Angestellten und zu dritt begaben sie sich in den hinteren Teil des Ladens, wo sich einerseits das Lager, andererseits das Archiv befand.

      Vanessa und Marc blieben stehen und besahen sich die langen Reihen der Bücher, die Sven im Laufe der Jahre gesammelt und erworben hatte. Manche davon waren Erbstücke seiner eigenen Familie, andere waren Werke, deren Ursprung sich nicht mehr zurückverfolgen ließ, und einige waren von Sven selbst verfasst worden. Mehr als zweitausend Bücher, Folianten und Schriftrollen reihten sich nebeneinander in den Regalen des kleinen Raumes. Vanessa hatte einmal gemeint, sie könne die magische Spannung, die von den Werken ausging, praktisch spüren. Auch jetzt stellten sich ihr die Nackenhaare auf, als sie an den Regalen vorbei ging.

      »Warum hast du die Sachen eigentlich nicht eingescannt?«, fragte Marc, während Sven sich langsam aber sicher durch einen Index arbeitete. Ein halb belustigter, halb resignierter Blick untermalte die Antwort:

      »Das hab ich mal versucht. Funktioniert nicht. Aus irgendwelchen Gründen kann man echte magische Werke nicht vervielfältigen oder einscannen. Man muss sie mit der Hand schreiben.«

      »Ist vielleicht auch besser so.«

      »Ah. Hier haben wir's.« Sven legte den Index beiseite, ging ein paar Schritte die Regale entlang und holte ein, im Vergleich zu den anderen, recht unscheinbares Buch heraus. Es hatte die Ausmaße eines größeren Taschenbuches und war, wie fast alle Bände, die sich in der Bibliothek befanden, per Hand geschrieben.