Dennis Blesinger

Magische Bande


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nicht zu erkennen waren.

      Sie spürte einen beruhigenden Druck auf ihrer Schulter und setzte sich an einen der freien Plätze. Dort, vor ihr, lag etwas Silbernes auf dem Tisch. Ein Blick in die Runde verriet ihr, dass vor allen anderen Teilnehmern der Versammlung ein ähnlicher, wenn nicht sogar identischer Gegenstand lag. Es war ein Ring, der, aufgesetzt, den kompletten unteren Knochen des Fingers bedecken würde. Jeder Zentimeter seiner Oberfläche war mit Symbolen und Schriftzeichen bedeckt. Manche davon waren Nadja vage vertraut, die Mehrzahl jedoch nicht. Die Beleuchtung machte es schwierig, weitere Details zu erkennen, doch sie spürte instinktiv, dass es sich bei diesen Gegenständen nicht um Zierrat handelte, sondern um echte magische Artefakte.

      Ein Kribbeln durchfuhr sie, als sich ihr Gastgeber an die Stirnseite des Tisches setzte und allen Anwesenden mit einer Geste bedeutete, die Ringe vor ihnen aufzusetzen.

      Kaum war dies geschehen, verblasste das Licht der Kerzen zu einem Glimmen und dunkle Schatten durchzogen den Raum, sorgten dafür, dass die ohnehin schon düstere Atmosphäre noch ernster wurde. Die Schriftzeichen und Symbole, die den Raum durchzogen, begannen in einem dunklen Rot zu glühen, ohne dabei jedoch zur Beleuchtung des Raumes beizutragen.

      Während sie registrierte, wie ihre Hände links und rechts von den Händen ihrer Nachbarn ergriffen wurden und der Kreis somit geschlossen wurde, fragte Nadja sich, was von diesen Effekten, die sie sah, wirklich war und was von den Kräutern verursacht wurde, deren Dämpfe ihr zunehmend ein Gefühl der Entrücktheit verliehen.

      Die Séance hatte begonnen.

      4

      »Das ist überhaupt nicht wahr! Gib das her!«

      Marc lachte und versuchte vergeblich, Vanessa das Buch zu entreißen, in dem Sven und sie gerade lasen.

      »Und du willst mir erklären, dass wir ein Problem mit Nadja haben werden?«, fragte Sven.

      »Das war ein Unfall! Ich war sieben!«

      Vanessa grinste und strich über die Seiten des Buches. Buchsammler hätten ihren rechten Arm für dieses Exemplar gegeben. Es war ein Unikat und die Chronik der Familie Gindera. Über Generationen hinweg war alles, was wichtig war und in den Bereich der Magie fiel, dort festgehalten worden.

      Einige Seiten lasen sich wie Einträge eines klassischen Tagebuchs. Manche Autoren hatten ihre Eintragungen kurz und knapp gehalten, während andere zusätzlich Zeichnungen und Skizzen angefertigt hatten, manchmal von Familienmitgliedern, manchmal von anderen, nicht menschlichen Lebewesen. Es fanden sich Einträge, die die Verfolgung von Hexen behandelten, Grundrisse der ersten Dörfer, in denen die Vorfahren der Ginderas gelebt hatten, Rezepte für Heiltränke, Bannsprüche, und noch vieles mehr. Leider waren Marcs Eltern der Meinung gewesen, auch die ersten magischen Schritte ihrer beiden älteren Kinder festhalten zu müssen, wie sie gerade festgestellt hatten.

      »Ich wusste nicht, dass du Feuer beschwören kannst«, meinte Sven beeindruckt.

      »Das war ein Unfall«, wiederholte Marc. »Da hatte ich den Dreh mit dem Gleichgewicht noch nicht raus. Darüber hinaus sind Feuerbälle total albern. Ich meine, was will man denn damit erreichen? Ich glaube, es gibt in der ganzen Geschichte der Magie nicht eine einzige Situation, in der jemand einen Feuerball beschworen hat und das Ganze auch einen guten Sinn und Zweck hatte. Ich meine, wozu haben wir Feuerzeuge?« Er blickte Vanessa an, die ernst und langsam in dem Buch herumblätterte. Es handelte sich einerseits um so etwas wie eine Chronik der Familie, andererseits war es, wenn man genau las, intimer, als es die meisten Tagebücher waren. Alle Mitglieder der Familie hatten dort irgendwann etwas sehr persönliches niedergeschrieben. Ein aufmerksamer Leser hätte in dem Buch mehr über Marc, Vanessa und den Rest ihrer Familie herausgefunden, als durch eine mehrstündige Befragung mittels Lügendetektor.

      Ihr Blick blieb auf einer Seite hängen, die, anders als die meisten Seiten in dem Buch, eine große Zeichnung enthielt, wohingegen der Text weniger als ein Viertel der Fläche einnahm. Marcs Lächeln verlor sich auf dem Weg zu dem Buch hin und wurde ersetzt von einem Blick, dem eindeutig etwas Melancholisches anhaftete. Sven fühlte, dass dies einer der sehr persönlichen Einträge war, und blickte absichtlich nicht weiter auf die Seite, sondern wartete, bis Marc ihm mit einem Nicken die Erlaubnis gab.

      Die detaillierte Zeichnung zeigte eine junge Frau, deren Gesicht von einer lockigen Haarmähne umrahmt wurde und auf deren Gesicht ein sympathisches, wenn nicht sogar keckes Lächeln stand. Die wachen Augen und die kleine Stupsnase weckten spontan Sympathie in Sven.

      »Wer ist das?«, fragte er.

      Vanessa warf Marc ein Lächeln zu.

      »Das ist Marcs Seelenverwandte«. Sie zeigte auf den Absatz neben dem Bild. Dort standen, wie bei einem Steckbrief, mehrere Stichpunkte. Manche bezogen sich auf den Charakter, andere auf das Erscheinungsbild. Einer der Einträge dort lautete 'rote Haare', wobei das Wort 'rote' doppelt unterstrichen war. Obwohl der ganze Absatz nicht viel Platz einnahm, war er aufgrund Marcs kleiner Handschrift sehr inhaltsreich und umfasste mehr als dreißig Punkte.

      »Liest sich ein bisschen wie bei einer Datingagentur«, lautete Svens Urteil schließlich. Vanessa überlegte eine Weile und nickte dann.

      »Könnte man so sagen«, entgegnete sie. »Es gibt ein Ritual, mit dem man seine … andere Hälfte finden kann, sein spirituelles Gegenstück.«

      »Oder um es mal einfach auszudrücken: Die Liebe seines Lebens.« Marc nahm das Buch von Vanessa und blickte die Seite ernst an.

      »Und das funktioniert?«

      »Schon, ja. Das Problem ist, dass man mit der anderen Person nicht wirklich in Kontakt tritt. Man … « Vanessa suchte nach den richtigen Worten. »Es wird einem signalisiert, dass diese andere Person, nach der man sucht, auch wirklich existiert.«

      »Und? Wie heißt sie?«

      »Keine Ahnung. Ich hab sie noch nicht persönlich getroffen.« Marc warf Sven einen missmutigen Blick zu. »Das Problem ist, dass du zwar vermittelt bekommst, dass diese andere Person existiert und wie sie aussieht«, er tippte auf die Seite, »aber leider nicht gesagt bekommst, wo sie wohnt. Die Chance, dass sie Venezuela wohnt, ist deutlich höher als die, dass sie auf diesem Kontinent lebt.«

      »Klingt nicht so effektiv.«

      »Ach nee.«

      »Keine Lügen sollen zischen … was?« Sven stockte, als er die kleine Handschrift zu entziffern versuchte.

      »Zwischen. Zwischen uns stehen.« Marcs Tonfall gab klar zum Ausdruck, dass ihm die Sache langsam etwas peinlich wurde. Sven warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

      »Interessante Beziehung. Aber sehr romantisch.«

      »Ja. Das dachte ich damals auch. Das war eine dämliche Idee.« Marc blickte auf die Zeichnung, die im Laufe der Jahre etwas verblasst war. Er hatte sich abgewöhnt, sie allzu oft anzuschauen. Jedes Mal, wenn er es in der Vergangenheit getan hatte, war die Gewissheit größer geworden war, dass die eine Person, die ihn ganz und komplett werden ließe, irgendwo da draußen war und er absolut keine Ahnung hatte, wo er mit der Suche nach ihr beginnen sollte.

      Mit einem letzten Blick auf die Zeichnung klappte Marc das Buch zu. Deswegen waren sie nicht hier. Er sah die beiden Personen im Raum an. Von beiden ging eine Aura der Erwartung aus, die es ihm unmöglich machte, die ganze Angelegenheit noch abzublasen. Darüber hinaus hatte Sven eine Unmenge Bücher mitgebracht, in denen Übungen, Trainingsszenarien und dergleichen beschrieben waren. Beide waren offensichtlich ganz wild darauf, mit der Planung von Nadjas Ausbildung zu beginnen.

      Sie saßen auf dem Dachboden, in dem Raum, in dem Vanessa und Marc alles aufbewahrten, was auch nur annähernd mit dem Thema Magie zu tun hatte. Mehrere Bücherregale säumten die Wände, daneben einige Kisten und drei Apothekerkommoden, die alle vollgestopft waren mit Steinen, Kristallen, Amuletten, Pergamenten, Büchern und anderen magischen Utensilien, die sich auf die eine oder andere Weise im Laufe der Jahre und Jahrzehnte angesammelt hatten. In der Mitte standen bequeme Stühle sowie ein Tisch, an dem