Peter Schmidt

Kalter Krieg im Spiegel


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      Nach einer Weile versuchte ich es mit dem Knie.

      Darauf beklagte sie sich: »Machen Sie mir nicht die Strümpfe kaputt …«

      Erst als wir wieder auf der Straße standen, taute Barbara ein wenig auf. Sie hatte zwei Semester Philosophie studiert, ehe sie von F. in die Firma geholt worden war (sicherlich, weil er es für das kleinere von zwei Übeln hielt), und als ich ganz unabsichtlich eine Bemerkung über das betrunkene Wrack fallenließ, das gerade auf der anderen Gehsteigseite einen Laternenpfahl umarmte, wurde sie regelrecht aufgeregt und fragte:

      »Sie glauben also, er kann nichts dafür? Freier Wille und so – alles Unfug?«

      Ich erwiderte, es spreche mehr dafür als dagegen, dass er ein von Neuronen, Nervenverdrahtungen, Sinnesimpulsen, Gefühlen und Instinkten geleiteter Automat sei; von den sozialen Bedingtheiten ganz abgesehen.

      »Aber welcher Instinkt kann einen Menschen dazu verleiten, sich so zu betrinken? Und wie kann man mit Ihrer Anschauung noch leben?«, fragte sie und zog mich in eine dunkle Seitenstraße, wo ich wieder versuchte, sie zu umarmen.

      »Später vielleicht«, wehrte sie ab. »Ich weiß wirklich nicht, was ich von Ihnen halten soll. Es gibt keine Schuld ohne Freiheit – also ist es wahrscheinlich nur eine Masche, Ihre unbewusste Masche, um sich der Verantwortung zu entziehen …?«

      Sie schob die Brille hoch und forschte in meinem Gesicht (offenbar, ob sich dort die Spuren verdrängter Schuldkomplexe entdecken ließen).

      »Nehmen Sie doch endlich das lächerliche Ding ab! Es gehört Ihnen nicht«, sagte ich und küsste sie flüchtig auf die Stirn.

      »… weil Sie ohne diese Lüge nicht leben können«, fuhr sie grüblerisch fort.

      Ich nahm ihr die Brille ab und steckte sie in das Handtäschchen an ihrem Arm.

      Wir standen im Schatten eines Hauses, dessen Fenster völlig unbeleuchtet waren. Der Lärm, das Licht der Neonreklamen und Autos von der Hauptstraße drang wie ein lästiger Eindringling in die ruhige Straße. Ich hatte plötzlich Lust, sie in die Wohnung mitzunehmen, ihr den Mann zu zeigen, für dessen Tod ich verantwortlich sein würde. Ich hatte das kaum noch bezwingbare Verlangen, mein Wissen mit jemandem zu teilen. Schon der Gedanke daran erleichterte mich.

      Doch natürlich war es unmöglich. Es würde der Organisation schaden, es würde Barbara schaden, es würde F. schaden, und es würde mir schaden.

      Immerhin war es ein aufschlussreicher Abend gewesen – auch ohne dass sie mich in ihre Wohnung mitgenommen hatte. Ich grübelte darüber nach, woher das Gerücht stammte, ob F. es gezielt in die Welt gesetzt hatte – eigentlich hielt ich ihn nicht für so schlecht – oder ob die unter den Mädchen ausgetauschten Erlebnisse nicht genügend Material für den Verdacht abgaben, der Mann, der dahinterstecke, könne nur der Chef sein.

      Andererseits wäre es ein raffinierter Schachzug gewesen, das Gerücht auf diese Weise auszustreuen, denn so ließ sich vermeiden, dass er eine anfechtbare Behauptung schon vor dem Ernstfall aufstellte.

      Wenn er es darauf anlegte, die Schuld dadurch von sich abzuwälzen – falls es überhaupt jemals dazu kam –, dass er mich als Verantwortlichen präsentierte, war es zweckmäßiger, das Ganze genauso zu arrangieren, wie es sich jetzt darstellte.

      Aber noch immer zögerte ich, diese Version zu glauben. Alles konnte bloßer Zufall sein. Selbst wenn F. nichts dergleichen beabsichtigte, lag der Verdacht für die Mädchen nahe, denn sie wussten nichts von meiner Isolierung, sie konnten nicht ahnen, warum er auf mein leibliches und seelisches Wohl bedacht sein musste.

      Während ich noch darüber nachsann, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Barbara so etwas wie eine Entlastungszeugin für mich sein könnte (immer den unwahrscheinlichen Fall angenommen, dass unsere Arbeit überhaupt einmal aufflog). Wenn ich sie nämlich von meiner tatsächlichen Rolle überzeugte, wenn ich sie ins Vertrauen zog (schließlich blieb das Geheimnis in der Familie). F. würde fuchsteufelswild werden – und sich damit abfinden müssen, denn die lästige Mitwisserin war schließlich seine Tochter. Das war dann meine Art der Vorsorge. Und wenn sich das Ganze als eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme herausstellte – um so besser!

      Aber nicht schon heute … dachte ich. Dazu kannten wir uns noch zu wenig. In einigen Tagen vielleicht.

      Statt der gewohnten Ausgeglichenheit nach den Tabletten fühlte ich mich aufgekratzt. Ich hätte Barbara gern dazu überredet, mit mir gemeinsam zwei, drei Kapseln Ampheton zu nehmen.

      »Warum gehen wir nicht zu Ihnen hinauf und plaudern ein wenig über ‚philosophische Probleme’?«, erkundigte ich mich scheinheilig.

      »Oh – der Geist ist schwach und das Fleisch ist willig …«, wehrte sie ab – und lächelte über ihr Wortspiel. »Ich denke, wir bleiben doch lieber noch an der frischen Luft.«

      Also spazierten wir ein paar Mal die dunkle Straße hinauf und hinunter. Dann bogen wir in die schmale Zufahrt zu einem Innenhof ein. Beim Näherkommen sah ich, dass es ein kleiner Park mit Pappeln, verwachsenen Hecken und einem Spielplatz war. Rund um den Sandkasten standen Bänke. Die hohen alten Häuser des Innenhofs waren dunkel, in keinem der Fenster war Licht.

      Barbara schien auf seltsam abwesende Weise völlig in den Anblick des blauschwarzen Himmels über den Dachkonturen zu versinken – im Nordosten stand eine Wand grauen Lichts, das von der Hauptstraße heraufstrahlte …

      »Nehmen wir einmal an«, begann ich, »Ihre Freundin würde Sie hintergehen, also belügen, betrügen, bestehlen, gegen Sie intrigieren, wie auch immer. Doch Sie hätten keine rechtliche Handhabe gegen sie, keine dem Gesetz nach überzeugenden Beweise. Aus irgendeinem Grunde – vielleicht, wegen einer testamentarischen Verfügung, ohne die sie Ihr Leben lang verschuldet und finanziell ruiniert wären – käme jedoch keine Trennung in Frage. Und nun ergäbe sich plötzlich die Gelegenheit, sie auf leichte und unauffällige Weise loszuwerden.

      Sagen wir es offen – durch Mord!

      Sie wüssten, dass Ihnen ohne diese Handlungsweise in ihrem ferneren Leben unabsehbarer Schaden zugefügt würde.

      Auch das Gesetz rechtfertigt schließlich die Strafe, und je nachdem das Todesurteil, durch ein Schaden-Nutzen-Verhältnis und nicht etwa nur durch den Sühnegedanken.

      Was Ihre Handlungsweise von einem gewöhnlichen Richterspruch unterscheiden würde, wäre nicht die Schuld und deren Folgen, sondern vor allem die Norm, die wir zur Erkennbarkeit der Schuld gesetzt haben.

      Sie persönlich sind völlig überzeugt«, fuhr ich fort. »Aber es gibt keinerlei Beweise im Sinne der Gerichte …

      Es ist Ihre Erkenntnis, ganz allein Ihre Einsicht, und sie ergibt sich aus scheinbar belanglosen Zufällen, Winzigkeiten, achtlos hingeworfenen Bemerkungen, aus dem Mienenspiel und jenen nur erfühlbaren Gesten, die uns größere Gewissheit verschaffen als irgendein Beweis vor Gericht.

      Es ist die Gewissheit der Ehefrau, betrogen worden zu sein, noch ehe ihr Mann in flagranti ertappt wurde, die Überzeugung der Mutter, dass ihr Kind lügt, lange bevor sie den eigentlichen Anlas der Lüge entdeckt hat –wäre das ein zwingender Grund für Sie, das äußerste Mittel zu rechtfertigen?«

      Barbara schien nicht zugehört zu haben. Ich folgte ihrem Blick, der noch bei dem blauschwarzen Himmel und der Silhouette der Häuserdächer verweilte.

      »Es ist ein liegender Riese«, meinte sie nachdenklich. – »Was sagen Sie? Ein zwingender Grund? Nein, es gibt immer eine Wahlmöglichkeit.«

      »Ich denke, das ist eine faule Alternative, ein philosophisches Hirngespinst. Nicht auf Wahlfreiheit kommt es an«, erklärte ich mit Nachdruck, »sondern auf Leiden und Glück. Gegenüber dem

      Schmerz und dem Leiden überhaupt ist das Prinzip der Wahl völlig indifferent, es ist kalt und abstrakt …

      »Übrigens läßt sich aus den Konturen der Dächer am Abendhimmel das Schicksal bestimmen«, sagte sie. »Sicherer als aus der Stellung der Gestirne. Astrologie ist Unfug.