fummelte in den Taschen nach einem Zettel, um sich die Adresse zu notieren.
Kofler Durchhaltevermögen dagegen war ausgezeichnet. Von einer gewissen Menge an schien der Alkohol seine Wirkung auf ihn zu verlieren. Vermutlich, weil er es wie seine Landsleute gewohnt war, den Wodka aus Wassergläsern zu trinken. Er griff in das Regal hinter sich und reichte mir einige Blätter aus seinem Manuskript.
»Ich gehe hier detaillierter auf die Theorie des guten Willens ein und zeige, wie in Behörden – sagen wir, im Rat des Kreises drüben – der tägliche gute Wille zu schnellerer Bearbeitung von Visaanträgen führt; wie der Schuss des Grenzsoldaten in die Luft geht; wie der radikale Gewerkschafter im Osten durch guten Willen die Gefährdung der Liberalisierung unterbindet; wie der Chemiefabrikant im Westen den Tod einer ganzen Flussfauna für ein neues Werk durch den Verzicht auf Dividenden verhindert; wie der Bauer den unkontrollierten Gebrauch von Hormonen und Antibiotika um einiger zusätzlicher Kilo Fleisch willen unterlässt; wie der frustrierte Arbeitslose darauf verzichtet, Parkbänke in den Teich zu werfen, der unzufriedene Jugendliche, in den Telefonzellen Hörer abzureißen; wie der Eifersüchtige seine Eifersucht, der Unduldsame seine Unduldsamkeit bezwingt; wie der marxistische Theoretiker seine Überzeugungen in Frage stellt und nicht jeden Andersgläubigen zum Irrsinnigen erklärt und ihn in Arbeitslager oder psychiatrische Kliniken steckt, wenn er seiner habhaft werden kann; wie der Präsident nicht aus kostbarem Porzellan isst, solange unter seiner Regierung Menschen verhungern; und dass die Abrüstungsgespräche schließlich gelingen – ich rede nicht von einseitiger Abrüstung –, weil eine Seite zur Vorgabe von mehr Vertrauen bereit ist.
Solche Appelle an die Freiheit sind blauäugig, ja lächerlich – kein Zweifel. Und sie sind wirkungslos. Sie sind immer lächerlich und wirkungslos, wenn nur ein Einzelner sie ausspricht. Aber lassen Sie es uns zu einem alltäglichen Gedanken, einer konkreten Forderung machen – und auch zu einem Ruf in den Schulen.
Lassen Sie uns von Kindheit an das phantastische Bild einer Welt malen, die von diesem Willen geprägt ist. Lassen Sie es uns im täglichen Gespräch erneuern, in Briefen, Büchern, im Rundfunk, in Theaterstücken und Zeitungen. Was genau hindert uns eigentlich daran? Lassen Sie uns die direkte Frage stellen, was uns jetzt und in diesem Augenblick daran hindert! Trägheit? Scham? Misstrauen? Oder Skepsis? – Welches Gewicht haben solche Bedenken gegenüber den Gefahren, die uns in der nuklearen Aufrüstung, der Konfrontation der Ideologien und Machtblöcke, der Gewissenlosigkeit des Einzelnen und der ökologischen Katastrophe drohen?«
Er war aufgestanden und beugte sich über den Tisch. Eine tiefe Falte hatte sich an seinem Nasenbein gebildet, das schüttere Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Sein magerer Körper beschrieb einen Bögen, in dessen Hohlseite sich der Schlag des Herzens abzeichnete – oder war das nur Einbildung? Die aufgestützten Arme zitterten unter seinem Körpergewicht.
Ich ahnte plötzlich, was ihn in F.s Augen – und in denen seiner mutmaßlichen Hintermänner – vielleicht unerträglicher und gefährlicher erscheinen ließ als die Annahme, er sei ein Agent des Ostens:
Nicht vor der Radikalität der Bewegung, dem Komplott und dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit, in dem sie stand, fürchtete man sich; sondern davor, dass eine Welle des guten Willens das überkommene und wohlgeordnete Parteien- und Machtgefüge zu unwillkommenen Änderungen nötigen würde. Schon die kleinste Veränderung in diese Richtung fürchtete man, gleich welcher Art …
»Es kann darauf nur eine Antwort geben«, fuhr Kofler‘ fort, noch immer stehend.
»Setzen Sie sich wieder«, meinte Kruschinsky. »Wir sind alle ein wenig betrunken. Zu betrunken, um das jetzt zu klären. Aber wahrscheinlich haben Sie recht.«
Er drehte mir das Gesicht zu und tippte sich unauffällig an die Stirn. Dabei streifte er eine der beiden Flaschen mit dem Arm, sie fiel um und rollte über die Tischplatte. »Leer«, stellte er achselzuckend fest. »Beide leer.«
»Ich werde hinunterfahren und sehen, ob ich noch etwas auftreiben kann«, sagte ich.
»Ausgezeichnete Idee«, nickte Kofler.
Ich nahm meinen Mantel aus dem Schrank und ging zum Fahrstuhl. Ich hatte das Bedürfnis nach frischer Luft.
Niemand ist in der Lage, so zu schauspielern, dachte ich, während ich hinunterfuhr. Nicht mal der beste Schauspieler der Welt. Es sei denn, er hätte begonnen, seine Rolle zu leben.
Ich schaltete das Minutenlicht in der Tiefgarage ein, ehe ich die Tür öffnete. Es gab dafür im Fahrstuhl einen Extraschalter. Obwohl ich angeschlagen war, bemühte ich mich, so vorsichtig zu sein wie immer.
Erst als ich mich davon überzeugt hatte, dass niemand in den parkenden Wagen saß, betrat ich die Halle. Auf halbem Wege verlöschte das Licht. Nur die grüne Notausgangsbeleuchtung blieb an.
Draußen war es angenehm kühl. Ich sog die frische Luft ein. Die Schatten der Ruine am Ende des Hofs erreichten kurz meine Schuhspitzen, als ein Autoscheinwerfer das Gebäude aus der Parallelstraße anstrahlte, vermutlich kam er von der schrägen Zufahrt einer anderen Tiefgarage.
Vertrauen – war das nur ein Wort? Oder doch mehr? Hatte ich mich nicht längst auf seine Seite geschlagen? Überzeugte er mich nicht insgeheim? Irgend etwas war an seinen Reden, das mich beeindruckte.
Und trotzdem blieb es das lächerliche Gerede eines alten Mannes, der scheitern würde …
Ich ging durch die Einfahrt und dann ein Stück die Straße entlang. Als ich um die Ecke bog, stoppte dicht neben mir am Bordstein ein kleiner blauer Wagen.
Die Scheibe des Beifahrersitzes wurde heruntergekurbelt. Barbara beugte den Kopf hinüber und sah mich an.
»Sie?«, fragte ich.
»Na, ich bin nicht weniger überrascht. Was treiben Sie in dieser elenden Gegend? Wohnen Sie etwa hier?«
»In der Nähe, ja.«
»Wissen Sie, ich hab‘s mir überlegt, vielleicht sollten Sie mir doch erzählen, was Sie auf dem Herzen haben. Wir könnten uns übermorgen Abend treffen – um sieben an der U-Bahn-Station Zoologischer Garten?«
»Einverstanden«, nickte ich.
»Jetzt muss ich schleunigst weiter. Ach richtig … eh ich‘s vergesse, die Papiere! Ich habe Ihnen einige Kopien mitgebracht. Natürlich wird mein Vater fuchsteufelswild werden, wenn er davon erfährt. Aber ich denke, Sie werden es ihm nicht auf die Nase binden?«
»Warum sollte ich.«
Sie griff auf den Rücksitz und reichte mir einige Blätter. »Technischer Kram. Von Ihnen abgezeichnet. Sie müßten‘s ja ohnehin kennen. Deshalb kann es wohl kein Geheimnisverrat sein?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Na, jedenfalls hab‘ ich Ihnen den Gefallen getan – wenn ich auch nicht ganz begreife, was Sie damit im Schilde führen. Sie können‘s mir übermorgen erzählen. Dann alles Gute.«
Sie winkte kurz mit der Hand, kurbelte die Scheibe hinauf und startete. Ich sah den Rückleuchten des kleinen Wagens nach. Dann steckte ich die Papiere ein und ging die Straße entlang bis zur Trinkhalle. Doch sie hatte um diese Zeit nicht mehr geöffnet, das Gitter war heruntergelassen.
Ich besorgte die beiden Flaschen Wein in einer Kneipe, die ich von früher her kannte, sie lag zwei Straßenzüge weiter. Ich ließ mir eine Tragetasche geben, um sie nicht in der Hand halten zu müssen. Es war billiger Weißwein, aber er kostete so viel wie eine gute Auslese. In der Wohnung hielt ich die Kopien unter die Lampe und warf einen Blick auf ihre Signaturen; sie waren mit einem C abgezeichnet. Es sah meinem eigenen ähnlich – doch ich hatte die Papiere nie zuvor gesehen.
Wir leerten eine der beiden Flaschen, dann entschuldigte ich mich. Ich war hundemüde, und F. würde mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett holen, um mich mit Koflers Bewegung in Frankfurt und Bochum bekannt zu machen (Kruschinsky begann gerade, sich mürrisch darüber zu verbreiten, dass die Abteilung ihn nicht nur für die Bedienung und Wartung des L.D.A. einsetzte, sondern auch zum Kochen und Reinemachen;