Charlotte Bronte

Jane Eyre


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      »Ich will dich küssen, und gern küssen; komm, biege deinen Kopf zu mir herunter.« Bessie neigte sich, wir umarmten uns, und ich folgte ihr ganz getröstet ins Haus. Dieser Nachmittag verging in Frieden und Eintracht, und am Abend erzählte Bessie mir einige ihrer bezauberndsten Geschichten und sang mir ihre süßesten Lieder vor. Sogar auf mein Leben fiel dann und wann ein Sonnenstrahl.

      Fünftes Kapitel

      Am Morgen des 19. Januar hatte es kaum fünf Uhr geschlagen, als Bessie ein Licht in meine kleine Kammer brachte und mich bereits außer dem Bette und halb angekleidet fand. Ich war schon eine halbe Stunde vor ihrem Eintritt aufgestanden, hatte mein Gesicht gewaschen und mich beim Scheine des grade untergehenden Mondes, der seine Strahlen durch das schmale Fensterchen neben meinem Bette warf, angekleidet. An diesem Tage sollte ich Gateshead mit einer Postkutsche verlassen, die um sechs Uhr morgens an dem Parktor des Herrenhauses vorüberfuhr. Bessie war die einzige Person, die aufgestanden war; sie hatte in der Kinderstube ein Feuer im Kamin angezündet und bereitete jetzt mein Frühstück an demselben. Nur wenige Kinder vermögen zu essen, wenn sie von dem Gedanken an eine Reise beherrscht sind, und ich konnte es auch nicht. Umsonst bat Bessie mich, nur einige Löffel voll von dem Milch- und Brotbrei zu essen, den sie für mich bereitet hatte; ich weigerte mich hartnäckig; dann wickelte sie einige kleine Brötchen und Zwieback in ein Papier und schob es in meine Reisetasche. Darauf bekleidete sie mich mit Hut und Pelz, hüllte sich in ein dickes Tuch und verließ mit mir die Kinderstube, Als wir an Mrs. Reeds Schlafzimmer vorüberkamen, sagte sie: »Wollen Sie hineingehen und Ihrer Tante Lebewohl sagen?«

      »Nein, Bessie. Als du gestern zum Abendbrot in die Küche hinunter gegangen warst, kam sie an mein Bett und sagte, daß ich weder sie noch meine Cousinen heute morgen zu stören brauche, und dann ermahnte sie mich, nie zu vergessen, daß sie stets meine beste Freundin gewesen, und dankbar von ihr zu sprechen und an sie zu denken.«

      »Was antworteten Sie darauf, Fräulein?«

      »Nichts. Ich bedeckte mein Gesicht mit der Decke und wandte mich von ihr ab.«

      »Das war nicht recht, Miß Jane.«

      »Es war ganz recht, Bessie. Mrs. Reed ist niemals meine Freundin gewesen, sie war meine erbittertste Feindin.«

      »O, Miß Jane, das dürfen Sie nicht sagen!«

      »Lebewohl Gateshead!« rief ich, als wir durch die Halle gingen und durch die große Haustür hinaustraten.

      Der Mond war untergegangen und es war sehr dunkel. Bessie trug eine Laterne, deren Licht auf nasse Stufen und einen durch plötzlichen Tau aufgeweichten Kiesweg fiel. Feucht und rau war dieser Wintermorgen, meine Zähne schlugen vor Kälte zusammen, als wir den Fahrweg hinuntereilten. Aus der Loge des Portiers glänzte ein Licht. Als wir näher kamen, sahen wir, daß die Pförtnersfrau gerade ein Feuer machte. Mein Koffer, welcher schon am Abend vorher hinuntergetragen war, stand mit Stricken geschnürt vor der Tür. Es fehlten nur noch wenige Minuten an sechs Uhr, und kurz nachdem die volle Stunde geschlagen hatte, verkündete das ferne Rollen der Räder das Nahen der Postkutsche. Ich ging an die Tür und beobachtete, wie die Laternen des Wagens schnell durch die Dunkelheit daher kamen.

      »Fährt sie allein?« fragte die Portiersfrau.

      »Ja.«

      »Und wie weit ist es von hier?«

      »Fünfzig Meilen.«

      »Welch weiter Weg! Mich wundert es nur, daß Mrs. Reed es wagt, sie die lange Strecke allein fahren zu lassen.«

      Die Kutsche hielt an; da stand sie mit ihren vier Pferden und dem von Reisenden besetzten Dach vor der Tür; der Kutscher und der Kondukteur trieben laut zur Eile an; mein Koffer wurde hinauf gehißt; man zog mich von Bessie fort, deren Nacken ich umklammert hielt und die ich mit Küssen bedeckte.

      »Daß Ihr nur gut acht auf das Kind gebt!« rief sie dem Kondukteur zu, der mich in das Innere des Wagens hob.

      »Ja! Ja! Ja!« war seine Antwort. Die Tür wurde wieder zugeschlagen, eine Stimme rief »Fertig«, und vorwärts ging es. So trennte ich mich von Bessie und Gateshead – so rollte ich davon, unbekannten und wie ich damals glaubte, fernen und geheimnisvollen Regionen entgegen.

      Von jener Reise erinnere ich mich nur noch an wenige Einzelheiten. Ich weiß nur noch, daß der Tag mir von einer unnatürlichen Länge erschien, und daß es mich dünkte, als ob die Landstraße, auf welcher wir dahinfuhren, hunderte von Meilen lang sei. Wir kamen durch verschiedene Städte, und in einer derselben, einer sehr großen, hielt die Kutsche an; die Pferde wurden ausgespannt und die Passagiere stiegen aus, um zu Mittag zu essen. Ich wurde in ein Wirtshaus geführt, wo der Kondukteur mich aufforderte, mich zum speisen hinzusetzen; da ich jedoch keinen Appetit hatte, ließ er mich in einem großen Zimmer allein, an dessen beiden Enden sich je ein Kamin befand; ein Kronleuchter hing von der Decke herab, und oben an der Wand war eine kleine, rote Galerie angebracht, auf der verschiedene musikalische Instrumente lagen. In diesem Gemach ging ich lange auf und ab; mir war gar seltsam zu Mute und ich hatte eine Todesangst, daß jemand hereinkommen könne, um mich zu rauben und fortzuführen, denn ich glaubte an Kinderdiebe; ihre Taten hatten in Bessies Kaminfeuererzählungen stets eine hervorragende Rolle gespielt. Endlich kam der Kondukteur zurück, noch einmal wurde ich in die Kutsche gepackt; mein Beschützer stieg auf seinen eigenen Sitz, ließ sein Horn erklingen, und fort rasselten wir über die steinigen Straßen von L.

      Naß und nebelig kam der Nachmittag heran; als die Dämmerung hereinbrach, begann ich zu fühlen, daß wir in der Tat schon weit von Gateshead entfernt sein mußten; wir hörten auf, Städte zu passieren; die Landschaft veränderte sich; große, graue Hügel begannen den Horizont einzuschließen. Als es dunkler und dunkler wurde, fuhren wir in ein düsteres, dicht bewaldetes Tal hinab, und lange nachdem die Nacht sich herabgesenkt hatte und jede Aussicht unmöglich machte, hörte ich den wilden Sturm durch die Bäume rauschen.

      Dieses Rauschen lullte mich ein, endlich schlief ich fest. Doch hatte ich noch nicht lange geschlummert, als das plötzliche Aufhören der Bewegung mich weckte. Der Schlag der Postkutsche war geöffnet und eine Person, die wie eine Dienerin gekleidet war, stand daneben. Beim Schein der Laterne sah ich ihr Gesicht und ihre Kleidung.

      »Ist ein kleines Mädchen hier, welches Jane Eyre heißt?« fragte sie. Ich antwortete »ja«, und wurde dann herausgehoben; man setzte meinen Koffer ab, und augenblicklich fuhr der Postwagen weiter.

      Ich war steif vom langen Sitzen und ganz betäubt vom Lärm und von der Bewegung der Kutsche; nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, blickte ich umher. Regen, Wind und Dunkelheit füllten die Luft; trotzdem unterschied ich eine Mauer vor mir und eine geöffnete Tür in derselben. Durch diese Tür schritt ich mit meiner neuen Führerin; sie verschloß dieselbe sorgsam hinter uns. Jetzt wurde ein Haus oder ein Komplex von Häusern sichtbar – denn es war ein Gebäude von großer Ausdehnung – mit vielen, vielen Fenstern. Durch einige derselben fiel Lichterschein. Wir gingen einen breiten, mit Kies bestreuten Weg hinauf und wurden durch eine Tür in das Haus eingelassen, dann führte die Dienerin mich durch einen Korridor in ein Zimmer, wo ein helles Kaminfeuer brannte. Und nun blieb ich allein.

      Ich stand und wärmte meine erstarrten Finger an der Glut, dann blickte ich umher. Es brannte kein Licht, aber bei dem unsicheren Schein des Kaminfeuers konnte ich tapezierte Wände, einen Teppich, Vorhänge und glänzende Mahagoni-Möbeln unterscheiden. Es war ein Wohnzimmer, zwar nicht so geräumig und prächtig wie der Salon in Gateshead-Hall, aber dennoch hübsch und gemütlich. Ich war grade damit beschäftigt, einen Kupferstich, welcher an der Wand hing, genau zu besichtigen, als die Tür geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, welche ein Licht in der Hand trug; eine zweite folgte ihr auf dem Fuße.

      Die erste war eine schlanke Dame mit dunklem Haar, dunklen Augen und einer weißen, hohen Stirn; ihre Gestalt wurde zum Teil durch einen Shawl verhüllt; ihr Gesicht war ernst, ihre Haltung gerade.

      »Das Kind scheint doch zu jung, um diese Reise allein zu machen,« sagte sie, indem sie das Licht auf den Tisch stellte. Mehrere Minuten betrachtete sie mich aufmerksam, dann fügte sie hinzu: