das fünfte, sechste und siebente Kapitel des Evangeliums St. Matthäi auswendig zu wiederholen, und eine lange Predigt mit anzuhören, welche die arme Miß Miller, deren nicht zu unterdrückendes Gähnen ihre Müdigkeit verriet, uns vorlas. Ein häufiges Intermezzo dieser Leistungen bildete die Aufführung der Rolle des Eutychus durch ungefähr ein halbes Dutzend der kleinen Mädchen. Überwältigt von Müdigkeit pflegten sie von der Bank zu fallen – wenn auch nicht vom dritten Stockwerk – und halbtot wieder emporgehoben zu werden. Die Abhilfe hiergegen bestand darin, daß man sie in das Centrum des Schulzimmers hineinstieß, wo sie gezwungen wurden auszuharren, bis die Predigt zu Ende war. Zuweilen versagten die Füße ihnen den Dienst und sie sanken in einen hilflosen Klumpen zusammen; dann pflegte man sie durch die hohen Stühle der Aufseherinnen zu stützen.
Noch habe ich der Besuche Mr. Brocklehursts nicht Erwähnung getan; und in der Tat war dieser Ehrenmann während des größten Teils meines ersten Monats in Lowood von Hause abwesend; vielleicht zog sein Besuch bei seinem Freunde dem Erzbischof sich so sehr in die Länge.
Seine Abwesenheit war in der Tat eine Erleichterung für mich. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich meine eigenen Gründe hatte, um sein Kommen zu fürchten. Aber endlich kam er doch.
Eines Nachmittags – ich war damals gerade drei Wochen in Lowood gewesen – saß ich mit der Tafel in der Hand da und zerbrach mir den Kopf über ein langes Divisionsexempel, als meine Blicke sich ganz gedankenlos auf das Fenster richteten. In diesem Augenblick schritt eine Gestalt an demselben vorbei. Fast instinktiv erkannte ich diese hageren Umrisse, und als zwei Minuten später die ganze Schule mit Inbegriff der Lehrerinnen sich erhob, en masse erhob, brauchte ich nicht aufzublicken, um mich zu vergewissern, wessen Eintritt denn auf diese Weise begrüßt wurde. Ein langer Schritt durchmaß das Schulzimmer und gleich darauf stand neben Miß Temple, die sich ebenfalls erhoben hatte, dieselbe schwarze Säule, welche vor dem Kamin im Herrenhause von Gateshead-Hall so finster und unheilvoll auf mich herabgeblickt hatte. Jetzt blickte ich von der Seite auf dieses architektonische Werk. Ja, ich hatte mich nicht getäuscht, es war Mr. Brocklehurst, fest in seinen Überzieher geknöpft, und länger, schmäler und steifer aussehend denn je.
Ich hatte meine besonderen Gründe, beim Anblick dieser Erscheinung zu erschrecken. Ich erinnere mich nur zu wohl der perfiden Winke, welche Mrs. Reed ihm über meinen Charakter gegeben hatte, und des von Mr. Brocklehurst gegebenen Versprechens, Miß Temple und die Lehrerinnen von meiner lasterhaften, verderbten Natur in Kenntnis zu setzen. Während der ganzen Zeit hatte ich schon die Erfüllung seines Versprechens gefürchtet; täglich hatte ich nach dem »Manne, der da kommen sollte«, um durch seine Auskunft über mein vergangenes Leben und mein Betragen mich als ein schlechtes Kind zu brandmarken, ausgesehen – jetzt war er da! Er stand neben Miß Temple; er sprach leise zu ihr ins Ohr. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß er ihr Enthüllungen über meine Schlechtigkeit machte; mit qualvoller Angst beobachtete ich ihre Blicke, jede Minute erwartete ich, ihr dunkles Auge sich voll Abscheu und Verachtung auf mich heften zu sehen. Auch horchte ich. Und da ich am oberen Ende des Zimmers saß, konnte ich den größten Teil des von ihm geführten Gesprächs hören. Der Inhalt desselben befreite mich wenigstens von der augenblicklichen Furcht.
»Ich hoffe, Miß Temple, daß der Zwirn, den ich in Lowton gekauft habe, genügen wird. Es fiel mir ein, daß diese Qualität gerade für die Calikohemden gut sein werde und ich habe auch die dazu passenden Nadeln ausgesucht. Wollen Sie Miß Smith sagen, daß ich vergaß, mir die Stopfnadeln zu notieren; nächste Woche wird sie indessen mehrere Päckchen derselben bekommen, und sagen Sie ihr auch, daß sie jeder Schülerin unter keiner Bedingung mehr als eine Nadel zur Zeit gibt, wenn sie mehre davon haben, werden sie oft nachlässig und verlieren sie nur. Und dann, o, Miß Temple! Ich wünschte wirklich, daß den wollenen Strümpfen mehr Beachtung geschenkt würde! – Als ich das letztemal hier war, ging ich in den Küchengarten und besah mir die Wäsche, welche auf der Leine trocknete. Eine ganze Menge der schwarzen Strümpfe war auf die mangelhafteste Weise gestopft. Aus der Größe der Löcher, welche ich in ihnen bemerkte, schloß ich, daß sie nicht gut ausgebessert sein konnten.«
Hier hielt er inne.
»Ihre Weisungen sollen befolgt werden, Sir,« sagte Miß Temple,
»Und, Madam,« fuhr er fort, »die Wäscherin erzählt mir, daß einige der Mädchen zwei reine Halskrausen in der Woche gehabt haben; das ist viel zu viel. Die Hausregel beschränkt sie auf eine.«
»Ich glaube, Sir, daß ich diesen Umstand genügend erklären kann. Am vorigen Donnerstag waren Agnes und Catherine Johnston eingeladen, bei ihren Freunden in Lowton den Tee zu nehmen. Ich gab ihnen die Erlaubnis, für diese Gelegenheit reine Halskrausen anzulegen.«
Mr. Brocklehurst nickte.
»Nun, für einmal mag es hingehen, aber ich ersuche Sie, diesen Fall nicht zu oft eintreten zu lassen. Noch eine andere Sache hat mich höchlichst überrascht. Indem ich die Rechnung mit der Haushälterin abschloß, fand ich, daß während der letzten zwei Wochen den Schülerinnen zweimal ein Gabelfrühstück serviert worden ist, welches aus Brot und Käse bestand. Was bedeutet das? Ich habe die Statuten durchlesen und fand dort keiner Mahlzeit erwähnt, die sich Gabelfrühstück nennt. Wer hat diese Neuerung eingeführt und auf welche Autorität gestützt?«
»Für diesen Umstand bin ich verantwortlich, Sir,« entgegnete Miß Temple, »das Frühstück war so außergewöhnlich schlecht zubereitet, daß die Schülerinnen es nicht essen konnten, und ich durfte nicht zugeben, daß sie bis zum Mittagessen fasteten.«
»Miß Temple, gestatten Sie mir einen Augenblick zu reden. – Sie wissen, daß es meine Absicht bei der Erziehung dieser Mädchen ist, sie nicht an Luxus und Wohlleben zu gewöhnen, sondern sie abzuhärten und sie selbstverleugnend, geduldig und entsagend zu machen. Sollte nun einmal zufällig solch eine kleine Enttäuschung des Appetits vorkommen, wie z. B. das Verderben einer Mahlzeit, das Versalztwerden eines Fisches u. s. w., so sollte dieser kleine, unbedeutende Zwischenfall nicht neutralisiert werden, indem man den verlorenen Genuß noch durch einen größeren Leckerbissen ersetzt und damit den Körper verweichlicht und den Zweck und das Ziel dieser barmherzigen Stiftung verrückt. Man sollte ein solches Vorkommnis dazu benützen, den Schülerinnen eine geistige Erbauung zu schaffen, indem man sie ermutigt, auch bei temporären Entbehrungen ihre geistige Kraft zu behaupten. Eine kurze Ansprache bei solchen Gelegenheiten würde sehr angemessen sein. Ein kluger Lehrer würde z. B. auf die Leiden und Entsagungen der ersten Christen hinweisen; auf die Qualen der Märtyrer, ja, sogar auf die Gebete unsers gesegneten Heilands selbst, der seine Jünger ermahnt, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen; auf seine Warnungen, daß der Mensch nicht vom Brote allein lebt, sondern von einem jeglichen Worte, so aus dem Munde Gottes gehet; auf seine göttlichen Tröstungen »glücklich seid ihr, so ihr für mich Hunger oder Durst leidet!« O, Miß Temple, wenn sie anstatt des angebrannten Haferbreis Brot und Käse in den Mund dieser Kinder legen, so füttern sie allerdings ihre sündigen Leiber, aber Sie denken wenig daran, daß sie ihre unsterblichen Seelen verhungern lassen.«
Mr. Brocklehurst hielt wieder inne – – wahrscheinlich von seinen Gefühlen übermannt. Beim Beginn seiner Rede hatte Miß Temple zu Boden geblickt; jetzt aber sah sie gerade vor sich hin, und ihr Gesicht, welches von Natur bleich wie Marmor war, schien auch die Kälte und Unbeweglichkeit dieses Materials anzunehmen; besonders ihr Mund schloß sich so fest, als hätte es des Meißels eines Bildhauers bedurft, um ihn wieder zu öffnen, und auf ihrer Stirn lagerte eine versteinerte Strenge.
Inzwischen stand Mr. Brocklehurst vor dem Kamin, die Hände hatte er auf den Rücken gelegt und majestätisch ließ er seine Blicke über die ganze Schule schweifen. Plötzlich zuckte er zusammen, wie wenn sein Auge geblendet oder schmerzhaft berührt worden sei; dann wandte er sich um und in schnelleren Akzenten, als er bisher gesprochen, sagte er:
»Miß Temple, Miß Temple, was – was ist jenes Mädchen da mit dem lockigen Haar? Rotes Haar, Madam, lockig – ganz und gar lockig?« – Mit diesen Worten streckte er seinen Stock aus und zeigte nach dem entsetzlichen Gegenstande. Seine Hände zitterten vor Erregung.
»Es ist Julia Severn,« entgegnete Miß Temple sehr ruhig.
»Julia Severn, Madam! Und weshalb hat sie oder