Charlotte Bronte

Jane Eyre


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er am Leben geblieben, mich mit Güte behandelt haben würde; und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf – da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen, und jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen; ich dachte, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder in dem Gewölbe der Kirche oder in dem unbekannten Lande der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen könne. Ich trocknete meine Tränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, daß diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Troste erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könne, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Dieser Gedanke, der in der Theorie vielleicht ganz trostreich, würde entsetzlich sein, wenn er zur Wirklichkeit werden könnte, das fühlte ich: mit aller Gewalt versuchte ich, ihn zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefaßt zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, erhob ich den Kopf und versuchte in dem dunklen Zimmer umher zu blicken: in diesem Augenblick sah ich den Wiederschein eines Lichtes an der Wand! – War es vielleicht der Mondesstrahl, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang, fragte ich mich? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig und dies Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopfe, Jetzt kann ich freilich begreifen, daß dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Hause trug; aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven, hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß; in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen der Flügel hielt; ein Etwas schien sich mir zu nähern; ich fühlte mich bedrückt, erstickt; mein Widerstandsvermögen gab nach; ich stürzte auf die Tür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung am Schlosse. Eilende Schritte kamen durch den äußeren Korridor daher; der Schlüssel wurde im Schlosse umgedreht, Bessie und Miß Abbot traten ein.

      »Miß Eyre, sind Sie krank?« fragte Bessie.

      »Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!« rief Abbot aus.

      »Nehmt mich mit hinaus! Laßt mich in die Kinderstube gehen!« schrie ich ununterbrochen.

      »Weshalb denn? Ist Ihnen irgend etwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?« fragte Bessie wiederum.

      »O, ich sah ein Licht und ich meinte, daß ein Geist kommen würde.« Ich hatte mich jetzt Bessies Hand bemächtigt, und sie entwand sie mir nicht. »Sie hat mit Absicht so geschrieen,« erklärte Abbot mit einigem Abscheu. »Und welch ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber sie wollte weiter nichts, als uns alle herbeilocken. Ich kenne ihre bösen Streiche schon.«

      »Was gibt es denn hier?« fragte eine andere Stimme gebieterisch; und Mrs. Reed kam mit flatternden Haubenbändern und wehendem Kleide durch den Korridor daher, »Abbot und Bessie, ich glaube, daß ich Befehl gegeben habe, Jane Eyre in dem roten Zimmer zu lassen, bis ich selbst sie holen würde?«

      »Miß Jane schrie so laut, Madame,« wandte Bessie zögernd ein.

      »Laßt sie los,« war die einzige Antwort. »Laß Bessies Hand los, Kind: verlaß dich darauf, auf diese Weise wirst du nicht hinaus gelangen. Ich verabscheue solche List, besonders bei Kindern; es ist meine Pflicht, dir zu beweisen, daß du mit derartigen Ränken und Schlichen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine ganze Stunde hierbleiben, und auch dann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Versprechen gibst, vollkommen ruhig und unterwürfig zu sein,«

      »O, Tante, hab Erbarmen! Vergib mir doch! Ich kann, ich kann es nicht ertragen. – Bestrafe mich doch auf andere Weise! Ich komme um, wenn – –«

      »Sei still! Diese Heftigkeit ist ganz widerlich und empörend!« und ohne Zweifel hegte sie auch Abscheu gegen mein Betragen. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie sah in der Tat auf mich wie auf eine Zusammensetzung der heftigsten Leidenschaften, eines niedrigen, gemeinen Geistes und gefährlicher Falschheit.

      Als Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, warf Mrs. Reed, die meiner wilden Angst und meines lauten Schluchzens wohl müde geworden sein mochte, mich rasch in das Zimmer zurück und schloß mich ohne weitere Erklärungen und Worte wieder ein. Ich hörte noch, wie sie davon rauschte; und bald nachdem sie gegangen war, muß ich in Krämpfe verfallen sein: Bewußtlosigkeit machte der Szene ein Ende!

      Drittes Kapitel

      Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Als ich erwachte, war es mit dem Gefühl eines schrecklichen Alpdrückens, vor mir sah ich eine unheimliche rote Glut, von der sich dicke, schwarze Stangen abhoben. Ich hörte Stimmen, die hohl an mein Ohr klangen, als würden sie durch das Rauschen des Wassers oder Toben des Windes übertönt, Aufregung, Ungewißheit und ein alles beherrschendes Gefühl des Entsetzens hielt alle meine Sinne gefangen. Es vergingen nur wenige Augenblicke, und dann gewahrte ich, daß jemand mich berührte, mich aufhob und mich in eine sitzende Stellung brachte, und zwar viel zärtlicher und sorgsamer, als mich bis jetzt irgend jemand gestützt oder emporgehoben hatte. Ich lehnte meinen Kopf gegen einen Arm oder ein Polster und fühlte mich unendlich wohl.

      Noch fünf Minuten und die Wolken der Bewußtlosigkeit begannen zu schwinden. Jetzt wußte ich sehr wohl, daß ich in meinem eigenen Bette lag, und daß die rote Glut nichts anderes war, als das Feuer im Kamin der Kinderstube. Es war Nacht, eine Kerze brannte auf dem Tische; Bessie stand am Fußende meines Bettes und hielt eine Waschschüssel in der Hand, ein Herr saß auf einem Lehnstuhle neben mir und beugte sich über mich.

      Ich empfand eine unbeschreibliche Erleichterung, eine wohltuende Überzeugung der Sicherheit und des Beschütztseins, als ich sah, daß sich ein Fremder im Zimmer befand, ein Mensch, der nicht zum Haushalt von Gateshead, nicht zu den Verwandten von Mrs. Reed gehörte. – Mich von Bessie abwendend – obgleich ihre Gegenwart mir weit weniger unangenehm war, als mir zum Beispiel Abbots Gesellschaft gewesen wäre – prüfte ich die Gesichtszuge des Herrn; ich kannte ihn, es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed zuweilen rufen ließ, wenn ihre Dienstboten krank waren. Für sich selbst und ihre Kinder nahm sie immer nur die Hilfe des Arztes in Anspruch.

      »Nun, wer bin ich?« fragte er.

      Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm zu gleicher Zeit meine Hand entgegen; er nahm sie, lächelte und sagte: »Ah, wir werden uns jetzt langsam erholen.« Dann legte er mich nieder, wandte sich zu Bessie, empfahl ihr, sehr vorsichtig zu sein und mich während der Nacht nicht zu stören. Nachdem er noch weitere Weisungen erteilt und gesagt hatte, daß er am folgenden Tage wiederkommen würde, ging er fort; zu meiner größten Betrübnis; während er auf dem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß, fühlte ich mich so beschützt, so sicher, und als die Tür sich hinter ihm schloß, wurde das ganze Zimmer dunkel und mein Herz verzagte von neuem, es unterlag der Last eines unbeschreiblichen Grams.

      »Glauben Sie, daß Sie schlafen können, Miß?« fragte Bessie mich ungewöhnlich sanft.

      Kaum wagte ich, ihr zu antworten, denn ich fürchtete, daß ihre nächsten Worte wieder rau klingen würden. »Ich will es versuchen,« sagte ich leise.

      »Möchten Sie nicht irgend etwas essen oder trinken?«

      »Nein, ich danke, Bessie.«

      »Nun, dann werde ich auch schlafen gehen, denn es ist schon nach Mitternacht; aber Sie können mich rufen, wenn Sie während der Nacht irgend etwas brauchen.«

      Welche seltene Höflichkeit! Sie ermutigte mich, eine Frage zu stellen.

      »Bessie, was ist denn mit mir geschehen? Bin ich sehr krank?«

      »Ich vermute, daß Sie vor Schreien im roten Zimmer krank geworden sind; aber Sie