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Georg Braun
Stirb endlich Alter
Stirb endlich Alter
Georg Braun
mpressum
Texte: © Copyright by Gerhard Engel
Umschlag: © Copyright by Thorsten Jurai
Verlag:
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Kapitel 1
Es war kalt. Bitterkalt. Minus vierzehn Grad im Dezember, fünf Tage vor Weihnachten – dem Feiertag der Geburt Christi. Oder wie es verweltlicht das »Fest der Liebe« genannt wurde. Renate, die Mutter sowie Annika, zwölf und der zehnjährige Lars backten Plätzchen. Der Adventskranz schmückte das Wohnzimmer, wo am Abend die Familie zusammenkam, betete und Lieder sang. Der Holzofen bollerte, die Wärme kroch in die Kleider. Die Glut knisterte.
Der Alte treibt mich in den Wahnsinn. Der Sargnagel meines kurzen Lebens. Habe die Schnauze gestrichen voll, dachte Renate.
Sie suchte in der Schublade, ob das … noch?
»Es liegt Gott sein Dank am selben Ort« sprach sie erleichtert in sich hinein und diese Gewissheit strahlte Zuversicht in ihr aus. Damit spürte sie Kraft in den Körper emporsteigen. Wärme durchflutete alle Fasern, jeder Körperzelle, die durch die Witterung und das menschliche Klima erkaltet war. Eben durch die Pflege ihres Schwiegervaters haderte sie mit Gott und der Welt.
Nach getaner Arbeit waren Renate, Roland und die Kinder müde. Der Familienvater war der Forstwirt der Gemeinde, seine Schufterei im Wald strengte an und erforderte viel Konzentration und Geduld. Geduld mit den Bäumen, die tief verwurzelt und schwer zu fällen waren und mit den Mitarbeitern, die schwerfällig taten, was Roland erwartete. Die Männer im Dorf konnten die Fallwege der Bäume nicht mit dem Auge berechnen, sie arbeiteten grobschlächtig. Wenn es nach den Hilfsförstern ginge, hätten die angesägten Nadelhölzer an dem Ort liegen zu bleiben, wo sie just standen. Das trieb Roland häufig auf die Palme, ein Wort gab das andere, die Forstgehilfen knurrten kurz und gaben letztlich widerwillig nach. Sie waren auf den Stundenlohn angewiesen. Hier, in dem kleinen Ort Hebelbach in Südbaden, war es schwer, einen Beruf zu finden, in dem genug zu verdienen war. Die Menschen schämten sich, arm zu sein, und ein Großteil der Bürger mied das Amt, obwohl sie die staatliche Unterstützung händeringend benötigt hätten.
Die sollen froh über mich sein, wegen mir hat Renate Arbeit, weiß sie, mit ihrer Zeit was anzufangen war Franz der Meinung.
Er wurde nachdenklich. Er bekam in der Vergangenheit oft dazu Gelegenheit, über das eigene Leben zu grübeln. Auch Renate, Roland, Annika und Lars Kastel besaßen eher knapp Geld. Zusätzlich war die Familie einer ganz besonderen Belastung ausgesetzt. Der Stress, der unkontrollierbar den Alltag durcheinanderbrachte, beunruhigte und traurig machte. Er forderte den vollen Einsatz der Familienmitglieder und gewährte selten eine mehr als zwanzigminütige Atempause. Schon seit zwei Jahren hatten die Kastels ein Problem, das die größte Aufmerksamkeit verlangte, und sie fanden keine Lösung dafür. Die Pflege des todkranken Großvaters zermürbte sie alle, und nur zu gerne hätten sie die Verantwortung abgegeben.
Eigentlich gehört der Alte ins Heim. Ich kann nicht mehr, die Kräfte sind aufgezehrt.
Doch sie scheuten bis zu dem Zeitpunkt diesen Schritt und wollten sich die Erschöpfung, die zur seelischen Ohnmacht geworden war, überspielen. Außerdem hatten die Kastels rechtliche Fesseln an den Händen. Franz Kastel, neunundsiebzig, litt seit vier Jahren und zweihundertsiebenundsechzig Tagen an Lungenkrebs. Die Metastasen zerstörten das Lungengewebe und befielen Leber und Nieren. Endstation, unmittelbar vor dem Friedhof. Aber was bedeutete das? Seit zwei Jahren kämpfte er täglich, stündlich, manchmal äußerst dramatisch gegen die Todesschlinge, die ihm die Luft abdrückte. Spätestens alle zwei Wochen verabreichte der Notarzt eine Spritze, damit er für weitere zehn Tage atmete. Die Ärzte wie die Kastels wussten um die Sinnlosigkeit der Maßnahmen. Einen Heimplatz lehnten die Kastels aus zwei Gründen ab: Erstens gab es einen Erbvertrag, der Roland verpflichtete, Franz bis zu seinem Tode zu pflegen. Bei einer vorzeitigen Aufgabe der Pflege müssten sie das Haus verkaufen und den Erlös unter den sieben Geschwistern aufteilen. Und zweitens lag das nächste Pflegeheim 20 Kilometer entfernt. So viel Herzblut floss durch die verstopfte Familienarterie, als dass man dem alten Kastel eine Pflegeheimunterbringung ersparte. Sie hingen irgendwie aneinander, auch wenn die Emotionen inzwischen eher in die negative Richtung ausschlugen. Eine unterkühlte Form der Hassliebe.
Lande ich im Heim, geht das Haus flöten, dann muss es verkauft werden. Renates Blick möchte ich in dem Moment sehen, wo der Notar den Vertrag protokolliert ... , jubilierte Franz.
In Hebelbach lebten in den meisten Familien gewöhnlich mindestens drei Generationen unter einem Dach, das war selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Wer es ablehnte, die Eltern zu pflegen, wurde mit Verachtung gestraft. Renate zumindest hätte das in Kauf genommen: Am Boden ihrer Kräfte fühlte sie den Mitbewohnern des Dorfes und den sozialen Regeln gegenüber nur noch Abscheu. Die Dorfbewohner zeigten gerne mit dem Finger auf Leute, die es schwer hatten. Mit den Dorfregeln, aber zudem mit dem Leben. Zu dieser Gruppe gehörte Renate. Sie kämpfte ums seelische Überleben. Vorwürfe von Menschen, die in einer anderen Lebenssituation sind, würde sie kalt lassen, sie hasste Leute, die mit erhobenem Zeigefinger den Gehsteig entlangschlichen und überforderte Mitbürger verurteilten.
»Die Arschlöcher, putzen bestenfalls den eigenen Popo, und verachten mich, die einen dreckigen Alten ins Bad schleift und abduscht.« Renate hatte genug vom Dorftratsch, satt bis über beide Ohren.
Wenn Franz nicht verschwindet, .... Roland muss aufwachen!
An den vergangenen zwei Heiligabenden hatte der Notarzt ausgerechnet die Bescherung gestört, auf die Annika und Lars hin gefiebert hatten.
Das tut mir leid für die Kleinen. Aber was kann ich für meine Erstickungsanfälle? Würde jeder andere um Luft ringen, käme auch der Rettungsdienst. Jeder würde eine Hilfe dankbar annehmen. Von mir erwartet mir was anderes ... abkratzen. Da geb ich mein Haus her und als Dank pflastert man mir den Weg in die Grube. Wie nett und herzlich. Leben kann ich hier in der Tat nicht mehr, aber deswegen ins Heim abhauen? Damit Renate die Früchte meiner harten Lebensarbeit allein einsackt?
Niemand behauptete, Franz simulierte. Roland, Renate und die beiden Kinder, sie sehnten ein liebevolles und friedliches Weihnachten herbei. Annika und Lars lebten die längste Zeit ihres noch kurzen Lebens mit dem Opa zusammen und fühlten sich permanent in die zweite Reihe gedrängt. Begrenzt akzeptierten sie diese Rolle. Langsam wurde es Zeit, dass auch ihre Bedürfnisse erfüllt wurden.
Opa am Morgen, Opa hier und Opa am Abend. Pass mal auf Opa auf, ich muss einkaufen. »Darf ich eine Freundin einladen?«
»Nein, du weißt doch, dass der Opa Ruhe braucht.«
In dem Klima gedieh eine aggressive Stimmung, denn Annika kam in die Pubertät und spürte eigene, pulsierende Energien aufkeimen. Sie beobachtete an anderen, wie die mit ihren Müttern redeten, wie sie ernst genommen wurden. Das wünschte sich die junge Kastel, wie sie im Dorf genannt wurde, auch. Und sie giftete dann zurück:
»Der Opa hat kein Recht, dich aufzufressen, ich bin auch da.«
Die verzweifelte und kraftlose Renate wollte nach mehreren Jahren endlich wieder einmal Weihnachten feiern. Nichts anderes. Ein berechtigtes Anliegen. Jeder feierte in Deutschland das Fest der Liebe, für sie wurde es zum Horrorfest der Hiebe. Sie quälte sich jahrelang im Hamsterrad, aus dem sie keinen Ausweg fand. Es keimten Gedanken an die eigene Zukunft und die der Kinder auf. Eine Zeit erleben, die von Selbstbestimmung und ohne Zwänge gestaltet wurde. Keine strangulierenden Bindungen an einen siechenden Opa.