Patentrezept. Opas Zustand verschlechterte sich zusehends.
Bald betrachte ich die Radieschen von unten, dann freut sich Renate. Und Roland? Der steht unter ihrer Fuchtel und sie knechtet ihn. Furchtbar. Er übersieht mit den blinden Augen die Tatsachen, der arme Kerl. Mir tut´s weh, was aus ihm geworden ist. Ein pieseliger Waschlappen, der für jeden Schritt Renates Zustimmung braucht. Würd`s mir besser gehen, ich hätte der Tyrannin längst eine geknallt. Roland muss auf den Tisch hauen, er geht sonst vor die Hunde.
Heimlich holte sie bei ihrem Hausarzt Dr. Fünfstern und einem weiteren Fachmann Informationen ein. Sie interessierte, ob man einen Sterbenskranken durch medikamentöse Hilfen rechtlich einwandfrei erlösen könnte besser, dürfte. Sie dachte dabei mehr an ihre juristische Absicherung, weniger an ein sterbenbeschleunigendes Präparat. Die Mediziner boten übereinstimmend eine schmerzstillende Spritze an, Weitergehendes wäre bedenklich.
Eine Maßnahme, die zum sofortigen Ableben führte, lehnten beide ab. Allenfalls käme eine Sekundärmaßnahme in Betracht, also eine solche, die vordergründig eine zusätzliche Krankheit behandelt mit dem Nebeneffekt, dass der Patient eventuell früher stürbe.
Renate hatte den Ausführungen der Fachleute gelauscht, aber nicht alles richtig verstanden.
»Dann wäre es also möglich, unserem Vater eine letzte Injektion zu verabreichen, damit er schneller sterben könnte?«
Fünfstern stotterte ein wenig, leise, kaum hörbar.
Was soll ich der Frau Kastel denn sagen? Ich verstehe sie, ja, nur zu gut. Der alte Knochen macht ihr das Leben zur Hölle, zur Höchststufe einer überhitzten ... Ich baue ihr eine gedankliche Brücke, was sie anfängt, überlasse ich ihr ... Ich ... lasse die Finger von Sterbehilfe, ansonsten lande ich in Teufels Küche.
»Man kann einem Todkranken, der Selbstmord begehen möchte, mit einer Spritze die Angst nehmen.« Sie hörte nur noch »Spritze« und sehnte die nahe Erlösung ihres Martyriums herbei. Ob ihr Schwiegervater an Selbstmord dachte, musste sie mit Schulterzucken beantworten. Ihre Gedanken waren auf das bevorstehende Fest der Liebe fokussiert. Und dass Franz dann ...
»Dieses Weihnachten werden wir ungestört feiern«, versprach Renate den Kindern, »nochmal lassen wir uns durch nichts und niemanden stören.«
»Wie meinst du das?«, schaltete sich Roland ein.
»Dass der Notarzt wegbleiben wird.«
»Woher willst du wissen, dass wir den dieses Jahr nicht brauchen?«
»Weil wir ihn nicht mehr rufen werden oder dein Vater nicht mehr bei uns ist ... oder ich.«
»Wie bitte? Du willst meinen Vater nicht mehr ...?
»Genau. Dr. Fünfstern wird uns vielleicht ...«
»Was wird Dr. Fünfstern?, he?«
»Dein Vater ist schwerkrank, er röchelt vor sich hin und wird bald sterben, das sagt auch der Arzt. Der meint, Franz würde nicht loslassen können und er hätte eine Medizin, die Franz beim Sterben helfen würde. Warum dann nicht ...«
»Hör mal gut zu, liebe Renate. Franz ist mein Vater, er gehört für mich zur Familie wie Annika und Lars. Fertig, aus.«
»Die Kids leiden unter ihm. Welchen Eindruck bekommen sie von Weihnachten, wenn er uns permanent mit seinen Erstickungsanfällen die Freude nimmt? Willst du, dass deine Kinder mit Weihnachten den puren Horror verbinden?«
»Wenn du ihn umbringen willst, was lernen die beiden dann? Man kann jeden beseitigen, falls er einem lästig wird? Nein und abermals nein! Mein Vater gehört zu uns, er hat das Recht, dass wir ihm helfen. Du warst auch einverstanden, als er uns vor neun Jahren das Haus überschrieben hatte, oder nicht?«
»Ich will ihn grundsätzlich am Leben halten. Seine Gesundheit weist eine andere Richtung, ins Finale. Nimm das zur Kenntnis. Dein Vater hat ein Problem: Er tut sich schwer mit dem Sterben. Das ist vielleicht eine Liebestat, wenn wir ihn erlösen. Und übrigens: Im Erbvertrag steht nicht, dass er uns jedes Weihnachtsfest zerstören darf und wir uns von ihm zugrunde richten lassen müssen.«
»Da steht aber, dass wir für seine Pflege bis zum Tod aufkommen. Und du kassierst 1800 Euro Pflegegeld doch auch gerne. Wenn er nicht mehr lebt, ist Schluss damit.«
»Roland, kapier endlich: Ich bin mit meiner Kraft am Ende, mit den Nerven sowieso. Mir geht es nicht mehr um die Kohle. Sollte ich draufgehen, hilft dir keine Million!«
»Du hast bisher immer wieder die Kurve gekriegt. Denk an den Erbvertrag. Willst du das Haus verkaufen und den Kindern ihr Heim wegnehmen? Vater wird bald sterben, aber noch lebt er. Und wir sollten alles tun, damit er würdig lebt und genauso stirbt.«
»Wir sollen ihn wegen der Kröten um jeden Preis am Leben lassen, meinst du das? Mir steht Franz hier, am oberen Scheitel. Wenn du wüsstest. Nein, Roland, ich fange lieber woanders neu an, aber diese Qual muss ein Ende haben.«
»Das Geld ist das eine, es geht aber auch ums Prinzip. Man bringt nicht einfach einen Menschen um, weil er stört. Denk an deine Mama. Du hast sie auch bis zu ihrem Tod gepflegt. Und die hat unter Demenz gelitten. Unser Haus war unsicher wegen ihr. Was hättest du gesagt, wäre ich eines Tages dahergekommen mit dem Vorschlag, sie um die Ecke bringen zu wollen? Wärest du damit einverstanden gewesen?«
»Du übersiehst den entscheidenden Unterschied: Meine Mutter konnte reden und hat Weihnachten mit uns gefeiert. Sie störte nicht eine Feier, dein Vater jede.«
»Sie brauchte uns die ganze Zeit. Und ich musste sie oft zum Arzt fahren. Fünfstern kommt dagegen immer hierher. Natürlich können wir das Geld gebrauchen, keine Frage.«
»Und deswegen sollen wir ums Verrecken einen Todgeweihten künstlich am Leben halten?«
»Nein, wir begleiten ihn beim und im Sterben, wie bei deiner Mutter. Wir pfuschen nicht rein und geben ihm keine Spritze!«
»Du kapierst nicht, dass ich mit den Nerven am Ende bin. Roland, ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Entweder, wir finden eine Lösung, oder ...«
»Oder was?«
»Oder du kannst Franz alleine pflegen. Ich bin dann weg.«
Die ständigen Hilfsmaßnahmen, wenn Franz sich beim Essen verschluckt hatte, die Körperpflege, das Einmassieren des schrumpeligen Rückens, all das überforderte sie. Zudem der Haushalt, die Kinder mit den Schulschwierigkeiten und einen Ehemann, der tagsüber kaum greifbar war. Sie war überlastet, ihre Umgebung überhörte und übersah sie. Die Fronten verhärteten sich. Roland und Renate kamen nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Keiner verstand den anderen. Beste Voraussetzungen für ein katastrophales Weihnachtsfest. Immerhin wusste Roland nun, dass Renate seinen Vater nicht mehr weiter pflegen wollte und konnte. Jetzt waren die Karten auf dem Tisch.
Renate ging die Treppe hoch ins Schlafzimmer und suchte ihre Kleidung zusammen. Sie stapelte sie und legte sie zur Seite auf den Boden. Ihr war klargeworden, wie chancenlos und einsam sie im eigenen Haus dastand. Roland hing an seinem Vater. Er konnte sich genauso wenig von Franz trennen wie umgekehrt. Aber die Pflegearbeiten musste sie größtenteils leisten, ihre Erschöpfung wurde nicht zur Kenntnis genommen. Annika und Lars passten ab und an auf Franz auf oder kochten ihm einen Tee. Roland stand nachts auf. Umfangreichere Hilfe sah anders aus.
Sie stieg zum Dachboden hoch und holte zwei Koffer. Zeichen, die Roland die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens vor Augen führen sollten. Annika und Lars schliefen bereits. Ihretwegen zögerte Renate noch, ob sie tatsächlich gehen wollte. Es wäre eine Option für die Familienmutter, die Kinder zurückzulassen. Und das war schon eine ganze Zeit so. Sie rang mit ihrer Mutterrolle und der aus der Erschöpfung gediehenen Sehnsucht, auf eigenen Füßen zu stehen. Weihnachten erkor sie aus, für klare Verhältnisse zu sorgen. Sie sah keine gemeinsame Zukunft mehr. Keine mit Roland und Franz. Ihre Kinder liebte sie innig, doch die Spannungen im Haus waren für alle belastend. Lars und Annika liebten ihren Vater, sie vergötterten ihn nahezu. Renate sah die letzte Chance, dass sich etwas änderte, wenn sie ging. Definitiv,