Silke May

Tonga und Xantos, ihr Nachfolger


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Mischa und Victor hoben gerade das Reh vom Wagen.

      »Ich mache euch das Gatter zum Stall auf. Ist es schlimm verletzt?«, fragte sie. »Nein, ich glaube, es wird bald wieder in Ordnung sein. Wir müssen ihm gleich Heu geben, damit es fressen kann, wenn es wieder zu sich kommt.«

      »Das mach ich!«, schrie Peterle, der gerade dazugekommen war, um den Patienten anzusehen.

      Nun konnten sie sich endlich in Ruhe um den Tisch versammeln und das köstliche Mittagessen genießen. Anschließend legten sie noch eine kurze Erholungspause ein, dann musste sich der Vater zu den Futterplätzen aufmachen, um das Wild zu versorgen.

      »Ich möchte auch mit!«, rief Peterle laut.

      Der Vater nickte ihm bejahend zu und Mischa schob den Kleinen wie aufs Stichwort vor sich in den Wagen.

      Der Unfall

      Es war wie immer sehr viel Arbeit, sämtliche Futterplätze mit Heu aufzufüllen. Das Wild stand längst hungrig am Waldrand und verfolgte das Spektakel. Langsam begann es schon wieder zu dämmern und Peterle lag bereits im Wagen auf dem Rücksitz. Er war bei so viel frischer Luft müde geworden und eingeschlafen.

      »So, jetzt haben wir es gleich«, sagte der Vater, den Blick auf Peterle gerichtet. Und tatsächlich dauerte ihre Arbeit danach nur noch wenige Minuten, dann fuhren sie wieder heimwärts.

      »Schau, da vorne steckt ein großes Auto in einem Schneehaufen! Hoffentlich ist dem Fahrer nichts passiert«, rief Mischa plötzlich.

      Der Vater fuhr an die Seite und beide stiegen aus. Im Auto saß ein Mann, der einen verzweifelten Eindruck machte.

      »Schon seit zwei Stunden warte ich darauf, dass irgendjemand vorbeikommt! Ich bin ins Rutschen geraten und jetzt komm ich nicht mehr raus!« Er war tief im Schneehaufen eingesunken. Viktor sah sich alles genau an und stellte fest, dass er mit seinem Fahrzeug nicht helfen konnte. Da musste schon ein Abschleppwagen her.

      »Ich fahre ins Dorf, um Hilfe zu holen. Kommst du mit, Mischa?«

      »Nein, ich versuche unterdessen, das Auto ein Stück freizuschaufeln, damit wir das Abschleppseil festmachen können.«

      »In Ordnung, das ist eine gute Idee. Ich bin gleich wieder da, hier habt ihr eine Laterne, damit man euch aus der Ferne sieht. Nicht, dass noch etwas passiert.«

      Victor stieg in den Wagen und machte sich auf den Weg, während Mischa und der fremde Mann, sein Auto freizuschaufeln begannen. Sie kamen gut vorwärts. Mischa hatte die Anhängevorrichtung des Wagens schon fast freigelegt. Er musste sich nur noch einmal kurz bücken, um den letzten Schnee wegzuschaufeln.

      Da packte ihn der Mann plötzlich grob an der Schulter und wirbelte ihn vom Auto weg. Mischa wusste nicht, wie ihm geschah. Der Fremde schlug ihm ins Gesicht, trat nach ihm und würgte ihn. Schließlich warf er ihn auf den Boden. Mit einem einzigen Satz sprang er auf seine Brust und plötzlich starrten ihn zwei glühende Augen an. Mischa durchfuhr ein eiskalter Schreck. Er spürte plötzlich einen höllischen Schmerz in der Brust, dann wurde ihm vor den Augen schwarz.

      Anna und Tanja gingen unterdessen ihrer Lieblingsbeschäftigung nach - Handarbeiten. Beide strickten sich einen Pullover in schönen Pastelltönen in Gelb und Rosa.

      Nebenbei scherzten und lachten sie miteinander, es war ein richtig gemütlicher Nachmittag. Sie schwärmten schon jetzt von ihrem baldigen Einkaufsbummel für die Frühjahrsgarderobe. Noch vor Ostern wollten sie in die Stadt fahren, um sich neue Röcke zu ihren Pullovern zu kaufen. Nero erhob sich, trottete zur Haustür und winselte. Dann kratzte er an der Tür und fing zu bellen an.

      »Nero, du verrückter Hund, was ist denn mit dir los?«, fragte Anna. »Du warst doch erst draußen.« Doch der Hund ließ nicht locker. Jetzt knurrte er sogar und sprang wild herum. Anna blieb nichts anderes übrig, als ihn nach draußen zu lassen.

      »Bevor du mir die Tür kaputt machst, schleich dich nach draußen!«

      Das brauchte sie ihm nicht zweimal sagen, denn er war sofort weg. Nero lief schnell wie der Wind. Zeitweise musste er sich durch den tiefen Schnee kämpfen, dennoch erreichte er sein Ziel schon nach kurzer Zeit. Er lief kreuz und quer über die Wiesen und durch das Dickicht. Als er von Weitem das Licht der Öllampe sah, legte er noch einmal an Tempo zu.

      Der Fremde war über den Jungen gebeugt, seine Hand lag auf Mischa’s Brust. Mit einem Satz stand Nero zähnefletschend und knurrend vor den beiden. Der Fremde sprang mit einem Satz auf und trat zur Seite. Der Hund sprang auf den Mann zu, und dieser lief so schnell er konnte weg.

      Nero verfolgte ihn eine kurze Strecke, dann kehrte er um und lief zurück zu Mischa. Er legte sich dicht an seine Seite und hielt ihn auf diese Weise warm.

      Victor sah schon von Weitem, dass Nero auf dem Boden lag. Er wunderte sich, woher der Hund so plötzlich gekommen war.

      Er fragte Peterle, der inzwischen wieder wach war: »Hatten wir Nero dabei?«

      »Nero, nein, wieso, wo ist, er?« Sie waren jetzt schon so nah, dass Victor eine Gestalt erkennen konnte, die auf dem Boden lag. Ihn durchfuhr ein eisiger Schreck.

      »Da ist was passiert!«, rief er entsetzt aus. Sofort stieg er auf die Bremse und sprang aus dem Auto.

      »Mischa, was ist los?« Der Junge lag regungslos auf dem Boden, und der Hund knurrte, als wolle er ihm etwas sagen. Victor sah das Blut in Mischa’s schmerzverzerrtem Gesicht und auf seinen Händen. Er legte sein Ohr auf den Mund des Sohnes und stellte fest, dass der Junge noch atmete. Rasch zog er ein Taschentuch aus seiner Jacke und dabei rollte ihm direkt das Fläschchen mit dem Wunderstaub in die Hände.

      Eine schlimme Vorahnung überfiel ihn, und er reagierte sofort.

      »Es kann ja nur besser werden«, sagte er und blies ganz vorsichtig etwas Staub auf den Jungen. Nach wenigen Minuten entspannte sich das Gesicht von Mischa sichtlich und er öffnete die Augen.

      »Vater, was ist passiert? Mir tun alle Rippen weh. Warum liege ich auf dem Boden?«

      Dem Vater kamen die Tränen und er drückte den Jungen fest an sich.

      »Mein Sohn, die Mächte der Finsternis haben wieder einmal einen Versuch unternommen, um an eine Seele zu kommen. Wir müssen Nero danken, denn er hat offenbar die drohende Gefahr gespürt und ist gekommen, um dich zu retten! Ohne seine Hilfe wäre es um dich wohl jetzt geschehen.«

      Mischa und der Vater streichelten Nero, bis der Hund zu bellen anfing. Dann half Victor dem Jungen auf, sie kletterten in den Jeep und fuhren nach Hause.

      »Wie war das gleich wieder mit dem Vogel, der morgens noch singt?«, fragte Mischa den Vater und dieser nickte langsam.

      »Mischa bist du einverstanden, dass dieses schlimme Erlebnis unser Geheimnis bleibt? Wir können sagen, dass du gestürzt bist.«

      »Einverstanden, Vater, sonst macht sich Mutter unnötigerweise Sorgen. »Alles ist ja noch einmal gut gegangen.«

      Er drehte sich zurück zu Peterle und fragte ihn:

      »Gibst du uns dein Indianer-Ehrenwort, das auch du nichts verraten wirst?«

      Peterle hob sofort die Hand und erklärte feierlich: »Ich verspreche es!«

      Den Rest des Weges fuhren sie schweigend, jeder war in seinen Gedanken versunken, aber vermutlich dachten alle drei an dasselbe Erlebnis.

      Anna und Tanja kamen gerade von draußen herein und unterhielten sich über das kleine Reh, das schon genüsslich das angebotene Heu fraß. Da läutete das Telefon. Tanja nahm ab, und am anderen Ende der Leitung meldete sich Max Bauer, der Schuster vom Dorf. Er wollte eigentlich Victor etwas fragen. Tanja unterhielt sich mit ihm und legte dann auf. Die Mutter schaute sie fragend an.

      »Was ist los, was wollte Herr Bauer?«

      Tanja sah die Mutter mit unsicherem Blick an und sagte: »Er hat gefragt, ob Vater schon daheim sei. Angeblich wollte er noch einem in Not geratenen Autofahrer