L. Theodor Donat

der verstellte Ursprung


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etwas längere Brief ist natürlich kein ethnographischer Aufsatz. Er möchte von einem Geschenk berichten, dem grössten, das ich in meinem Leben je erhalten habe. Das Einleben in eine neue Kultur, die ganz anderen Erfahrungen und die neuen Erkenntnisse prägen fast selbsttätig das Innere eines Menschen. Natürlich braucht es auch ein „Sich-Einlassen“, ein „Sich-nähern-Wollen“. Das macht übrigens den Reichtum interkultureller Ehen aus.

      Wenn aber einer der Partner die Kultur des anderen nur oberflächlich kennt, das habe ich leider erlebt, dann werden solche Ehen früher oder später an Missverständnissen scheitern. Das Leben in meiner Gastkultur half mir zudem, Werte und Probleme gewissermassen „von unten her“, von der sogenannten Dritten Welt her, zu sehen. Und damit offener zu werden für die Wirklichkeit.

      Nochmals: Es geht hier bloss um wenige Details zur Tradition geht. Ich werde versuchen, das zu schildern, was mir in Bezug auf die heutige Zeit, in Bezug auf eine katholische Kirche, in Bezug auf die Problematik von Macht und Reichtum besonders erwähnenswert erscheint. Es geht um ein paar Pinselstriche zu einer Skizze, nicht um wissenschaftliche Vollständigkeit. Ich habe des Öfteren festgestellt, dass mein „fremder“ Blick auf die Werte und Institutionen meiner Gastkultur nützlich war, um Besonderheiten und Unterschiede zu anderen Kulturen besser darzustellen.

      Die Person, die immer in die Institutionen und Werte ihrer Kultur eingebunden ist, sieht ihre genialen Aspekte weniger und muss darauf aufmerksam gemacht werden. Der Mensch einer Kultur kennt aber alle Details. So kommt es zu einer notwendigen und fruchtbaren Wechselwirkung zwischen Insidern und Outsidern in der Analyse kultureller Phänomene.

      Über Werte meiner Gastkultur in der Heimat zu erzählen, ist allerdings ein schwieriges Unterfangen. Ich habe einige Male und mit verschiedenen Zuhörern versucht, von meinen neu entdeckten traditionellen Werte meiner Gastkultur zu sprechen. Aber ich bin fast sicher, dass ich nicht verstanden wurde. So habe ich eigentlich immer weniger von meinem Leben erzählt. Es gibt sehr verbreitete Vorurteile und Stereotypen (KoRzW B 8), die durch Massenmedien am Leben erhalten werden. Journalisten, die von Brennpunkt zu Brennpunkt jetten und sich in Mehr-Sterne-Hotels aufhalten, haben keine Möglichkeiten, zu einem tieferen Verständnis der kulturellen Situation zu kommen. Von ihnen jedoch bezieht man in Europa den Grossteil der Informationen über fremde Kulturen. Touristen, für die in der Ferienumgebung Elemente aus ihrer Heimat eingebaut werden, tragen kaum zum Verständnis der Kulturen bei.

      Und doch werden sie sagen, dass sie dieses oder jenes Land „gemacht“ haben. Auch meine Erziehung hatte mich nicht vorbereitet, Werte anstelle von Karikaturen zu schätzen. Als Kind habe ich noch mit erspartem Geld ein kleines Negerlein taufen lassen! Mit wenig Geld konnte man ein „Heidenkind“ auf einen bestimmten Namen taufen lassen. Was mit dem Geld geschehen sollte, war nicht klar, Hauptsache es war etwas Frommes. Ob der Missionar diese gewünschten Namen einfach so verteilte? Es könnte ja sein, ich bin etlichen eher seltsamen Vornamen begegnet. Und es gab in meiner Kindheit Sammelbüchsen, über der die Figur eines „Negerkindes“ thronte, dessen Kopf beim Einwerfen eines Geldstücks nickte.

      Viele Einsichten gewann ich in einer Studiengruppe, bestehend aus Vertretern verschiedener Kulturen vom Süden bis zum hohen Norden unseres Gastlandes. Unser Ziel war es, philosophische und theologische Aspekte zu diskutieren, die jede Kultur in ihrem Brauchtum weitergibt. Jeder Teilnehmer erklärte, wie Geburt, Tod, Ehe, Mahlzeiten etc., in seiner Kultur gelebt werden. Wir erprobten dabei natürlich den schon erwähnten Grundansatz einer Philosophie vieler afrikanischen Kulturen „ich stehe in Beziehung [zu allen Menschen meiner Umgebung], also bin ich“. Nochmals: Dem egozentrischen „ich denke, also bin ich“ steht die Weisheit gegenüber, dass der Mensch, von Geburt an, erst durch seine Interaktionen in Familie und Dorf eine menschliche Existenz erhält. In meiner Gastkultur werden Kinder anders als Erwachsene beerdigt. Das Kind war eben erst im Begriff, Mensch zu werden.

      Von einem Professor aus einer hierarchischen Kultur erfuhr ich z.B., weshalb man mit blossen Händen und nicht mit Gabel oder Löffel essen soll. Er erklärte uns, dass man einem wichtigen Botschafter nicht mit einem Stab die „Hände schüttelt“. Die Nahrung wird natürlich als Botschafter von "Vater-Gott" gesehen!

      Ganz am Anfang meines Aufenthaltes begleitete ich einen Schüler am Ende eines Trimesters zurück in sein Dorf. Ein längerer Marsch entfernte mich fühlbar von meiner gewohnten Umgebung. Der Schüler war mehr als drei Monate lang von zu Hause fort gewesen. Zusammen traten wir in den Hof des Rundhauses.

      Ein traditionelles Rundhaus besteht aus einer variablen Anzahl von runden, unter sich unabhängigen, Häusern, die um einen Hof angeordnet sind. Die einzelnen Häuser dienen verschieden Zwecken und sind untereinander mit Mauern verbunden. Neben einem grösseren Eingangshaus, welches als Küche und in der Regenzeit als Empfangsraum dient, gibt es mindestens das Haus des Mannes und jenes der Frau mit den kleinen Kindern. Weitere Häuser braucht es je nach Bedarf für junge Leute, für eine andere Frau, für Eltern oder Verwandte. In einem grossen Rundhaus kann es Bezirke für entferntere Verwandte geben, die dann z.B. durch kleine Mauern getrennt sind. Ein Rundhaus kann ausgebaut werden oder aber es verwaisen Teile davon durch Wegzug oder Todesfälle.

      Die Mutter, die gerade einem Kind die Brust gab, blickte kurz auf, lächelte. Der Vater, der mit einem Werkzeug auf einer Bank sass, schaute auf und sagte: „Aha, da bist du ja“. Damit war das ganze Willkommens-Zeremoniell zu Ende und alles war, als wäre der Schüler nie weg gewesen. Ich war beeindruckt von der Einfachheit und der Intensität dessen, was ich erlebt hatte und in Gedanken verglich ich es mit den entsprechenden wortreichen Szenen in der Heimat.

      Jetzt vermute ich Dein Lächeln ob meiner Vorsicht in der Einleitung dieses Briefes, ein Lächeln, das mich ermutigt, zur Sache zu kommen. Nur noch dies: Bei den zu erwähnenden Aspekten meiner neuen Kultur geht es nicht um nostalgische Gefühle oder um eine unmögliche und deshalb sterile Rückkehr in die Vergangenheit, sondern, wie ich hoffe, um eine Förderung der Werte meiner Gastkultur. Wie die Persönlichkeit eines Menschen nicht in einer Gruppe aufgelöst werden soll, so sollte eine einzelne Kultur auch nicht in der Globalisierung aufgelöst werden. Ich bin überzeugt, dass gerade verkannte, weil materiell arme Kulturen, die Lebensqualität der ganzen Welt verbessern könnten. Chinesen, Amerikaner oder Japaner mögen im 21. Jahrhundert weiterhin Computer und Roboter basteln. Meine Gastkultur könnte keinen so augenfälligen Beitrag leisten. Wenn es aber um Sinn und Menschsein geht, hätte sie sehr wohl einen wichtigen, vielleicht unentbehrlichen Beitrag zu leisten.

      — sakraler Raum, sakrale Zeiten

      Die Tradition meiner Gastkultur wird von der Beziehung zu „Vater-Gott“ bestimmt. Ich meine, dass sie ohne diese Transzendenz nicht zu verstehen ist. Jedes Verhalten, jede Institution hat sowohl einen religiösen oder kulturellen und einen praktischen Aspekt. Es gibt keine profanen Zeiten oder Räume; jede Stunde, jeder Ort hat einen Bezug zum Unsichtbaren. Der Name „Vater-Gott“ schliesst nur bestimmte Freiheiten gegenüber der Schöpfung ein. Der Mensch ist nicht Tochter oder Sohn von Gott im Sinne der Evangelien oder Herr der Schöpfung im Sinne vom Mythos der Schöpfung (Gen 1-2)

      Ein Mythos ist so etwas wie ein Super-Märchen oder ein Gleichnis, das den Ursprung des Menschen betrifft.

      Das begriff ich im Haus eines Schülers. Er wollte mir einen Stein als Sitzgelegenheit herbeischaffen. Der Stein war an der Sonne, und ich sollte im Schatten sitzen können. Sofort griff ein älterer Mann ein, um den Schüler zu fragen, ob er denn den Stein an seinem Ort gemacht habe! Um Steine herbeizuholen, die als Amboss oder Hammer der Schmiede dienen, waren bestimmte Zeremonien vonnöten. Vielleicht könnte man den Menschen der Tradition mit einem Mieter vergleichen, der nicht als Hausherr schalten und walten kann. Der Mensch muss Rechenschaft ablegen über die Art und Weise, wie er mit der Schöpfung umgegangen ist. „Vater-Gott“ ist eben nicht ein Vater-Kollege, seine Transzendenz wird selbst in einfachen Situationen respektiert.

      Die Welt, in der die Tradition lebt, schliesst eine Vielzahl von geistigen Wesen ein. Es gibt gute Geister, die so etwas wie Schutzengel sind. Es gibt die ambivalenteren Genies oder Teufelchen, wobei die eine oder andere Art der Teufelchen ganz bedrohlich werden kann. Es gibt überdies die Gründungsahnen eines Dorfes, die gewöhnlich als Mittler in den Opferriten angesprochen werden.

      Die