Jörn Döhnert

Psychodysphagiologie


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schlimm sind, ist eine andere Frage, der wir uns später zuwenden…

      Aus medizinischer Sicht gefährlicher sind in der Regel die Störungen in der pharyngealen Phase des Schluckaktes. Dies hat den einfachen Grund, dass die Nahrung in diesem Moment in die Atemwege gelangen kann.

      Es sollte deutlich geworden sein, dass die pharyngeale Phase des Schluckaktes ein sehr komplexer Vorgang ist. Wie es aus allen Bereichen des Lebens bekannt ist, erhöht die Komplexität eines Vorganges auch die Möglichkeit, Fehler zu machen: „Viele Köche verderben den Brei.“ Die Gefahr, die von der Schluckstörung ausgeht, hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, dass Nahrung in die Atemwege gelangt und vor allem dort bleibt.

      So werden Probleme bei der Hebung des Gaumensegels zunächst nicht allzu problematisch sein: Die Nahrung kommt wahrscheinlich nicht komplett in die Speiseröhre, weil ein Teil nach oben in den Nasenraum gedrückt wird. Dort entsteht vielleicht ein unangenehmes Gefühl, vielleicht auch ein Niesreiz, aber das ist zunächst noch nicht lebensgefährlich. Erst wenn die Nahrung, die im Nasenraum ist, später unbemerkt und unkontrolliert doch noch in den Rachenraum hinabfließt, können Probleme auftauchen. Da der „normale“ Weg der Nahrung nicht eingehalten wird, kann der Schluckreflex nicht adäquat reagieren, sodass es zum Eintritt der Nahrung in den Kehlkopf kommt.

      Zu diesem kann es auch durch viele andere Faktoren kommen: mangelhafter oder fehlender Schluckreflex und somit mangelhafte oder fehlende Schluckauslösung, mangelhafter oder zu kurzer Verschluss des Kehlkopfes, mangelhafte oder zu kurze Öffnung des obersten Muskels der Speiseröhre (oberer Ösophagussphinkter).

      Diese Probleme können sensorische und motorische Ursachen haben: Entweder bekommt das Gehirn die falschen Reize geliefert, es bekommt sie zu spät geliefert, es reagiert zu spät oder es übersetzt die gelieferten Reize in falsche Bewegungen. In allen Fällen wird die Nahrung früher oder später in den Kehlkopf eintreten. Dies kann zu jeder Zeit passieren: vor Auslösung des Schluckaktes, wenn z.B. Flüssigkeit zu schnell nach hinten gelangt, während des Schluckvorganges durch die genannten Fehlreaktionen im Gehirn oder nach dem eigentlichen Schluckvorgang durch das Überbleiben von Nahrungsresten im Rachenbereich (sog. Residuen).

      Beim Eintritt der Nahrung in den Kehlkopf spricht man von Penetration – je nach Zeitpunkt von prä-, intra- und postdeglutitiver Penetration („vor, während oder nach dem Schlucken“). Penetration an sich ist noch nicht lebensgefährlich, da der Körper einen weiteren Schutz eingebaut hat: den Hustenreflex. Dieser wird durch Berührung der Schleimhäute in den Atemwegen ausgelöst. Auf diesen Schleimhäuten befinden sich kleine Härchen (Flimmerepithel), die für die Reinigung der Atemwege zuständig sind. In jedem Moment transportieren sie den in der Lunge produzierten Schleim nach oben, wir räuspern uns, husten oder schlucken ihn einfach unbemerkt ab. Kommt ein Fremdkörper in die Atemwege, reagieren die Härchen mit einer stärkeren Bewegung nach oben, sodass Husten entsteht. Da diese Härchen bereits im Kehlkopf angesiedelt sind, reagiert der Körper normalerweise auf eine Penetration von Nahrung mit einem Husten, der die Nahrung wieder nach draußen befördert und die Gefahr vorbeiziehen lässt. (Jeder kennt diesen Vorgang vom alltäglichen Verschlucken, weil das Essen mal wieder nicht konzentriert genug aufgenommen wurde.)

      Findet dieser Husten nicht oder zu spät statt, gelangt Nahrung in die Lunge, was ebenso zu den drei genannten Zeitpunkten geschehen kann. In diesem Moment sprechen wir von einer prä-, intra- oder postdeglutitiven Aspiration („Einatmung“) der Nahrung. Auch wenn jetzt der Husten einsetzt, können Reste der Nahrung ggf. nicht vollständig aus der Lunge befördert werden. Nachdem der Husten sich beruhigt hat, führen diese Reste dann in der Regel zu Infektionen bis hin zur Lungenentzündung. Nahrungsstücke, die im Kehlkopf stecken bleiben oder zu groß zum Abhusten sind, können zum Erstickungstod führen.

      Ein weiteres großes Problem ist die sogenannte stille Aspiration. Hierbei gelangt Nahrung in die Lunge, ohne dass ein Hustenreiz ausgelöst wurde. Von außen sieht es so aus, als hätte der Betroffene alles gut geschluckt, bis dann Tage, Wochen oder Monate später die ersten Symptome einer Lungeninfektion auftreten (meistens, aber nicht immer, beginnend mit erhöhter Temperatur).

      Störungen der ösophagealen Phase äußern sich darin, dass die Nahrung nicht in den Magen gelangt. Die Muskulatur der Speiseröhre arbeitet nicht angemessen, sodass ein Rückstau entsteht. Der Betroffene hat ständig ein Völlegefühl, wobei gleichzeitig keine Sättigung eintritt. Je nach Höhe des Rückstaus gelangt Nahrung wieder in den Rachen- oder sogar in den Mundraum. Häufig kommt es aber auch zu stiller Aspiration, wenn die Nahrung langsam aus der Speiseröhre von hinten in die geöffnete Luftröhre fließt.

      Medizinisch betrachtet bedeutet eine Dysphagie also immer eine Einschränkung, die bis zur Lebensgefahr führen kann. Grundsätzliche Symptome gehen von einer großen Anstrengung beim Kauen und Schlucken über häufiges Husten beim Essen bis hin zu häufigen und/oder schweren Erkrankungen der Atemwege.

      Eine Dysphagie kann unterschiedliche Ursachen haben. Die meisten sind jedoch neurologisch bedingt.

      Nicht neurologisch bedingt sind häufig Schluckstörungen, die wir zunächst einmal nicht als solche definieren würden. Sie zeigen sich durch schiefe Zähne, Nacken- und Kopfschmerzen, Rückenprobleme – und all dies meist bei Kindern und Jugendlichen. Ursache ist häufig ein falsches Schluckmuster. Oft drückt hierbei die Zunge zu sehr gegen die Schneidezähne, sodass diese dem ständigen Druck nachgeben und schief werden. Wenn die Zähne schon schief sind, muss die Kiefermuskulatur durch unnatürliche Bewegungen ausgleichen, sodass es zu Verspannungen im Nacken- und Rückenbereich kommen kann. Dies kann zu Kopfschmerzen führen. Die Kieferorthopäden haben mittlerweile erkannt, dass gegen die Zahnfehlstellungen der Kinder und Jugendlichen oftmals nicht allein eine Zahnspange hilft, sondern eine Schlucktherapie nötig ist. Ursache für die Schluckstörung ist meist eine rein muskuläre Fehlfunktion – meistens haben sich die Betroffenen das falsche Schlucken einfach angewöhnt.

      Doch auch orale Schluckstörungen können bereits eine neurologische Ursache haben. Muskuläre Unausgeglichenheiten oder Fehlbewegungen können ihre Ursache in der Übertragung der Nervenstränge haben. Ist ein Nerv durch eine Verletzung oder Quetschung im Gesichtsbereich geschädigt, kann dies zu einer Schluckstörung führen.

      Weitaus schwerwiegender sind die neurologischen Probleme, die direkt im Gehirn ihren Ursprung haben. Der Schluckreflex ist nahe am Hirnstamm verortet. Eine Schädigung in diesen Regionen hat weitreichende Folgen, da die Vitalfunktionen direkt betroffen sind. Viele Betroffene haben nicht ausschließlich eine Schluckstörung, sondern auch Probleme mit der Atmung, Schweißausbrüche, Herzprobleme oder Ähnliches. Diese Probleme wiederum können durch verschiedene Problematiken hervorgerufen werden.

      Tritt die Schluckstörung sehr plötzlich und sehr deutlich auf, ist häufig ein Hirninfarkt (Schlaganfall) die Ursache. Hierbei werden relativ plötzlich eine oder mehrere Regionen des Gehirns nicht mehr mit Blut versorgt, sodass dort Schäden auftreten. Schluckstörungen sind in der Akutphase (ca. bis zu 6 Wochen nach einem Schlaganfall) relativ häufig, sie vergehen aber oft auch im Laufe der natürlichen Heilung des Gehirns (Spontanremission) wieder. Manchmal bleiben sie aber auch länger bestehen, je nach Lokalisation des Anfalls.

      Langsamer immer schlimmer werdende Schluckstörungen haben ihre Ursache dagegen eher in degenerativen Hirnerkrankungen oder Tumoren. Zu den degenerativen Erkrankungen zählen vor allem Parkinson, Multiple Sklerose (MS) und Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), aber auch dementielle Erkrankungen wie Alzheimer. Diesen Erkrankungen gemeinsam ist, dass das Nervensystem auf Dauer immer weiter geschädigt wird. Das Gehirn, als zentrales Organ des zentralen Nervensystems, wird besonders getroffen. Auf Dauer finden Abbauprozesse im Gehirn statt, die zumindest bisher nicht endgültig aufzuhalten sind. Je weiter die Zellen des Gehirns zerstört werden, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Schluckstörung entsteht.

      Gleiches gilt für Tumore, die im Gehirn lokalisiert sind. Während sie sich ausbreiten, verdrängen sie Teile des Gehirns und zerquetschen andere. Hierbei werden die gequetschten Bereiche funktional schwächer, bis sie ganz ausfallen. Auch hier können Bereiche betroffen sein,